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Die Taliban Geschichte und Ideologie

Conrad Schetter

/ 11 Minuten zu lesen

Kabul, 15.08.2022: Ein Jahr nach der Einnahme Kabuls feiern Taliban-Kämpfer ihren Sieg. (© picture-alliance, abaca)

Innerhalb der militanten dschihadistischen Bewegungen stellen die Taliban [pers. Religionsstudenten] eine der wichtigsten Gruppierungen dar. So gelang es ihnen von 1996 bis 2001 und dann erneut seit 2021, die politische Herrschaft über Afghanistan zu erringen und ihre eigenen Vorstellungen eines Gottesstaates umzusetzen.

Entstehung der Taliban (1994-2001)

Die Taliban entstanden im Verlauf des afghanischen Bürgerkrieges. Dieser wurde 1979 – also vor nahezu 45 Jahren – zum Höhepunkt des Kalten Krieges ausgelöst. Sowjetische Truppen marschierten nach Afghanistan ein, um das dortige kommunistische Regime zu stützen. Die afghanischen Mudschaheddin [heilige Krieger], die vom Westen und von Pakistan unterstützt wurden, leisteten erbitterten Widerstand und erwirkten 1989 den Abzug der sowjetischen Truppen. Dennoch kam Afghanistan nicht zur Ruhe. So hatten nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1992 diverse Mudschaheddin-Parteien und Kriegsfürsten das Land unter sich aufgeteilt und führten einen äußerst zerstörerischen Kampf um die Kontrolle Kabuls. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Südafghanistan ein Machtvakuum, das die Entstehung der Taliban ermöglichte. So waren es ehemalige Mudschaheddin, die – angeführt von ihrem spirituellen Führer Mullah Omar – seit 1994 in Windeseile erst Süd- und dann Westafghanistan eroberten. 1996 zogen die Taliban in Kabul ein und vertrieben die anderen Kriegsparteien, die sich als Nordallianz zusammenschlossen. In den Folgejahren nahmen die Taliban in verschiedenen Wellen das ganze Land ein – bis auf den Nordosten Afghanistans, wo ihnen die Nordallianz erbittert Widerstand leistete. International erkannten allein Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die Taliban als neue Regierung Afghanistans an.

Das wichtigste Ziel der Taliban in den 1990er Jahren war, nach der Fragmentierung des Bürgerkrieges die territoriale Integrität Afghanistans wiederherzustellen. So distanzierten sie sich in ihrer Selbstdarstellung von der Herrschaft der Mudschaheddin, die durch Gräueltaten an der Bevölkerung ihren Ruf als „heilige Krieger“ verspielt hatten. Die Eigenbezeichnung Taliban sollte ein einheitliches Handeln im Zeichen des Islam vermitteln. Die Taliban wendeten sich gegen die parteiliche Zersplitterung, der die Mudschaheddin erlegen waren.

Einen globalen Dschihad, wie ihn etwa al-Qaida vertritt, verfolgten die Taliban zu keinem Zeitpunkt. Anders als die Muslimbrüder, die die Moderne mit dem Islam verbinden wollen, streben die Taliban die Errichtung eines Gottesstaates an, wie er in der frühislamischen Blütezeit des Emirats von Bagdad bestand. In Anlehnung an den zweiten Kalifen, der Anfang des 8. Jahrhunderts lebte, bezeichnete sich ihr spiritueller Anführer Mullah Omar als „zweiter Omar“ und nahm den Titel amir al-mumenin [Herrscher der Gläubigen] an. Durch solche Zusätze unterstrichen die Taliban ihren Führungsanspruch in der islamischen Welt, was islamische Rechtsgelehrte in Kairo und Mekka gegen die Taliban aufbrachte, sahen sie diese doch als primitiv und ungebildet an.

Die Politik der Taliban war zu einem gewissen Grad Ergebnis einer Verrohung durch den Krieg. Der kompromisslose Einsatz von Gewalt wurde als normal empfunden. So brüsteten sie sich damit, durch die Einführung harter Strafen für Verbrechen die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt zu haben. Zentral für ihre Herrschaft war die Einführung der Scharia, deren Umsetzung eine Sittenpolizei überwachte. Die Scharia-Strafen für bestimmte Vergehen (z. B. Steinigung bei Ehebruch) wendeten sie rigoros an. Verbote von Rasieren, Tanzen, Musikhören, Portraitfotos, Fernsehern oder Papiersäcken (weil sie aus Altpapier hergestellt wurden, auf dem ein religiöser Text gestanden haben könnte) entsprachen eigenwilligen Interpretationen der religiösen Schriften, die sie tagtäglich um weitere Verbote ergänzten. Leidtragende dieser Politik waren vor allem die Frauen als schwächstes Glied der afghanischen Gesellschaft, die über Arbeits- und Schulbesuchsverbot wie über die Pflicht des Tragens der burqa [Burka, Ganzkörperschleier] völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden.

Das archaische Islamverständnis der Taliban und ihre nach außen bizarr anmutende, teilweise menschenverachtende Politik waren wichtige Gründe für ihr Zerwürfnis mit der Weltgemeinschaft. Unter den Taliban entwickelte sich Afghanistan, das bereits im Krieg gegen die Kommunisten Magnet für militante Islamisten aus aller Welt gewesen war, zu einem „sicheren Hafen“ des globalen Dschihadismus. Osama bin Ladin, der 1996 Zuflucht in Afghanistan suchte, gründete hier das Terrornetzwerk al-Qaida, welches 1998 Anschläge auf die US-Botschaften in Dar-es-Salam und Nairobi verübte. Wenngleich das Verhältnis zwischen den Taliban und al-Qaida nicht spannungsfrei war, hielt Mullah Omar seine schützende Hand über Osama bin Ladin. Für ihre Allianz mit al-Qaida nahmen die Taliban ihre zunehmende politische Isolation in Kauf: Die Vereinten Nationen belegten Afghanistan mit Sanktionen; enge Verbündete, wie Saudi-Arabien, wendeten sich von den Taliban ab. Die Antwort der Taliban, die spürbar unter dem Einfluss der Araber um Osama bin Ladin standen, war die Zerstörung des Weltkulturerbe der Buddhastatuen von Bamyan am 10. März 2001.

Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon katapultierten Afghanistan endgültig ins Zentrum der Weltpolitik. Als Drahtzieher der Anschläge identifizierten die USA umgehend Osama bin Laden, dessen Auslieferung die Taliban verweigerten. Am 7. Oktober 2001 begann die US-Luftwaffe, Stellungen der Taliban zu bombardieren. Im November brach der Widerstand der Taliban zusammen. Am 8. Dezember 2001 verloren die Taliban mit Kandahar ihre letzte wichtige Hochburg und zogen sich in die unzugängliche Bergregionen im Grenzgebiet zu Pakistan und im südlichen Afghanistan zurück.

Wiedererstarken der Taliban (2001-2021)

Wenngleich die militärische Intervention der USA 2001 zur Zerstörung der Organisationsbasis der Taliban führte, gelang der Bewegung sukzessive eine Reorganisation. Spätestens seit 2005 hatten sich die Taliban – überwiegend aus Pakistan heraus – neu aufgestellt und forderten die afghanische Regierung und die US-Armee in Süd- und Ostafghanistans militärisch heraus. Dabei waren die Taliban polyzentrisch organisiert. So vereinte die Bewegung mehrere Machtzentren – vor allem die Quetta-Schura, die Peschawar-Schura, das Haqqani-Netzwerk. Diese verfügten jeweils über eigene parastaatliche Strukturen (u.a. eigene Kommissionen, Gouverneure und Polizeichefs), ergänzten sich gegenseitig regional, aber konkurrierten auch miteinander um Territorien und Kämpfer. Zudem verfügten die verschiedenen militärischen Fronten [mahaz] der Taliban über einen hohen Grad an Autonomie. Diese polyzentrische Ausrichtung minderte zwar die Schlagkraft der Taliban, machte sie aber auch agil und unberechenbar.

Bis 2009 vermochten es die Taliban, in den ländlichen Regionen Süd- und Ostafghanistans ganze Landstriche zu erobern, wo sie über Rechtsprechung und die Schaffung von Sicherheit Legitimität gewannen. Interessant ist zudem, dass sich die Taliban in dieser Phase gegenüber der Bevölkerung weit moderater und flexibler als in der Vergangenheit zeigten. Je nach lokalem Kontext tolerierten sie etwa Schulbildung und Erwerbstätigkeit für Frauen. Auch die Opiumökonomie, die die wichtigste Einkommensquelle in Südafghanistan darstellt, tasteten sie nicht an bzw. partizipierten an ihren Einnahmen. Zudem bedienten sich die Taliban bestimmter Narrative, um die militärische Intervention der „Ungläubigen“ zu diskreditieren, die gerade in der konservativen, ländlichen Bevölkerung auf Resonanz stießen: So etwa, dass die US-Interventen in erster Linie Zivilisten töten würde, dass sie die Autonomie lokaler Gemeinschaften wie der afghanischen Nation missachten würden und dass sie althergebrachte Gesellschaftsordnungen (v.a. Stellung der Frauen) verändern wollen.

Obgleich die USA zwischen 2009 und 2012 ihre militärische Präsenz auf über 100.000 Soldat:innen in Afghanistan erhöhten, gelang ihnen nur die zeitweise Schwächung der Taliban, nicht aber ihre Vernichtung. Der Teilabzug der US-Truppen dar, der 2012 auf Druck der US-amerikanischen Innenpolitik begann, dynamisierte die Kriegsmaschinerie der Taliban: Den permanenten ca. 25 000 bis 35 000 Kämpfern wurden zunehmend Logistik- und Nachschubnetzwerke beigeordnet; auch nahm die Professionalisierung der Taliban (u.a. moderne Waffen) ständig zu. So rückten die Taliban kontinuierlich in die Stellungen vor, die die US-Armee aufgab und die die afghanischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage waren zu halten. Nun traten die Taliban auch in starken Verbänden von mehreren Hundertschaften auf, um ganze Distrikte einzunehmen – nicht nur in ihren Hochburgen in Süd- und Ostafghanistan, sondern auch in nördlichen Provinzen.

Einen diplomatischen Erfolg erzielten die Taliban mit der Eröffnung eines Verbindungsbüros in Doha/ Katar 2013. Allerdings erst mit dem Amtsantritt von Donald Trump nahmen die Verhandlungen zwischen den Taliban und den USA Fahrt auf. Am 29. Februar 2020 erzielten beide Seiten im Doha Agreement eine Übereinkunft: Die USA versprachen den Abzug sämtlicher Truppen; im Gegenzug garantierten die Taliban, dass sie keine internationalen Soldaten in Afghanistan mehr angreifen würden und dass aus den von ihnen kontrollierten Gebieten keine Terrorakte gegen die USA mehr stattfinden werden. Mit dem voranschreitenden Abzug der US-Truppen starten die Taliban eine Offensive, unter der seit Frühjahr 2021 der afghanische Sicherheitsapparat buchstäblich zusammenbrach. Im Juli nahmen die Taliban eine Provinz nach der anderen ein; am 15. August fiel Kabul in ihre Hände. Die tumultartigen Szenen am Kabuler Flughafen stehen emblematisch für das Scheitern der internationalen Intervention und für die Rückkehr der Taliban.

Die Taliban nach 2021

Die internationale Gemeinschaft versagte den Taliban nach ihrer Machtübernahme die internationale Anerkennung, und viele Länder belegten das Land mit Sanktionen. Seitdem befindet sich Afghanistan in einer prekären wirtschaftlichen Lage und in einer humanitären Dauerkrise.

Die Taliban riefen ein islamisches Emirat aus. Ihr Staatsverständnis beschränkt sich auf die Herstellung öffentlicher Sicherheit, die Sprechung von Recht und das Eintreiben von Steuern. Soziale Wohlfahrt und Entwicklung überlassen sie internationalen Hilfsorganisationen. Entscheidungen trifft der enge Kreis der Vertrauten des amir-al mumenin, Akhundzada Habitullah, der in Kandahar residiert und eher als das spirituelle, denn als das politische Oberhaupt der Taliban gilt. Diese Machtkonzentration bedingt Spannungen innerhalb der Taliban – etwa zwischen Pragmatikern, die eine internationale Anerkennung anstreben, und Orthodoxen, die für eine frauenfeindliche Politik stehen, aber auch zwischen unterschiedlichen Taliban-Generationen und zwischen Regionalverbünden –, die bislang aber nicht zu einem Bruch innerhalb der Bewegung geführt haben. Einziger wirklicher Herausforderer der Taliban ist der Islamische Staat Khorasan (ISK), ein Ableger des sog. Islamischen Staates, der seit 2015 zum Sammelbecken von Taliban-Abtrünnigen avancierte und Anschläge und Attentate verübt.

Wenngleich die Taliban nach ihrer Machtübernahme deutlich smarter und versöhnlicher als in den 1990er Jahren auftreten, verdeutlicht ihre Politik, dass sie sich in ihren Kernanliegen nicht verändert haben: Meinungsfreiheit und freie Presse wurden schnell unterbunden und islamische Sittenvorstellungen wieder eingeführt. Vor allem grenzten die Taliban wieder die Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben aus, was sich im Verbot des Besuchs von Schulen (ab der 6. Klasse) und Universitäten, im Arbeitsverbot für Frauen in NGOs wie in Alltagsvorschriften (u.a. Kleiderordnung, männliche Begleitung) niederschlug. Die fortgesetzt frauenverachtende Politik der Taliban führte zu einer weiteren Entfremdung zwischen den Taliban und der internationalen Gemeinschaft.

Ideologie der Taliban: Islam – Ethnizität – Klasse

Wenngleich sich innerhalb der Taliban viele Anhänger befinden, die bereits als Mudschaheddin gekämpft hatten, rekrutiert sich das Gros aus Medresen [Islamische Schulen] in Afghanistan und Pakistan. Die Koranschüler stammen meist aus den unteren sozialen Schichten und sind oftmals Waisenkinder. So übernehmen die Medresen die Funktion von Ersatzfamilien. Entsprechend ihrer sozial niedrigen Herkunft sehen sich die Taliban selbst als die Bewegung der „kleinen Leute“, die gegen die korrupten Eliten des Landes aufbegehren und soziale Ungerechtigkeiten bekämpfen. Dementsprechend sind die Anführer der Taliban keine gebildeten ulama [Religionsgelehrte], sondern gewöhnliche Mullahs, die oft nur eine rudimentäre Bildung in lokalen Medresen genossen haben.

Dies ist wichtig, um das Islamverständnis der Taliban zu verstehen, dass eher auf dem Volksglauben als einer Interpretation des Schriftislams fußt. In Afghanistan dominiert die sunnitisch-hanafitische Rechtsschule, die als moderat und flexibel gilt. Sie ermöglicht das Verschwimmen islamischer, tribaler und vorislamischer Vorstellungen zu einem diffusen Kosmos, über den sämtliche Ansichten in einer islamischen Rhetorik kommuniziert und legitimiert werden. Im Mittelpunkt dieses Islamverständnisses steht weniger die Auslegung der Schrift, sondern die spirituelle Gotteserfahrung. Mullah Omar, dem ersten amir-al mumenin der Taliban, begegnete Allah etwa immer wieder in seinen Träumen, in denen er ihm seine Entscheidungen offenbarte. Entsprechend diesem vagen Islamverständnis erstaunt es nicht, dass die Taliban zwar immer wieder in der Etablierung ihres Gottesstaates die Scharia als ihr explizites Rechtssystem betonen, aber bislang schuldig geblieben sind, wie die Scharia konkret ausbuchstabiert werden soll. Denn dies würde viele Praktiken der Taliban, die lokal ganz unterschiedlich gelebt werden, infrage stellen.

Vor allem vermischen sich islamische Traditionen mit paschtunischen Stammesvorstellen. Die Paschtunen, die ca. 40% der afghanischen Bevölkerung stellen und v.a. in Süd- und Ostafghanistan leben, sind die wesentlichen Basis der Taliban. Die Paschtunen verfügen über einen eigenen tribalen Ehren- und Rechtscodex (paschtunwali), der sehr maskulin ausgerichtet ist und durch archaische Vorstellungen (u.a. Blutrache) geprägt ist. Gerade die Verbannung der Frauen aus der Öffentlichkeit, wie sie die Taliban propagieren, lässt sich eher mit dem paschtunwali als mit dem Islamverständnis der Taliban erklären. Insgesamt haben die Taliban aber ein ambivalentes Verhalten zur paschtunischen Ethnizität: Auf der einen Seite ist ihnen daran gelegen, über das einigende Band des Islam tribale Fragmentierungen zu überwinden. Auf der anderen Seite stellt die tribale paschtunische Kultur eine gemeinsame Wertebasis dar.

Internationale Verortung der Taliban

Die Taliban werden oftmals als der verlängerte Arm Pakistans betrachtet. In der Tat übte v.a. der pakistanische Geheimdienst kontinuierlich Einfluss auf die Taliban aus: So protegierte Pakistan in den 1990er Jahren die Entstehung und Ausbreitung der Taliban, und die Taliban konnten sich in den letzten 20 Jahren frei in Pakistan bewegen und hier eigene Organisationsstrukturen aufbauen. Auch stellte Pakistan den Taliban Infrastruktur, Logistik und militärische Berater zur Verfügung. Gleichzeitig schaltete Pakistan immer wieder Taliban-Führer aus, wenn diese zu eigenwillig handelten. Das Interesse Pakistans an den Taliban ist, über diese eine von ihnen abhängige und kontrollierte Regierung in Kabul zu installieren. Dennoch war den Taliban stets daran gelegen, sich aus der pakistanischen Vereinnahmung zu emanzipieren. Die Tehrik-i-Tailban Pakistan (TTP), ein pakistanischer Ableger der Taliban, trägt über Attentate immer wieder zur Destabilisierung Pakistans bei.

Interessant ist zudem das Verhältnis der USA zu den Taliban. Wenngleich zwischen 2001 und 2021 die USA die Vernichtung der Taliban anstrebten, darf nicht vergessen werden, dass die USA in der Anfangsphase bis 1996 die Ausbreitung der Taliban wohlwollend betrachteten. Denn Washington favorisierte damals den Bau einer Pipeline aus Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan; die Taliban sollten hierfür Afghanistan befrieden. Gegenwärtig sehen die USA die Taliban weniger als Gegner, sondern aus sicherheitspolitischen Erwägungen eher als Bollwerk gegen den weit radikaleren Islamischen Staat, in dem eine terroristische Bedrohung und ein regionaler Unsicherheitsfaktor gesehen wird.

Zudem sind es vor allem die Golfstaaten (Saudi-Arabien, Katar, VAE), die zu den Taliban gute Beziehungen unterhalten. So spielten die Golfstaaten – ähnlich wie Pakistan – in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein doppeltes Spiel, indem sie einerseits Alliierte der USA waren, andererseits die Taliban unterstützten. Ein wichtiger Grund hierfür war, dass in der prodemokratischen Rhetorik der US-Intervention in Afghanistan ein Risiko für die Stabilität der autokratischen Golfstaaten gesehen wurde. Auch kam das Gros der finanziellen Unterstützung der Taliban aus den Golfstaaten; im Umfang weit mehr als die Taliban etwa aus der Opiumökonomie einnahmen.

Der Iran, der sich aufgrund des schiitisch-sunnitischen Gegensatzes in den 1990er Jahren mit den Taliban im Konflikt befand, nahm 2012 einen Strategiewechsel vor und unterstützte die Taliban mit dem Ziel, die USA aus Afghanistan zu vertreiben. China intensivierte dagegen erst seit der Machtübernahme der Taliban 2021 seine Beziehungen zum Islamischen Emirat. So übt China Druck auf die Taliban aus, uighurische Islamisten auszuliefern und offeriert im Gegenzug Wirtschaftskooperationen.

Schluss

Anders als viele erwartet hatten, haben die Taliban mit ihrer Rückkehr an die Macht im August 2021 ihren Zenit nicht überschritten, sondern sitzen fest im Sattel. Aufgrund ihrer frauen- und menschenrechtsverachtenden Politik entfernen sich die Taliban seit ihrem Machtantritt zunehmend von der internationalen Gemeinschaft. Es bleibt abzuwarten, ob eine internationale Isolation der Taliban eher den sozialen Zusammenhalt in der Bewegung stärkt oder aber die Spannungen entlang unterschiedlicher Konfliktlinien erhöht.

Quellen / Literatur

Weiterführende Literatur Giustozzi, Antonio (2019) The Taliban at War 2001-2018. London: Hurst.

Johnson, Thomas (2017): Taliban Narratives. The Use and Power of Stories in the Afghan Conflict. London: Hurst

Schetter, Conrad und Katja Mielke (2022) Die Taliban. Geschichte, Politik, Ideologie. München: C.H. Beck

Strick van Linschoten, Alex und Felix Kuehn (2018) The Taliban Reader. War, Islam and Politics. London: Hurst.

Fussnoten

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Prof. Dr. Conrad Schetter ist Friedens- und Konfliktforscher mit regionalem Schwerpunkt Südasien, Zentralasien und Ostafrika. Seit 2013 ist er Director des Externer Link: Bonn International Centre for Conflict Studies.