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Normalisierung wäre schon viel - Essay

Peter Bender

/ 18 Minuten zu lesen

Das deutsch-polnische Verhältnis ist von einer "Normalisierung" weit entfernt: Nirgendwo in Europa hatten es zwei Nationen so schwer, wieder zueinander zu kommen. Ein Essay des verstorbenen Publizisten und Historikers Peter Bender.

"Nirgendwo in Europa hatten es zwei Nationen so schwer, wieder zueinander zu kommen." (© AP)

Im Warschau der siebziger Jahre hieß es, das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen könne nur schrittweise wiederhergestellt werden. Zunächst müsse man sich um Normalisierung bemühen, dann um Verständigung, und wenn diese erreicht sei, werde schließlich Versöhnung möglich.

Der erste Vertrag, mit dem Polen und die Bundesrepublik ihre Beziehungen regeln wollten, der so genannte Warschauer Vertrag, erhielt 1970 die bescheidene Überschrift und Zweckbestimmung: Er solle die "Grundlagen der Normalisierung" schaffen, also noch nicht einmal eine Normalisierung, sondern nur eine Basis, auf der sie möglich sein würde. Dem Vertrag folgte nach einer kurzen Euphorie auf beiden Seiten Enttäuschung. Die Beziehungen entwickelten sich recht unerfreulich, und es vergingen fünf Jahre, bis in einem zweiten Vertragspaket die dringendsten Forderungen Bonns und Warschaus mehr schlecht als recht befriedigt wurden. Polen wie Deutsche hatten dem Warschauer Vertrag zwar eine realistische Bestimmung gegeben, aber dann doch zu viel erwartet. Ebenso erging es später noch vielen. Westdeutsche Politiker kamen oft nach Polen; beflügelt von den besten Absichten beschworen sie Versöhnung und wunderten sich sehr, wenn sie auf Zurückhaltung stießen: Mit der naiven Vorstellung, sich gleich versöhnen zu können, hatten sie gezeigt, dass sie keine Vorstellung von der Dimension dessen hatten, was zwischen Polen und Deutschen zu bewältigen war.

Mit dieser Ahnungslosigkeit haben wir, so scheint es, noch heute zu tun. Auf allen Gebieten hat sich im deutsch-polnischen Verhältnis vieles gebessert, von der Wirtschaft über die Politik bis in die Privatbeziehungen; sogar polnische und deutsche Soldaten üben gemeinsam. Versöhnung, zumindest Verständigung, scheint erreicht, aber plötzlich sieht alles wieder anders aus. Berlin und Warschau stehen in offenen Konflikten, die Vertrautheit ist Zweifeln oder sogar Misstrauen gewichen, alte Vorurteile brechen wieder hervor. Als Illusion erwies sich, alles werde zwischen Polen und Deutschen in Ordnung kommen, wenn beide demselben Militärbündnis und derselben europäischen Gemeinschaft angehören. Haben wir wieder zu viel erwartet? Vielleicht hilft es zur Klärung, sich daran zu erinnern, was Polen und Deutsche seit dem vergangenen Jahrhundert auseinander getrieben hat. Was von unserer schlimmen Vergangenheit lebt noch? Was ist schon überwunden? Es gab, so scheint es, zwei Arten von Konfliktursachen: Die einen waren durch Umstände bedingt, die anderen sind historischer Natur.

Der wichtigste Umstand war der Kalte Krieg. Polen befand sich im Lager des Ostens, der größere und stärkere Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, stand im Lager des Westens. Polen wurde von einer halbkommunistischen, autoritären Parteielite regiert, die Bundesrepublik von demokratischen Regierungen. Warschau und Bonn waren zur Blockdisziplin genötigt und hatten nur begrenzte Aktionsmöglichkeiten über die Ost-West-Grenze hinweg.

Außerdem engte die Zweistaatlichkeit Deutschlands den Manövrierraum aller Beteiligten ein. Warschau stand unter ständiger, misstrauischer Beobachtung der DDR, die Polen wegen Westneigungen in Moskau denunzierte; jeder polnische Schritt in Richtung Bonn verlangte einen Schritt in Richtung Ost-Berlin. Bonn und Ost-Berlin wiederum konkurrierten in ihrer Polen-Politik, das hieß, sie behinderten einander. Die DDR-Führung fürchtete die wirtschaftliche Attraktivität der Bundesrepublik und störte, wo sie konnte; die Bundesrepublik nutzte ihre ökonomische Überlegenheit. Zwanzig Jahre lang, bis zu Brandts Ostpolitik, fesselte sie sich selbst, weil sie die Oder-Neiße-Grenze und die DDR nicht anerkannte, was die DDR nutzte und Warschau zu einem politischen Zweckbündnis mit Ost-Berlin gegen Bonn zwang.

Sachlich und politisch gab es manches, das die drei Staaten vernünftigerweise gemeinsam hätten unternehmen können, angefangen bei Verkehrsfragen, aber da war nichts möglich. In Warschau fürchtete man ein Zusammenspiel der beiden Deutschlands gegen Polen, in Bonn fürchtete man eine Koalition der beiden Kommunisten gegen die westliche Bundesrepublik, in Ost-Berlin fürchtete man die stillschweigende Kooperation der beiden Liberalen gegen die dogmatisch-kommunistische SED.

Zu all dem traten Missverständnisse, und manche wirken bis heute nach. In der Bundesrepublik war man fest davon überzeugt, sachlich und unvoreingenommen zu denken, während die Polen von ideologisch verformten Vorstellungen ausgingen - aber es war gerade umgekehrt. Die Polen dachten historisch und die Westdeutschen ideologisch. Beide irrten sich dabei gründlich. Die Polen glaubten, einen ewigen deutschen Drang nach Osten zu erkennen, von den Kreuzrittern über die preußischen Könige bis zu Hitler und dann zu Adenauer. Sie meinten, in der Bundesrepublik wiederholten sich Weimar und der Nazismus: zuerst der Anspruch auf polnisches Land, dann der Angriff auf Polen. In Warschau verkannte man, dass Bonn auf den Westen fixiert war und für den Osten kaum mehr als Worte hatte. Man mochte nicht glauben, dass die Oder-Neiße-Grenze weit mehr eine Frage der Innen- als der Ostpolitik war. Jahrzehnte mussten vergehen, bis man in Polen, von Ausnahmen abgesehen, die Bonner Demokratie ernst nahm und zu glauben begann, dass dies nicht mehr das alte, gefährliche Deutschland war.

Ebenso lange dauerte es, bis man in der Bundesrepublik, von Ausnahmen abgesehen, begriff, dass auch die polnischen Kommunisten, jedenfalls seit 1956, zuerst Polen und dann Kommunisten waren, soweit sie es überhaupt je waren. Fast die gesamte Bundesrepublik lebte jahrzehntelang in der Vorstellung, der Osten sei ein monolithischer Block, ohne Bewegungsmöglichkeiten für die einzelnen Staaten und geführt von machtgierigen Berufsrevolutionären, getrieben vom Ziel einer Weltrevolution. Auflockerungen wurden zwar bemerkt, aber meist bezweifelt. Wenn Kommunisten sich friedlich gäben, erklärte Adenauer 1956, würden sie noch gefährlicher.

Da man bis in die siebziger Jahre hinein wenig miteinander in Berührung kam, hielten sich auf beiden Seiten die Vorurteile. Umso stärker war dann die Überraschung, wenn ein Besuch ein ganz anderes Bild erbrachte. Ein polnischer Journalist, der Auschwitz überlebt hatte, fuhr 1973 zum ersten Mal in die Bundesrepublik. Er war voller Zweifel gewesen gegenüber den Deutschen, aber kam erleichtert zurück: "Sie gehen bei Rot über die Straße."

Zwischen den Machthabern in Polen und der DDR gab es handfeste Interessengegensätze. Die polnischen Kommunisten mussten national, die deutschen international denken. Die polnische Partei hatte auf ihr Volk, dessen Gefühle und Traditionen Rücksicht zu nehmen, Kirche, Kultur und Landwirtschaft ließen sich nicht sozialisieren. Die SED hingegen brauchte die Ideologie, um die Existenz ihres Staates zu rechtfertigen. Polen blieb, gleich wer regierte, Polen, die DDR blieb nur die DDR, solange sie sich als sozialistisch gegen die Bundesrepublik abheben konnte. In polnischen Augen waren die SED-Leute gefährliche Dogmatiker, die im Bunde mit Moskau die polnischen Freiheiten bedrohten. Aus Sicht der SED waren die polnischen Genossen gefährliche Revisionisten, die sowohl die Reinheit der Lehre als auch den Zusammenhalt des sozialistischen Lagers und damit den Bestand der DDR bedrohten. Als Solidarność entstand und sogar legalisiert wurde, schrillten in Ost-Berlin die Alarmglocken. Erich Honecker empfahl Intervention und grenzte die DDR nach Osten fast ebenso ab wie nach Westen.

Die Mehrheit der Ostdeutschen sah mehr mit Sorge als mit Freude, was im Nachbarland geschah, ähnlich auch die Tschechen und Ungarn. Die Erfahrungen des 17. Juni 1953, des Ungarn-Aufstands und des Prager Frühlings lehrten: Wenn die Parteiherrschaft in Gefahr gerät, rollen die sowjetischen Panzer, und im ganzen Machtbereich Moskaus wird es schlimmer. Die Polen übertreiben, hieß es, und gefährden damit die bescheidenen Erleichterungen, die wir nun haben.

Die Westdeutschen, Volk und politische Klasse, schwankten zwischen Bewunderung und Befürchtung. Die Polen wurden populär wie nie seit dem Aufstand von 1830, die private Hilfe übertraf die rhetorischen Bekundungen weiter westlich gelegener Länder. Befürchtungen aber hegten Politiker aller Parteien: Wird das ein zweites Ungarn, ein zweites Prag? Später fragten sich manche in Bonn, ob polnisches Kriegsrecht vielleicht besser sei als sowjetische Okkupation. Jaruzelski erschien als Patriot, Mieczyslaw Rakowski war bekannt als Reformer. Die sozialliberale Regierung sträubte sich gegen die Sanktionspolitik der Amerikaner. Sie versuchte, mit der Warschauer Führung in Kontakt zu bleiben, und unterschätzte die Kraft der Solidarność. Vor allem sozialdemokratische Reisende ließen es in Warschau zu peinlichen Szenen kommen: Mit den Herren des Kriegsrechts konferierten sie, und die Freiheitskämpfer berücksichtigten sie nur am Rande. Die Kränkung sitzt noch heute tief, weil sie sich mit Enttäuschung paarte, denn von Sozialdemokraten erwartete Solidarność mehr Solidarität als von anderen Parteien.

All das ist nun seit anderthalb Jahrzehnten vorbei: Sowjetunion, DDR, Warschauer Pakt, Kalter Krieg, kommunistische Macht in Polen gibt es nicht mehr. Wenn wir jetzt in Konflikte geraten, sind sie aktuell bedingt oder haben tiefere, historische Ursachen. Vielleicht auch beides zusammen: Gegenwärtige Differenzen sind geschichtlich begründet.

Als erstes sind der Krieg und noch mehr die deutsche Besetzung Polens von 1939 bis 1944 zu nennen. Sie war das Furchtbarste, was Polen in seiner Geschichte durchlitten hat. Sechs Millionen polnische Staatsbürger, Juden und Nichtjuden, überlebten jene Zeit nicht. Die meisten davon, etwa 90 Prozent, wurden nicht Opfer des Krieges, sondern eines Ausrottungsplans, der sich besonders gegen die Intelligenz richtete. Polen sollte nicht beherrscht, sondern als Nation ausgelöscht werden. Verbunden mit Mord und Vernichtung waren Demütigungen, die deutsche "Herrenmenschen" den "slawischen Untermenschen" tagtäglich zufügten. Sie trafen manchen härter als die Todesdrohung und lebten weiter noch in Generationen, die später geboren wurden.

Auch die Deutschen, die aus dem Osten vertrieben wurden, waren nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verletzt. Mit dem Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts gingen siebenhundert Jahre deutscher Geschichte im Osten Europas zu Ende; die Deutschen leben heute wieder dort, wo sie im Mittelalter lebten. Viele wurden nicht vertrieben, sie flohen bereits vor der anrückenden sowjetischen Armee. Es waren 8,8 Millionen, die ihre Heimat in den deutschen Ostgebieten und in Polen verloren. Auch diese Erinnerung stirbt nicht mit einer Generation.

Die neue polnisch-deutsche Grenze an Oder und Neiße entwickelte sich zu einem eigenen, sogar zum zentralen Problem. Für die Deutschen war sie eine Amputation ohne historisches Beispiel; fast ein Viertel des Reichsgebiets wurde polnisch und russisch. Was für die Deutschen eine nationale Frage war, wurde für die Polen zu einer existenziellen Notwendigkeit. Eine Nation, die in zweihundert Jahren viermal geteilt wurde, die unterworfen, unterdrückt, als minderwertig behandelt, verachtet und als unfähig zur Staatsbildung betrachtet wurde und schließlich von Ausrottung und Versklavung bedroht war, braucht Gewissheit für ihre Zukunft, vor allem Grenzgewissheit.

Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre waren sich die meisten westdeutschen Politiker darüber im Klaren, dass Oder und Neiße die Ostgrenze Deutschlands bleiben würden. Konrad Adenauer war froh, dass er den Grenzvertrag nicht mehr aushandeln musste. Keine bundesdeutsche Partei mochte das Odium nationalen Verzichts auf sich nehmen, keine meinte, die Stimmen der Vertriebenen entbehren zu können. Deren Führung störte bewusst und geplant das Verhältnis zu Polen, vierzig Jahre lang, bis zum Sommer 1990. Manche tun es bis heute. Alle Annäherung an Polen musste gegen den Widerstand der Verbandsfunktionäre durchgesetzt werden; die Regierung Brandt/Scheel verlor wegen des Warschauer Vertrages ihre Mehrheit im Bundestag.

Auch CDU und CSU, bis auf wenige, wichtige Ausnahmen, bekämpften den Vertrag, teilweise aus ehrenwerter Überzeugung. Was folgte, war Parteitaktik. Der Vertrag verpflichtete aus Rechtsgründen nur die Bundesrepublik. Unionspolitiker behaupteten, die Ostgebiete blieben deutsch, bis ein Friedensvertrag mit einem vereinten Deutschland die Ostgrenze festlege. Sogar Kabinettsmitglieder Helmut Kohls, die CSU-Minister Friedrich Zimmermann und Theo Waigel, dehnten die "offene" deutsche Frage auf die Provinzen jenseits von Oder und Neiße aus. Der Bundeskanzler ließ es geschehen und verweigerte 1990 ein unmissverständlich klares Wort zur Grenze, bis er den Unbelehrbaren in CDU und CSU erklären konnte: Wir müssen die Grenze anerkennen, sonst bekommen wir die Einheit nicht.

Der Vertrag, den die Regierung Kohl dann schloss, unterschied sich von Brandts Warschauer Vertrag kaum im Wortlaut, wohl aber im Geist. Brandt riskierte die Existenz seiner Regierung, Kohl nicht einmal zwei bis drei Prozent seiner Wähler. Brandt wagte den großen Schritt, um einen Neuanfang mit Polen zu erreichen, Kohl brauchte für den nationalen Verzicht eine nationale Zielsetzung. Brandt kniete in Warschau, Kohl hatte die Bundestagswahl vor Augen und schickte Außenminister Hans-Dietrich Genscher zur Unterzeichnung in die polnische Hauptstadt.

Der polnischen Forderung nach Grenzanerkennung entsprach die deutsche Forderung nach Umsiedlung. Da Ostpreußen, Pommern, die Neumark und Schlesien für alle Zukunft polnisch sein sollten, geboten Logik wie Humanität, die Deutschen, die dort noch lebten, nach Deutschland ausreisen zu lassen, falls sie es wollten. Doch die polnische Führung sträubte sich, soweit und solange sie konnte. Für die bundesdeutsche Politik aber wuchs die Umsiedlung fast zur Hauptfrage der Beziehungen zu Warschau, die Erfolge wie Misserfolge bemaßen sich immer mehr an den Zahlen derer, die ausreisen durften oder zurückgehalten wurden. Auf beiden Seiten wucherten die Gefühle. Die Polen sahen in der deutschen Minderheit der Vorkriegszeit eine der Ursachen ihres Unglücks und mochten nicht zugeben, dass sie immer noch Deutsche im Lande hatten. In der Bundesrepublik wollte man nicht hinnehmen, dass Polen Deutsche nicht deutsch sein ließ. Wer die Sache auch nur oberflächlich kannte, wusste: Das Kriterium "unbestreitbar deutsche Volkszugehörigkeit" war in der Praxis oft schwer zu bestimmen.

Den polnischen Kommunisten diente der Deutschenschrecken als Herrschaftsmittel. Wenn es innenpolitisch schwierig wurde, malten Parteischreiber das Schreckbild in den grellsten Farben. Nur das Bündnis mit der Sowjetunion, hieß es, schütze vor den Bonner Revanchisten, und nur die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei garantiere das schützende Bündnis. Doch das war nicht alles. In Polen, wie auch in der Bundesrepublik, wirkten allezeit Scharfmacher mit politischem Rückhalt, die alte Ängste und Ressentiments wach hielten oder wieder weckten. Die Hupkas und Czajas hatten ihr Pendant zwischen Oder und Weichsel. Die Vertriebenenblätter schrieben oft, was auch rechte Politiker nicht zu sagen wagten. Manche polnische Korrespondenten in Bonn berichteten, als entspräche der Inhalt von Reden wie "Schlesien bleibt unser" der Meinung der ganzen Bundesrepublik. Recht erfolgreich arbeiteten die Störer der Verständigung einander in die Hände, das war nicht verabredet, aber funktionierte, als wäre es das.

Was sich gegenwärtig in Polen und Deutschland abspielt, wirkt wie eine Fortsetzung - die Forderungen nach Entschädigung wie die nach Reparationen belegen es. Die schreckliche Geschichte bietet immer noch einen leicht brennbaren Stoff, mit dem zündeln kann, wer ein Interesse daran hat. Wer Vertriebenenverbände führt, in denen es immer weniger Vertriebene und immer mehr Kinder und Enkel von Vertriebenen gibt, muss neue Themen finden, die auch die weitere Existenz der Verbände rechtfertigen. Wer in Polen Sündenböcke braucht, wofür auch immer, findet sie westlich der Oder am leichtesten. Aber die Scharfmacher hier wie dort könnten nichts scharf machen, wenn nicht die alten Feindbilder noch lebten und vor allem die traumatischen Erinnerungen, die sich mobilisieren lassen. Und da es sich eben nicht um bloße Einbildung handelt, wenn von deutscher Okkupation und polnischer Vertreibung die Rede ist, sondern um erfahrene, erlebte, erlittene Geschehnisse, muss man sie ernst nehmen als verborgene, aber ständige Gefahren für das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen.

Auch die jüngsten Streitigkeiten, vor allem ihre überraschende Heftigkeit, werden nur begreiflich, wenn man ihre historischen Wurzeln sucht. Warschau folgte den USA in den Irak, Berlin verweigerte die Gefolgschaft demonstrativ. Die Polen fühlten sich schon vor 1990 Amerika stark verbunden, etwa sechseinhalb Millionen US-Bürger sind polnischer Herkunft, der Dollar war die zweite Währung im Lande. Außerdem hat Polen mit den Europäern schlechte Erfahrungen gemacht: Die einen haben es überwältigt, geteilt und beherrscht, die anderen haben es in der Not im Stich gelassen. So hält sich Warschau nun an die USA. Vielleicht hätten sie Polen 1945 vor Stalin retten können, meint mancher, heute jedenfalls ist Amerika die stärkste Macht in Europa und sogar in der Welt und damit die beste Garantie für die Sicherheit Polens, Sicherheit vor allem vor den Russen und vor wieder stark gewordenen Deutschen.

Auch die alte Bundesrepublik sah ihre Sicherheit nicht bei Frankreich oder Großbritannien aufgehoben, sondern bei Amerika, soweit gibt es deutsches Verständnis für die polnische Politik. Was Berlin und Warschau trennt, ist die Beurteilung Russlands und das Verhältnis zu ihm. "Alle polnischen Aufstände gingen gegen die Russen", sagte mir vor langen Jahren ein polnisches ZK-Mitglied. Für die Polen ist Russland nach wie vor eine Gefahr, vielleicht keine akute, sicher aber eine latente. Für die Deutschen aber ist es das nicht mehr. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, die jahrzehntelange Angst, die sowjetische Militärmaschine werde über Deutschland und Westeuropa rollen, bewegt heute fast keinen Deutschen mehr. Polen und Deutsche können tagelang ihre Argumente austauschen, ob Russland bedrohlich sei oder nicht, sie werden einander kaum überzeugen. Der Unterschied der Meinungen ist zu tief, weil historisch verwurzelt. Und er wird für Polen noch schwerer überwindbar, wenn sie deutsche Kanzler in Moskau sehen, Helmut Kohl vertraut mit Boris Jelzin, Gerhard Schröder mit Wladimir Putin. Manche sagen "Rapallo", andere denken es.

Auch der zweite Streit ist nur historisch erklärbar. Er ging darum, wie stark Polen in der europäischen Union vertreten sein soll, und hatte die gleiche Wurzel wie früher die Unbedingtheit, mit der Polen auf der Oder-Neiße-Grenze beharrte: Wer so lange als zweitrangig behandelt wurde, verlangt Gleichrangigkeit. Er tut es umso mehr gegenüber einem Nachbarn, der ihn in der Vergangenheit mit seiner Arroganz beleidigt hat.

Diese Arroganz ist weitgehend, aber keineswegs ganz verschwunden. Immerhin, das ist ein wesentlicher Wandel, deutsche Ostpolitik ist nicht mehr wie früher nur Russlandpolitik, sondern beides: Politik mit Moskau und Politik mit Warschau. In den letzten Jahren hieß das auch Politik für Warschau, Hilfe beim Weg Polens in die EU. Aber auch darin lag ein Moment der Ungleichheit: Der eine hilft, dem anderen muss geholfen werden. Als die Polen dann Forderungen stellten, die unangemessen erschienen, sagten auch durchaus polenfreundliche Politiker in Berlin: Sie sind undankbar.

Die Sache wird schwieriger, weil nicht nur die Polen, sondern auch die Deutschen Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein haben und sich das jetzt stärker äußert. Nach Krieg und Auschwitz waren sie der Paria Europas. Seit Adenauer folgten sie der Regel: Nach Hitler müssen Deutsche mehr Vorsicht, Einsicht und Rücksicht zeigen als andere. Deshalb: nicht auftrumpfen, lieber zurückstecken. Niemals etwas allein durchzusetzen versuchen. Damit ist es nicht vorbei, seit Deutschland vereinigt und uneingeschränkt souverän geworden ist, aber es wurde und wird weniger. Die deutschen Leiden und Verluste, Bombenkrieg und Vertreibung, sollen mehr Beachtung finden, die deutschen Interessen müssen stärker durchgesetzt werden, Schröders offenes Nein zu Bushs Irak-Krieg, seine klare Opposition gegen ein Kernstück amerikanischer Politik - das wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen. Kohl hat sich aus dem ersten Irak-Krieg herausgehalten, indem er ihn heimlich bezahlte.

Selbstgefühl und Geltungsbedürfnis sind in Polen und in Deutschland gewachsen und jetzt zusammengestoßen, die jüngste Geschichte erklärt es bei den Deutschen, bei den Polen erklärt es auch die ältere. Paternalismus und Überlegenheitsgefühl sind die Folgen beim einen, Anerkennungsdrang und Selbstüberschätzung beim anderen. Beides trifft mit einem sehr alten Phänomen zusammen. Polen und Deutsche sind fixiert auf den Westen. Die Polen treffen dabei auf die Deutschen, die ihnen aber den Rücken zukehren und eifrig die Franzosen suchen. Um es an einem banalen Beispiel zu erläutern: Wenn ein Deutscher die Stadt Bordeaux wie Bor-de-auks ausspricht, lacht man ihn aus; wenn er die Stadt Łódź nicht wie Lodsch, sondern korrekt ausspricht, versteht man ihn nicht. Das ungleiche Interesse aneinander trennt seit Jahrhunderten und hat auch in den letzten fünfzig Jahren weit mehr behindert, als uns klar gewesen ist. Bis weit in die siebziger Jahre hinein, vielleicht noch länger, sahen nur wenige Polen, wo das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen liegt: nicht in deutschem Drang nach Osten, sondern in deutscher Gleichgültigkeit gegenüber dem Osten.

Normalisierung sollte der erste Schritt sein, mit dem Deutsche und Polen einander näher kommen. Normalisierung bedeutet in einfachem Wortverständnis: Beseitigung all dessen, was nicht normal ist in den Beziehungen zweier Nationen. Kann man davon sprechen, wenn immer noch historische Prägungen in Konflikte führen? Wenn Meinungsverschiedenheiten zu Grundsatzdebatten ausarten? Wenn die Erinnerung an die Wunden, die der Nachbar geschlagen hat, so stark weiterlebt, dass sie das Verhältnis jederzeit verderben kann? Wenn die Erinnerung zu eigennützigen Zwecken benutzt wird? Wenn Empfindlichkeit und Reizbarkeit noch so hoch sind, dass schon ein falsches Wort eine Beziehungskrise auslösen kann? Darf man von Normalisierung sprechen, wenn die Decke über vielem, das nicht normal wurde, so dünn ist?

Was tun wir mit unseren historischen Lasten? Zunächst erscheint es wichtig, sie als historisch zu erkennen: Da steht etwas zwischen Deutschen und Polen, das nicht schnell und leicht wegzuräumen ist. Politik und Wirtschaft, wie die flotten Pragmatiker meinen, genügen nicht. Wir müssen sehr vorsichtig miteinander umgehen, uns Mühe geben und uns darüber klar sein, dass es trotzdem lange dauern wird. Nirgendwo in Europa hatten es zwei Nationen so schwer, wieder zueinander zu kommen.

Aber wir sind nicht nur Produkte unserer Geschichte, wir können selbst Geschichte machen. Und dafür gibt es Beispiele und Vorbilder. Zunächst die Beispiele. Der Warschauer Vertrag von 1970 hat, weil er der erste Schritt nach Polen war, vieles offen gelassen, aber er hat zwischen Polen und der Bundesrepublik Türen geöffnet, und das nicht nur für die Wirtschaft! Kirchen, Universitäten, auch Schulen, Rundfunksender, versöhnungswillige Landsmannschaften, Schriftsteller, Theaterleute, Musiker, engagierte Privatmenschen, die sich in vielen deutsch-polnischen Gesellschaften zusammenschlossen, suchten und fanden Verbindung nach Polen. Professoren beider Seiten einigten sich nach manchmal harten Auseinandersetzungen auf Empfehlungen, wie die Nationalismen aus den Schulbüchern gebracht werden sollten - sie leisteten gute Arbeit, denn die Nationalisten beider Seiten kritisierten die Empfehlungen. Ende 1982 erschien ein Buch von 280 Seiten, das an "kultureller Zusammenarbeit" registrierte, was feststellbar war, und das war keineswegs alles, wie der Herausgeber Winfried Lipscher betonte. Auch die Warschauer Behörden hatten Ende der siebziger Jahre, bestimmt zu ihrem Leidwesen, den Überblick verloren, was sich da alles jenseits staatlicher Aufsicht abspielte. Aber nachdem die Türen ziemlich weit geöffnet waren, "ging" in Polen beinahe alles, man musste nur wissen wie oder einen kennen, der es wusste.

Zwischen Polen und der DDR erwies sich die verordnete Freundschaft als Türöffner, denn sie ermöglichte unverordnete, wahre Freundschaft. Nicht nur Funktionäre, auch Lehrer, Professoren, Künstler, Schriftsteller, Fachleute jeder Art sollten sich verständigen und taten es oft mehr, als sie sollten. Aus fachlicher "Beratung" wuchsen persönliche Beziehungen. Die Nicht-Konvertierbarkeit der Währungen zwang zu gegenseitiger Hilfe. Auch ehrte man einander. Doktor honoris causa einer polnischen Universität zu sein freut manchen Ostdeutschen noch heute. Die Deutschen beeindruckten - und verärgerten - die Polen durch Effizienz, die Polen lockten - und verstörten - durch Freiheiten. Wie in dem Witz von den zwei Hunden, die durch die Oder schwimmen, einander begegnen und sich wundern, was der andere auf der eigenen Seite will: Der polnische möchte sich in der DDR mal satt fressen, der deutsche möchte in Polen mal bellen.

Karl Dedecius brachte die polnische Literatur in die Bundesrepublik, Henryk Bereska und viele andere schlugen literarische Brücken von Polen in die DDR. Adam Krzeminski beobachtete in den sechziger und siebziger Jahren eine "Polenwelle" unter DDR-Schriftstellern; auch sonst entdeckten Künstler, Intellektuelle und Individualisten Polen als Land, in dem das gleiche System herrschte und doch vieles anders war, leichter, gelassener, ohne Respekt vor jeglicher Obrigkeit, ganz und gar unideologisch, aber nationaler, was manche Ostdeutschen mit Neid und andere mit Kopfschütteln feststellten. Wer nicht "Reisekader" war und in den Westen durfte, fuhr nach Warschau oder Krakau.

Und nun die Vorbilder. Da sind zunächst auf beiden Seiten die Kirchen zu nennen, die der Politik weit vorangingen. Die Denkschrift der evangelischen Kirche erhob sich 1965 über die Einseitigkeit der bundesdeutschen Sicht und würdigte das Schicksal beider Nationen, den deutschen Schmerz um die verlorene Heimat und die polnische Furcht um die neue. Sie empfahl nicht die Anerkennung der Grenze, aber ließ sie als Folgerung unvermeidlich erscheinen. Kurz danach durchbrachen die polnischen Bischöfe die Mauer der Einseitigkeit und sprachen das größte Wort, das zwischen Polen und Deutschen gesagt wurde: "Wir vergeben und bitten um Vergebung." Die deutschen Bischöfe antworteten weniger christlich als diplomatisch und überließen damit ihre polnischen Brüder den bösartigen Attacken der Partei. Fünf Jahre später tat die Partei selbst, was sie den Bischöfen vorgeworfen hatte, und arrangierte sich mit der Bundesrepublik. Tadeusz Mazowiecki beklagte sich 1970 bitter, das katholische Polen habe den Weg bereitet, aber nun gehe die Verständigung mit den Deutschen an ihm vorbei.

Das zweite Verdienst gebührt den polnischen und deutschen Politikern, die den Mut hatten, sich über schwere Erfahrungen, böse Opposition und eigene Vorbehalte hinweg zu setzen. Die sich auch von populistischen Chancen nicht verlocken ließen und taten, was die Verständigung verlangte. Das dritte Verdienst ist namenlos. Die zahllosen Unbekannten haben es sich erworben, die sich jahrzehntelang in stiller Kleinarbeit dafür mühten, dass die schlimmen Erinnerungen und die festgefügten Vorurteile nicht weiter das Bild der Polen und der Deutschen bestimmten. Wenn Völker zueinander kommen sollen, muss die Politik Voraussetzungen schaffen, aber das Wesentliche geschieht jenseits der Politik. Nur das dichte, ziemlich feste Netz von Verbindungen, Bekanntschaften und Freundschaften über die Grenzen hinweg hat es ermöglicht, die schwierigen achtziger Jahre leidlich zu überstehen. Dieses Netz bildete die Grundlage, auf der 1990 Polen und Deutsche befreit zueinander kommen konnten.

Ein Blick zurück in die ersten Nachkriegsjahre zeigt, dass seitdem unvorstellbar viel erreicht worden ist. Die Erinnerung an die nicht endenden Schwierigkeiten der Folgezeit lehrt, dass mehr nicht zu erreichen war. Historische Lasten und Prägungen verschwinden nicht in einem halben Jahrhundert. Aber auch dagegen kann man etwas tun. Das Beispiel Willy Brandts beweist es. "Meine Regierung nimmt die Ergebnisse der Geschichte an", sagte er 1970 bei der Unterzeichnung des Grenzvertrages zum polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz. Das hieß: Wir finden uns damit ab, dass Deutschland an der Oder und der westlichen Neiße endet. Er kniete vor dem Ghetto-Denkmal in Warschau. Das hieß: Wir wissen, dass es deutsche Schuld gegenüber Polen gibt, die keine Politik tilgen kann.

Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 5-6/2005)

Fussnoten

Dr. phil., geb. 1923, gest. 11. Oktober 2008, war seit 1954 Journalist, u.a. 1973 bis 1975 ARD-Korrespondent (Hörfunk) in Warschau.