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Vorreiter des Umbruchs im Ostblock Von der Solidarność zum Kriegsrecht (1980-1981)

Dieter Bingen

/ 9 Minuten zu lesen

Solidarność, "Solidarität", hieß die polnische Gewerkschaft, die 1980 aus der Streikbewegung hervorging. Schon im November 1980 waren von den 16 Mio. Werktätigen Polens rund 10 Mio. der Solidarność beigetreten. Sie hatte entscheidenden Einfluss auf die politische Wende in Polen, auf das Ende des Kommunismus.

Solidarność-Demonstration im Mai 1982 in Warschau. (© AP)

Nach der großen Streikbewegung im Juli/August dokumentierte die am 31. August 1980 von dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczysław Jagielski und Streikführer Lech Wałęsa geschlossene Vereinbarung von Danzig (die in leicht abgeänderter Form auch in Stettin und zwischen der Regierung und den oberschlesischen Bergarbeitern in Jastrzębie unterzeichnet wurde) ein weitgehendes Zurückweichen der herrschenden Partei PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei). Erstmals wurden in einem kommunistischen Land unabhängige Gewerkschaften anerkannt, das Streikrecht und der Zugang zu den Massenmedien eingeräumt. Innerhalb weniger Wochen verlor die Partei die direkte Kontrolle über mehr als 90 Prozent der organisierten Arbeiter und damit ihre Legitimationsbasis als "führende Kraft" beim Aufbau des Sozialismus in Polen. Das Protokoll der Vereinbarungen von Danzig wurde in der Folgezeit zum Bezugsrahmen der sich im Lande immer weiter ausbreitenden Gewerkschaftsbewegung. Im November 1980 waren von den 16 Mio. Werktätigen Polens rund 10 Mio. der Solidarność beigetreten. Unter den Mitgliedern waren über eine Million Mitglieder der PZPR. Große Konflikte zwischen der Solidarność und der PZPR in den zwölf Monaten zwischen der Unterzeichnung der Vereinbarungen in Stettin, Danzig und Jastrzębie und dem ersten Landeskongress der Gewerkschaft im September/Oktober 1981 machten deutlich, dass sich die Staats- und Parteiorgane keineswegs mit einer unabhängigen Gewerkschaft abgefunden hatten.

Die von der Parteiführung als herausfordernd empfundene Haltung der neuen Gewerkschaftsbewegung wurde durch die Lähmung des alten Partei- und Staatsapparats gefördert. Zwar war Parteichef Gierek am 5. September 1980 durch den bisherigen ZK-Sekretär für Sicherheit, Stanisław Kania, abgelöst und eine Erneuerung in der Partei gefordert worden, aber weder PZPR noch Regierung konnten ein überzeugendes Reformprogramm für die Wirtschaft und die politische Mitbestimmung der Gesellschaft entwickeln. Der erst im August 1980 ernannte Ministerpräsident Józef Pińkowski trat im Februar 1981 zurück. Sein Nachfolger wurde General Wojciech Jaruzelski, der den Posten des Verteidigungsministers (seit 1968) und den Oberbefehl über die Streitkräfte beibehielt. Stellvertretender Ministerpräsident wurde der als liberal geltende Publizist und Politiker Mieczysław Rakowski.

Der Mordanschlag auf Papst Johannes Paul II. in Rom am 13. Mai 1981, der Tod des hochangesehenen Primas von Polen, Erzbischof Stefan Kardinal Wyszyński, am 28. Mai und der Drohbrief des ZK der KPdSU an die Führung der PZPR vom 5. Juni, in dem mit Konsequenzen für den Fall gedroht wurde, dass die Partei sich nicht in der Lage sähe, die sogenannte "Doppelherrschaft" (PZPR – Solidarność) zu beenden, führten zu einer weiteren Destabilisierung der Lage.

Dazu kamen die inneren Auseinandersetzungen in der Solidarność über die Ziele und Taktik der Gewerkschaft. In der Solidarność und im Kreis der Berater und Experten trafen zwei verschiedene Ansichten aufeinander: Nach der einen sollte die Gewerkschaft eher eine sozial- und wirtschaftspolitisch orientierte Arbeitnehmerorganisation sein, nach der anderen eher eine gesellschaftlich-politische Bewegung mit einer demokratischen Mission. Die Eigengesetzlichkeit der Entwicklung führte dazu, dass die zweite Vorstellung sich durchsetzte und zugleich das vorläufige Scheitern der Bewegung heraufbeschwor. Auf dem ersten Landeskongress in Oliwa bei Danzig im September 1981 erregte eine Solidarność-Botschaft an die Arbeiter in den sozialistischen Bruderstaaten großes Aufsehen und den wütenden Protest der kommunistischen Nachbarn.

Im Oktober 1981 übernahm Ministerpräsident und Verteidigungsminister Jaruzelski auch das Amt des Ersten Sekretärs des ZK der PZPR. Immer offener wurde von der Parteiführung mit einem gesetzlichen Streikverbot gedroht. Das politische Klima verschärfte sich in den Novemberwochen zusehends. Am 12. Dezember kündigte die Gewerkschaftsführung in Danzig an, sie werde für den Fall, dass in der für den 15. und 16. Dezember einberufenen Sejmsitzung der Regierung Sondervollmachten erteilt würden, am 17. Dezember einen nationalen Protesttag durchführen. Gleichzeitig verlangte sie eine Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierung innerhalb der nächsten zwei Monate.

Am 13. Dezember 1981 verhängte Ministerpräsident und Parteisekretär General Jaruzelski über Polen das Kriegsrecht und setzte einen von ihm geleiteten "Armeerat der nationalen Errettung" (WRON) ein. Wałęsa und andere Mitglieder der Solidarność sowie eine große Zahl von Intellektuellen und Aktivisten der Gewerkschaft und anderer Verbände wurden interniert, aber auch ehemalige Staats- und Parteifunktionäre, u.a. der Ex-Parteisekretär Gierek. In einer in der Sowjetunion gedruckten Proklamation und in einer Rundfunkansprache rechtfertigte Jaruzelski die Verhängung des Kriegsrechts mit Umsturzplänen der Solidarność, die "Anarchie, Willkür und Chaos" und einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten.

Der gescheiterte Versuch einer "Normalisierung" und Liberalisierung ohne Demokratisierung (1982-1988)

Der Priester Jerzy Popiełuszko wurde am 19. Oktober 1984 von Agenten des polnischen Geheimdienstes ermordet. (Bild: AP)

Der Einsatz der Sicherheitskräfte unter dem politischen Schirm der Armee erwies sich als die letzte Möglichkeit für das Personal des realsozialistischen Systems, seine Machtposition zu behaupten. So übernahm die Armee weitgehend die Aufgaben, für die unter "normalen" Bedingungen die PZPR zuständig war. Nach Aufhebung des Kriegsrechts (22.7.1983) stabilisierte General Jaruzelski durch die Personalunion von Erstem Sekretär des ZK der PZPR, Regierungschef und Oberbefehlshaber der polnischen Armee seine herausragende Position im Machtgefüge. Nach der grausamen Ermordung des oppositionellen Priesters Jerzy Popiełuszko im Oktober 1984 übernahm er selbst die oberste Verantwortung und Kontrolle über den Sicherheitsapparat.

Neben dem Kampf gegen ideologische Gegner in den Parteireihen und in der Gesellschaft widmete sich die Jaruzelski-Führung einer neuen Politik, die Wege suchte, die Nichtkommunisten für sich zu gewinnen, freilich nicht die politische Opposition (wie z.B. den Solidarność-Untergrund). Die katholische Hierarchie mit dem Primas, Erzbischof Józef Kardinal Glemp, an der Spitze spielte bei den demonstrativ herausgestellten Dialog- und Verständigungsangeboten eine Schlüsselrolle. Hauptziel der Politik war die politische Neutralisierung der katholischen Kirche.

Wichtigstes Forum der von der Jaruzelski-Führung deklarierten Verständigung sollte die 1982 geschaffene "Patriotische Bewegung der nationalen Wiedergeburt" (PRON) sein, die 1983 offiziell die seit den 50er Jahren bestehende "Front der Nationalen Einheit" (FJN) ablöste. In ihr waren alle legalen politischen und gesellschaftlichen Organisationen vertreten. Der Umfang des politischen "Dialogs", der von der Jaruzelski-Führung in der Übergangszeit bis zum Beginn von "Glasnost" und "Perestrojka" in der Sowjetunion angeboten wurde, reichte weit über das hinaus, was die Parteiführungen in den anderen sogenannten "realsozialistischen" Staaten ihren Gesellschaften zu bieten hatten. Die Ausweglosigkeit der politisch-gesellschaftlichen Lage in Polen lag aber in der ersten Hälfte der 1980er Jahre darin, dass sich die polnische Gesellschaft, soweit sie sich politisch artikulierte, in ihren Vorstellungen nicht von Vergleichen mit den Nachbarstaaten leiten ließ, sondern die Unreformierbarkeit des real existierenden Sozialismus in Polen konstatierte.

Die meisten Arbeiter waren von Anfang an skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten einer Wirtschaftspolitik ohne Dialog mit authentischen Gewerkschaften und boykottierten durch ihre Passivität die Umsetzung von angekündigten Wirtschaftsreformen. Darüber hinaus war die Solidarność mit der Verabschiedung des Gewerkschaftsgesetzes am 8. Oktober 1982 verboten worden. Seit 1982 auf Betriebsebene von der PZPR initiierte neue Gewerkschaften suchten nach einem unabhängigen Profil, wurden aber von einem Großteil der Arbeiter abgelehnt.

Jaruzelski hatte bis zum 10. Parteitag der PZPR (29.6.-3.7.1986) seine Position gegenüber innerparteilichen Gegnern seines "mittleren" Kurses in der Innenpolitik ausgebaut. Der Parteikongress sollte dem Prozess der "sozialistischen Erneuerung" neue Impulse geben. Das politische Angebot fand seinen Niederschlag in der überraschenden Freilassung aller politischen Gefangenen nach der am 17. Juli 1986 verkündeten Amnestie. Im Dezember 1986 wurde von Jaruzelski ein "Konsultativrat beim Staatsratsvorsitzenden" einberufen. Darunter waren auch von der demokratischen Opposition respektierte Persönlichkeiten, die jedoch von dieser kein Mandat besaßen.

Weitere Anzeichen für eine Öffnung der Innenpolitik waren die liberalere Kulturpolitik unter dem neuen Kulturminister Aleksander Krawczuk und die Bestellung einer Bürgerrechtsbeauftragten/Ombudsman (November 1987) beim Sejm. Die innenpolitische Liberalisierung vollzog sich jedoch zu langsam, als dass sie die Verschärfung der sozioökonomischen Situation der Gesellschaft auffangen konnte. Die im Herbst 1986 angekündigte zweite Phase der Wirtschaftsreform brachte keine durchgreifende Verbesserung der Versorgungslage und wurde von der Bevölkerung vor allem als inflationstreibende Preispolitik erfahren. In einem Referendum im November 1987 verfehlte das von der Regierung vorgestellte Programm einer Wirtschaftsreform und politischer Reformen die erforderliche absolute Mehrheit der Wahlberechtigten.

Nach dieser politischen Niederlage, den Streiks im April/Mai 1988, der geringen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und der zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, dass ohne direkte politische Entscheidungsfreiheit der Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. Die Gruppe um Jaruzelski befürchtete ganz einfach, in kürzester Frist nicht mehr Herr der Lage zu sein und den chaotischen Verhältnissen nicht mehr Einhalt gebieten zu können. Die Idee des "Runden Tisches" wurde geboren. Mit dem "Runden Tisch" in Polen wurde eine Institutionalisierung des evolutionären Systemwechsels vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie gefunden, die eine Vorbildfunktion für vergleichbare politische Prozesse in den Ländern Mittel- und Südosteuropas, die DDR eingeschlossen, übernehmen sollte. Für den historisch präzedenzlosen Systemwechsel mussten entsprechende Foren gefunden werden, für die in den sozialistischen Verfassungen kein Platz war und die einen ausgesprochen vorübergehenden Charakter hatten. Aber ungeachtet ihrer fehlenden verfassungsrechtlichen Verwurzelung übernahmen sie eine quasi gesetzgebende Funktion, auch wenn entsprechende Vereinbarungen noch vom formellen Gesetzgeber, dem Parlament, ratifiziert werden mussten.

Vom Konzept des "Runden Tisches" zur parlamentarischen Demokratie (1988-1989)

Nach dem grünen Licht des 10. ZK-Plenums der PZPR im Januar 1989 kam es dann zu den historischen Verhandlungen am "Runden Tisch" vom 6. Februar bis 5. April 1989 zwischen Vertretern der "Regierungskoalition"-Seite (PZPR, ZSL, SD, drei im Sejm vertretene christliche Gruppierungen, OPZZ) und der "Oppositions-Solidarność"-Seite über einen "historischen Kompromiss", der das Machtmonopol der PZPR endgültig beseitigen sollte. Nicht beteiligt an den Gesprächen waren Vertreter der Fundamentalopposition, die eine Diskussion mit den Vertretern des alten Systems grundsätzlich ablehnten. Am "Runden Tisch" wurden Abmachungen getroffen, die das politische und institutionelle System Polens grundlegend verändern sollten. Schon vor der Unterzeichnung der Ergebnisprotokolle wurden dem Sejm am 22. März Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen zugeleitet: Es handelte sich um die Änderung der Wahlordnung für die vorgezogenen Sejmwahlen im Juni 1989, die Einführung des Senats als zweite Kammer und des Präsidentenamtes, die Einführung des Gewerkschaftspluralismus und ein weitgehend liberalisiertes Vereinsrecht.

Das Ergebnis der eigentlichen Verhandlungen wurde in drei Protokollen über die politischen Reformen, den Gewerkschaftspluralismus und die Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammengefasst. Das Protokoll über politische Reformen sah die schrittweise Einführung der vollen Volkssouveränität vor. Das im Juni zu wählende Zweikammerparlament (Sejm, Senat) wurde verpflichtet, eine neue demokratische Verfassung und ein neues demokratisches Wahlrecht auszuarbeiten. Polen befand sich nun in einer Phase permanenter Evolution oder einer "Revolution Schritt für Schritt", die von den Wählern am 4. Juni und in den Stichwahlen am 18. Juni 1989 weiter beschleunigt wurde und den Systemwandel schneller als von beiden Seiten des "Runden Tisches" bis dahin erwartet, zum Systemwechsel mutierte. Die Wahlen wurden zwar nur als halbfrei bezeichnet, weil im Sejm nach der am "Runden Tisch" vereinbarten Mandatsaufteilung 65 Prozent der Sejmsitze an die bisherige Regierungskoalition fallen und so genannte "unabhängige" Kandidaten um 35 Prozent der Abgeordnetensitze konkurrieren sollten. Die Wahlen zum Senat, einer Art Länderversammlung, waren völlig frei, damit war er die erste frei gewählte polnische Abgeordnetenversammlung nach 1945.

Eine aus Sejm und Senat gebildete Nationalversammlung sollte mit absoluter Mehrheit auf sechs Jahre den Präsidenten wählen. Am "Runden Tisch" hatte es ein stillschweigendes Einvernehmen darüber gegeben, dass General Jaruzelski der einzige Kandidat für das Präsidentenamt sein würde. Beide Seiten gingen im April 1989 noch davon aus, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung und die Loyalität der Abgeordneten der Regierungskoalition so unbestritten sein würden, dass es beim Wahlvorgang einer Zustimmung der Opposition nicht bedurft hätte.

Aber alles kam ganz anders als erwartet. Nach den zwei Runden zu den Parlamentswahlen am 4. und 18. Juni wurde ein eindrucksvoller Sieg der Opposition verzeichnet. Von den insgesamt 261 Kandidaten des "Bürgerkomitees", 161 für den Sejm = 35% der Sitze und 100 für den Senat war nur ein einziger Senatskandidat durchgefallen. Von 100 Senatoren waren 99 Mitglieder der Liste von Lech Walesa. Die bisherige Regierungskoalition, der 299 Sitze im Sejm zugefallen waren, zerbrach während der Verhandlungen über die Regierungsbildung. Jaruzelski wurde mit nur einer Stimme Mehrheit am 19. Juli zum Präsidenten gewählt und der katholische Publizist und Solidarność-Berater Tadeusz Mazowiecki mit der Regierungsbildung beauftragt. Mazowiecki wurde am 24. August mit überwältigender Mehrheit – auch von zahlreichen PZPR-Abgeordneten – zum Ministerpräsidenten gewählt und stellte am 12. September ein Koalitionskabinett aus Ministern von Solidarność, ZSL, SD sowie vier Ministern von der PZPR dem Sejm vor. Mit der Wahl des ersten nichtkommunistischen Regierungschefs in Polen seit 42 Jahren und der Etablierung einer Regierung, in der von der PZPR nur noch vier für die Demonstration der Bündnistreue gegenüber dem sozialistischen Lager wichtige Ministerien (Inneres, Verteidigung, Außenhandel, Transport und Kommunikation) geleitet wurden, ging in Polen eine historische Epoche zu Ende; ein neues politisches Zeitalter begann.

Fussnoten

Prof. Dr. Dieter Bingen ist Direktor des Deutschen Polen Instituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Polnische Zeitgeschichte und Politik, Politisches System Polens, Politische Systeme und Systemtransformation in Ostmittel- und Südosteuropa, Deutsch-polnische Beziehungen sowie Integrationspolitik in Europa.