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Zu Hause bleiben und "social distancing" – für Geflüchtete oft nicht möglich

Prof. Dr. Ulrike Krause Nadine Segadlo Dr. Franzisca Zanker Hannah Edler

/ 13 Minuten zu lesen

Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Lebenssituation und den Schutz geflüchteter Menschen in Ländern südlich der Sahara? Ein Gespräch mit den Migrationsforscherinnen Ulrike Krause, Nadine Segadlo, Franzisca Zanker und Hannah Edler.

Eine Krankenschwester bereitet sich auf die Verabreichung einer Impfung gegen COVID-19 in einem Bezirksgesundheitszentrum im Kibera-Viertel von Nairobi, Kenia, vor. In vielen Ländern der Welt war der Zugang zu Schutzimpfungen an einen formellen (Aufenthalts-)Status und Dokumente, wie Ausweise und eine Arbeitserlaubnis, gebunden. (Aufnahmedatum: 20. Januar 2022) (© picture-alliance/AP, Brian Inganga)

Die Interner Link: COVID-19-Pandemie betrifft alle Menschen weltweit. Dabei waren und sind auch jene Bevölkerungsgruppen verstärkt gefährdet, die sich schon vor der Pandemie in prekären Lebensverhältnissen befanden. Dazu zählen auch die weltweit mehr als 89,3 Millionen vertriebenen Menschen (Stand Ende 2021), die ihr Zuhause aufgrund von Konflikten und Krisen verlassen mussten. 27,1 Millionen davon leben als Flüchtlinge außerhalb ihres Herkunftslandes. Schon vor der Pandemie waren geflüchtete Menschen mit vielfältigen strukturellen Hürden beim Zugang zu ihren Rechten, politischer Teilhabe und wirtschaftlichen Möglichkeiten konfrontiert und verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt. Wie hat sich die COVID-19-Pandemie auf die Lebenssituation Geflüchteter und deren Schutz ausgewirkt? Diese Frage stellten die Migrationsforscherinnen Prof. Dr. Ulrike Krause, Nadine Segadlo, Dr. Franzisca Zanker und Hannah Edler 2021 in einer qualitativen Umfrage in sechs Staaten in Ost-, Süd- und Westafrika. Ein Gespräch über die Ergebnisse ihrer Studie.

Umfrage in sechs afrikanischen Staaten

Im Januar und Februar 2021 führten die Forscherinnen Prof. Dr. Ulrike Krause, Nadine Segadlo, Dr. Franzisca Zanker und Hannah Edler eine erste qualitative Umfrage durch, um herauszufinden, wie sich die COVID-19-Pandemie im ersten Jahr seit ihrem Ausbruch auf Geflüchtete und deren Schutz ausgewirkt hat. Untersucht wurden die Entwicklungen in den Ländern Ghana, Kenia, Nigeria, Südafrika, Uganda und Simbabwe. Mit einem Online-Fragebogen wurden insgesamt 90 Personen befragt, darunter Personen mit Fluchthintergrund, Wissenschaftler/-innen, Regierungsvertreter/-innen und Mitarbeitende von Hilfsorganisationen. Der anonyme Fragebogen umfasste offene und Multiple-Choice-Fragen. Dadurch sollten Einblicke in lokale Entwicklungen und Verhältnisse gewonnen und unterschiedliche Perspektiven erfasst werden. Ein Anspruch auf Repräsentativität wurde nicht erhoben. Eine zweite Umfrage über anhaltende Folgen der Pandemie führen die Forscherinnen zum Zeitpunkt des Interviews im November 2022 durch.

Die Forschung fand im Rahmen der Forschungsprojekte "Frauen, Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern" und "Forced Displacement in Africa: The politics and stakeholders of migration governance" statt, die unabhängig voneinander von der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) gefördert werden. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse der Umfrage in zwei Working Paper. Zudem wurden die Ergebnisse in Infografiken erfasst und Zusammenfassungen in sechs Sprachen übersetzt: Französisch, Hausa, Ndebele, Shona, Somali und Suaheli. Dadurch wurden die Ergebnisse einer breiten Leser/-innenschaft und insbesondere Geflüchteten selber zugänglich gemacht.

Sie befassen sich in Ihrer Forschung vor allem mit Fragen von Flucht und Flüchtlingsschutz in Subsahara Afrika. Ganz generell: Wie ist der Flüchtlingsschutz in dieser Weltregion organisiert und welche Akteure sind relevant?

Ulrike Krause: Generell sind Staaten für alle Menschen auf ihrem Territorium zuständig und so natürlich auch für Geflüchtete. Staaten tragen also die Hauptverantwortung für den Schutz von Geflüchteten. Wenn Länder jedoch nicht in der Lage sind, hinreichend für diesen Schutz einzutreten, können sie das Interner Link: Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) um Unterstützung bitten. Dies ist in vielen afrikanischen Staaten der Fall, sodass sie mit UNHCR zusammenarbeiten, um Schutz- und Unterstützungsleistungen für geflüchtete Menschen bereitstellen zu können. Die Zusammenarbeit involviert auch weitere internationale Organisationen wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Projekte in bestimmten Bereichen umsetzen. So wird den Menschen etwa Zugang zu Nahrungsmitteln, Bildung oder medizinischer Versorgung gegeben. Dies basiert in der Regel auf dem Ansatz der humanitären Not- und Soforthilfe, wonach den Menschen unmittelbar nach ihrer Zuflucht Schutz- und Unterstützungsleistungen zugänglich gemacht werden sollen. Häufig findet das in Interner Link: Aufnahmelagern statt, wie beispielsweise dem Camp Kyaka II in Uganda. Die Lager dienen nicht nur der Ansiedlung und dem Schutz, sondern auch der räumlichen Kontrolle von Geflüchteten. Zudem sind die Lebensverhältnisse dort meist sehr schwierig. Wenn Staaten eine solche Lagerpolitik nutzen, erhalten Geflüchtete, die sich an anderen Orten wie etwa in Städten niederlassen, mitunter gar keine Unterstützungsleistungen. Das stellt die Menschen insbesondere während der Pandemie vor Herausforderungen.

In welchem Ausmaß waren und sind die Staaten in Subsahara-Afrika von der Corona-Pandemie betroffen und welche zentralen Maßnahmen wurden von den Regierungen ergriffen, um die Pandemie einzudämmen?

Franzisca Zanker: Genauso wie andere Teile der Welt ist auch der afrikanische Kontinent von der Pandemie betroffen. Der Unterschied liegt darin, dass bis heute nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung eine komplette Schutzimpfung erhalten haben, wobei es hier große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern gibt. Ein Grund dafür ist, dass die meisten Firmen, die Impfstoffe produzieren, ihre Patente nicht aufheben und Produktionsmöglichkeiten für eigene Impfstoffe in afrikanischen Ländern begrenzt sind.

Insgesamt waren die Auswirkungen der Pandemie in Afrika allerdings gar nicht so katastrophal, wie einige Beobachter*innen zuvor prophezeit hatten. Diese Vorhersagen können unter anderem auch mit kolonialen und rassistischen Weltanschauungsmodellen zu tun haben, die Afrika überwiegend als "Krisenkontinent" sehen. Mögliche Aspekte, die erklären, warum sich das Coronavirus in dieser Weltregion nicht so stark verbreitet hat wie erwartet, sind die durchschnittlich junge Bevölkerung , aber auch die gute Kommunikation und Aufklärungsarbeit vieler Regierungen und regionaler Organisationen, die sich auf Erfahrungen mit Epidemien wie beispielsweise Ebola stützt. Allerdings wurden in der ersten Phase der COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 Lockdowns und Ausgangssperren als zentrale Maßnahmen der Pandemieeindämmung genutzt. Größtenteils verfügten die jeweiligen Staaten aber nicht über ähnliche soziale Infrastrukturen wie zum Beispiel Kurzarbeit oder staatliche Sonderzahlungen, um die Auswirkungen dieser Maßnahmen auszugleichen, weshalb die Nebenwirkungen der Pandemie und der damit einhergehenden Schutzmaßnahmen oftmals katastrophal sind.

Zahl geflüchteter und asylsuchender Menschen in den untersuchten Staaten 2021

Zahl geflüchteter und asylsuchender Menschen in den untersuchten Staaten 2021

*In Nigeria leben zusätzlich 3.084.916 Binnenvertriebene (IDPs).
LandGhanaNigeria*KeniaUgandaSüdafrikaZimbabwe
Zahl geflüchteter und asylsuchender Menschen (2021)13.77378.790540.0491.573.291242.92321.434

Quelle: UNHCR (2022): Refugee Data Finder. Externer Link: https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download/?url=2z1B08 (Zugriff: 29.11.2022).

Welche Auswirkungen hatten die Pandemie und die beschriebenen Maßnahmen auf die Lebenssituation geflüchteter Menschen?

Nadine Segadlo: Die Pandemie verstärkt bestehende Herausforderungen und kreiert zusätzlich neue Risiken. Dies hat unsere qualitative Umfrage in sechs afrikanischen Staaten – Ghana, Kenia, Nigeria, Südafrika, Uganda und Simbabwe – deutlich gezeigt. Neben den gesundheitlichen Risiken durch die Pandemie sind Geflüchtete hier besonders mit wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert: Da viele geflohene Meschen im informellen Sektor arbeiten, hatten und haben einige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – wie Lockdowns und Ausgangssperren – verheerende Auswirkungen auf die ökonomischen Aktivitäten dieser Menschen. Häufig haben Geflüchtete ihre Möglichkeiten der Einkommensgenerierung und damit ihre Lebensgrundlage verloren.

Hannah Edler: Zusätzlich haben staatliche Maßnahmen den Zugang zu Schutz und Dienstleistungen für geflüchtete Menschen eingeschränkt. Sie konnten sich zum Beispiel nicht offiziell als Flüchtling anerkennen lassen, weil die Verfahren zur Bestimmung des Schutzstatus (Refugee Status Determination) ausgesetzt wurden.

Ulrike Krause: Während der Lockdowns kam es mitunter zu einem Anstieg an genderbasierter Gewalt, insbesondere von sexueller und häuslicher Gewalt. Von der Gewalt waren nicht nur, aber vor allem Frauen und Mädchen betroffen. Eine Person sagte uns zum Beispiel, dass die Rate geschlechtsspezifischer Gewalt hoch sei, weil Frauen während der Lockdowns zusammen mit den Tätern in den Häusern eingesperrt gewesen seien.

Daran anknüpfend: Gibt es Gruppen unter geflüchteten Menschen, die besonders von den Auswirkungen der Pandemie betroffen sind?

Nadine Segadlo: Die Teilnehmenden unserer Studie haben betont, dass generell Geflüchtete besonders von der Pandemie betroffen sind. Da sie mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert sind, ist es nicht leicht, eine genaue Klassifizierung vorzunehmen. Nichtsdestotrotz gibt es auch hier Nuancen, gerade mit Blick auf Frauen. Wie schon beschrieben, waren diese während der Lockdowns und Ausgangssperren vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt. Zusätzlich sind es häufig Frauen, die sich um die Pflege der Kranken kümmern und für das Wasserholen und die Versorgung der Familien zuständig sind. Dadurch sind sie einem stärkeren Infektionsrisiko ausgesetzt. Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen waren aufgrund ihrer besonderen Gefährdung und der Reduzierung von Unterstützungsleistungen ebenfalls besonders negativ von der Pandemie betroffen. Kinder litten beispielsweise stark unter einem eingeschränkten Schulzugang.

Hannah Edler: In Lagern sind Menschen generell mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit konfrontiert. Sie haben somit keine Möglichkeiten, kurzfristig andere Orte aufzusuchen, um sich beispielsweise im Krankheitsfall von der Familie zu isolieren. Zudem erschwert die räumliche Enge in Lagern das Einhalten von Abstands- und Hygieneregeln. Dies trifft aber auch auf informelle Siedlungen im urbanen Raum zu. Die Aufforderung, zuhause zu bleiben und sich zu isolieren, ist schwierig umzusetzen, wenn es teilweise gar kein 'richtiges' Zuhause gibt und viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben.

Franzisca Zanker: Die lokale Bevölkerung war in der Pandemie allerdings häufig mit ähnlichen Problemen wie die Schutzsuchenden konfrontiert, etwa einem Anstieg häuslicher Gewalt und dem Ausfall des Schulunterrichts. Gleichzeitig hatten und haben lokale Bevölkerungsgruppen zum Teil weniger Zugang zu Hilfsgütern, was Konflikte mit geflüchteten Menschen verstärkt hat. Diese Beobachtung variiert allerdings von Land zu Land und war in unserer Untersuchung stärker in Kenia, Uganda und Nigeria zu beobachten als in Ghana, Simbabwe oder Südafrika.

Können Sie genauer beschreiben, in welcher Hinsicht sich die Beziehungen zwischen geflüchteten Menschen und den lokalen Bevölkerungsgruppen während der Pandemie verändert haben?

Nadine Segadlo: Spannungen betrafen beispielsweise den Umgang mit knappen Ressourcen wie Nahrung, Wasser oder Gesundheitsdienstleistungen. Teilweise haben auch Unstimmigkeiten über die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln zu Konflikten geführt. Besonders hervorgehoben wurde aber die Wahrnehmung, dass Geflüchtete einen besseren Zugang zu Unterstützungsleistungen hätten als die lokale Bevölkerung. Zudem hat unsere Studie gezeigt, dass Geflüchtete in vielen Fällen für das Auftreten und die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich gemacht wurden und xenophoben Anschuldigungen bis hin zu Anfeindungen ausgesetzt waren.

Hannah Edler: Trotz dieser Spannungen sehen wir aber auch, dass sich viele geflüchtete Menschen aktiv für ein 'gutes Miteinander' eingesetzt haben. Die lokale Bevölkerung und Geflüchtete haben zusammengearbeitet und sich gemeinsam für die Unterstützung aller Bevölkerungsgruppen engagiert. Eine Person aus Kenia sagte beispielsweise, dass die Menschen Hand in Hand arbeiten, gegenseitig Informationen teilen und so dazu beitragen, Lösungen für die Krisen zu erarbeiten und Frieden zu schaffen. Dieser Hinweis zu Frieden ist wichtig, denn er zeigt, wie sich geflüchtete Menschen bemühten, Unstimmigkeiten zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften entgegenzuwirken und zu einer friedlichen Umgebung beizutragen.

Konnten Sie zentrale Unterschiede mit Blick auf die Folgen der Pandemie für Geflüchtete in den sechs von Ihnen untersuchten Staaten in West-, Süd- und Ostafrika feststellen?

Franzisca Zanker: Eine pauschale Antwort ist nicht möglich, denn unsere Umfrage ist deskriptiv und nicht repräsentativ. Solche Unterschiede müssten systematisch untersucht werden. Zudem gibt es auch innerhalb eines Landes (z.B. ob im urbanen oder ländlichen Raum) und für verschiedene Gruppen sehr unterschiedliche Auswirkungen der Pandemie. Trotzdem spielen bestimmte Aspekte eine Rolle und beeinflussen die Folgen der Pandemie. Hierzu zählen die Art des Flüchtlingsschutzes und Maßnahmen zu seiner Implementierung, das Ausmaß der Pandemie sowie die generelle soziale Akzeptanz von Geflüchteten. Beispielsweise leben die meisten Geflüchteten in Ostafrika in Lagern oder lagerähnlichen Situationen: Das ermöglichte einerseits den Zugang zu Hilfsgütern, andererseits wurde hier auch ein Rückgang der Hilfen im Zuge der Pandemie verzeichnet. In Westafrika, besonders in Ghana, wurde ein Sprachproblem moniert: Viele Informationen zu Präventionsmaßnahmen wurden nicht auf Französisch übersetzt, obwohl die Mehrheit der geflüchteten Menschen aus französischsprachigen Staaten kommt. In anderen Regionen, wie beispielsweise im südlichen Afrika, treten solche Kommunikationsprobleme seltener auf, da es mehr Überschneidungen der von verschiedenen Communities gesprochenen regionalen Lokalsprachen oder auch der Kolonialsprachen wie Englisch gibt. Auch die Aufnahmebedingungen unterscheiden sich teilweise stark: In Nigeria gibt es eine extrem hohe Anzahl an Binnenvertriebenen (über drei Millionen), von denen viele in Camps wohnen, in denen es wenig Möglichkeiten zur Einhaltung von Abstandsregeln gibt. Im Gegensatz dazu leben die knapp über 20.000 geflüchteten Menschen in Simbabwe in sehr ländlichen Gebieten und können daher eher die Abstandsregelungen einhalten, sind aber andererseits sozial und wirtschaftlich isoliert, weil sie von Jobmöglichkeiten und auch dem Zugang zu Präventionsmaßnahmen, Informationen über die Pandemie oder auch zur Gesundheitsversorgung abgeschnitten sind. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind im südlichen Afrika besonders spürbar: beispielsweise hat Südafrika eine der weltweit höchsten Arbeitslosenquoten. Hier sind die sozialen Spannungen besonders hoch und führen immer wieder zu xenophober Gewalt gegen Geflüchtete und andere Migrant*innen, auch infolge der Pandemie.

Wie sind die betroffenen Menschen mit diesen Auswirkungen der Pandemie umgegangen?

Ulrike Krause: Eine pauschale Antwort lässt sich auch hier nicht finden, weil wir letztlich über Millionen von Menschen sprechen, die zwar mit ähnlichen, aber dennoch vielfältigen Herausforderungen konfrontiert sind. Wie alle Menschen weltweit entwickeln sie individuelle und kollektive Strategien, um mit den Problemen umzugehen.

In unserer Forschung zeigt sich ganz deutlich, dass Geflüchtete selbst eine ganz wichtige Rolle im gegenseitigen Schutz einnehmen. Trotz der vielfältigen Hindernisse und Restriktionen spielen Geflüchtete, und insbesondere ihre Selbstorganisationen, aktive Rollen bei der Pandemiebekämpfung und leisten kollektiv fundamentale Unterstützungsarbeit: Sie klären über die mit COVID-19 verbundenen Risiken wie auch über Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen auf, stellen materielle Ressourcen wie Gesichtsmasken oder Seife her und leisten psychosoziale Unterstützung.

Hannah Edler: Eine Person aus Uganda hat uns zum Beispiel gesagt, dass die Selbstorganisationen von Geflüchteten in Lagern wichtige Aufklärungsarbeit für andere Geflüchtete übernommen haben, nachdem NGOs die Lager verlassen hatten. Die Selbstorganisationen werden von anderen Geflüchteten als besonders vertrauenswürdig wahrgenommen, weil sie sich kontinuierlich in den Gemeinden engagieren und präsent sind. Mitunter sehen wir hier aber auch die Gefahr, dass Verantwortung, die eigentlich dem Staat oder Hilfsorganisationen zukommt, auf die Selbstorganisationen von Geflüchteten übertragen wird, ohne dass diese hinreichende Ressourcen für diese Aufgaben zur Verfügung hätten.

Wurden geflüchtete Menschen bei den staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen angemessen mitgedacht?

Ulrike Krause: Generell stellt nicht nur die Pandemie eine höchst bedrohliche Lage für alle Menschen dar. Auch die Politiken, die eigentlich zum Schutz der Menschen beitragen sollten, haben Probleme hervorgerufen. So war es in Zeiten von Lockdowns deutlich schwieriger, Grenzen zu überqueren und Zuflucht zu suchen. Darüber hinaus können häufig nur Menschen in privilegierten Lebenssituationen "social distancing" einhalten und zur Isolation zuhause bleiben, denn wenn Menschen beispielsweise kein fließendes Wasser haben, müssen Sie das Haus verlassen und Wasser besorgen. Ähnlich gestaltet es sich mit Blick auf sanitäre Anlagen, Nahrungsmittel und weitere Güter. Eine Person aus Kenia hob die Schwierigkeit der sozialen Distanzierung im Alltag hervor und sagte, dass es schlicht nicht möglich sei, diese Maßnahme zu befolgen, da sie gemeinsame Ressourcen wie Trinkwasserstellen, Geschirr usw. nutzen.

Franzisca Zanker: Für mich war eines der überraschendsten Ergebnisse unserer Umfrage, dass Hilfsorganisationen im Zuge der Pandemie vielerorts ihre Gelder und Ressourcen gekürzt haben und abgezogen sind, "weil sie sich um ihre eigene Pandemiebekämpfung kümmern müssen", wie eine befragte Person es ausdrückte. Dieser Befund wurde auch von Sekundärquellen bestätigt. Besonders in den ostafrikanischen Ländern kam dies sehr häufig vor. Da jedoch die meisten Regierungen neben geflüchteten Menschen noch viele weitere vulnerable Bevölkerungsgruppen zu bedenken hatten, wurden Schutzmaßnahmen für vertriebene Menschen im Wesentlichen nur noch von Flüchtlingsschutzorganisationen wie dem UNHCR bereitgestellt. Dies war beispielsweise in Südafrika der Fall. Generell war es in den untersuchten afrikanischen Ländern – übrigens genau wie bei uns in Europa – problematisch, dass viele Maßnahmen, wie Impfungen, Hilfsgelder und Kurzarbeit, an einen bestimmen formellen (Aufenthalts-)Status und Dokumente, wie Ausweise und eine Arbeitserlaubnis, gebunden waren. Und dass, obwohl das Virus natürlich keine (bürokratischen) Grenzen kennt. Diesen Widerspruch adressiert auch der oft benutzte Spruch "Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind" ("no one is safe until everyone is safe"), den man beispielsweise immer wieder vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, gehört hat.

Haben sich die Migrations- und Flüchtlingspolitik oder der staatliche Flüchtlingsschutz in den von Ihnen untersuchten Staaten durch die Pandemie verändert?

Franzisca Zanker: Insgesamt deuten die Ergebnisse unserer Umfrage darauf hin, dass es keine großen Veränderungen des staatlichen Flüchtlingsschutzes aufgrund der Pandemie gab. Ein*e Teilnehmer*in in Ghana sprach zum Beispiel von "business as usual". Im Prinzip spiegelt die Handhabung des Flüchtlingsschutzes in der Pandemie die bisherigen Interessen eines Landes wider. Denn generell ist Flüchtlingsschutz durch politische Interessen der aufnehmenden Staaten geprägt. In Ghana wurde die Situation geflüchteter Menschen zu Beginn der Pandemie im öffentlichen Diskurs nicht groß thematisiert. Das ist dort aber generell der Fall, weil der Flüchtlingsschutz wenig politische Relevanz hat. In Südafrika wurde während des ersten Lockdowns im März 2020 und der Schließung der internationalen Grenzen der Bau eines neuen Zauns an der Landesgrenze zu Simbabwe als Gesundheitsstrategie angepriesen, obwohl es damals in dem Nachbarland nur eine Handvoll Corona-Fälle gab. Darin zeigt sich eine Fortsetzung der sicherheitsorientierten Praxis des Flüchtlingsschutzes in Südafrika. Die kenianische Regierung wiederum drohte mitten in der Pandemie wiederholt damit, die Flüchtlingslager Kakuma und Dadaab zu schließen. Die Ankündigung der Schließung dieser Lager wird im nationalen politischen Diskurs regelmäßig mit dem Hinweis auf die (vermeintlichen) Interessen der kenianischen Bevölkerung legitimiert. Im Gegensatz dazu wurden in Uganda im Juni 2020 die Grenzen geöffnet, um neue Vertriebene aus der Demokratischen Republik Kongo einreisen zu lassen. Diese Öffnung hatte auch positive Konsequenzen: Im Anschluss hat der ugandische Staat neue Gelder der Europäische Union erhalten.

Wie sind lokale und internationale Hilfsorganisationen mit der Pandemie umgegangen und wie hat sich die Unterstützung Geflüchteter während der Pandemie verändert?

Ulrike Krause: Auch Hilfsorganisationen waren natürlich mit staatlichen Pandemiepolitiken und Maßnahmen wie der Schließung von Grenzen oder der Verhängung von Lockdowns konfrontiert und mussten ihre Arbeit binnen kurzer Zeit umstellen. Das hatte schwerwiegende Folgen für Geflüchtete und ihre Unterstützungsleistungen. So war zum Beispiel der Zugang zum Gesundheitswesen, zu Bildung und anderen Dienstleistungen eingeschränkt. Während der Pandemie sahen sich viele humanitäre Organisationen darüber hinaus mit drastischen Budgetkürzungen konfrontiert. Trotzdem bemühten sich die Organisationen, durch Anpassung weiterhin die unmittelbaren Bedürfnisse der Geflüchteten zu befriedigen. Manche Tätigkeiten, wie Beratungen, wurden digitalisiert und online zur Verfügung gestellt. Dadurch wurde der Zugang zu diesen Leistungen jedoch an einen entsprechenden Zugang zum Internet und daher auch an digitale Geräte gebunden. Entwicklungen, wie die zunehmende Digitalisierung, können also teilweise den Zugang von Geflüchteten zu Unterstützungsleistungen einschränken.

Franzisca Zanker: Hinzu kommt, dass global gesehen die Anzahl der Interner Link: Resettlement-Plätze stark zurückgegangen ist, die an sich ein wichtiger Bestandteil des Lösungsangebots von UNHCR für Geflüchtete sind. Folglich haben sich viele persönliche Schicksale verschlimmert, beispielsweise dort, wo Familienmitglieder seit Jahren auf eine Zusammenführung in dritten Ländern warten.

Nadine Segadlo: Insgesamt hat die Pandemie in meinen Augen den Flüchtlingsschutz dahingehend verändert, dass Unterstützungsleistungen und Budgets weiter gekürzt wurden. Davon abgesehen haben sich die Lebensrealitäten von Geflüchteten aus meiner Sicht aber nicht verändert. Die Pandemie hat vieles für die Menschen erschwert und einmal mehr die zentrale Kategorie des Nationalstaates und der Zugehörigkeit zu diesem hervorgekehrt.

Welche drei Gedanken möchten Sie den Leser*innen abschließend zum Thema Geflüchtete und Flüchtlingsschutz im Globalen Süden während der COVID- 19- Pandemie mitgeben?

Ulrike Krause: Erstens: Die COVID-19-Pandemie verstärkt bestehende Herausforderungen, aber geflüchtete Menschen sind nicht passiv. Trotzdem sollten, zweitens, Geflüchtete und ihre Bedarfe dauerhaft in Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung mitgedacht werden.

Franzisca Zanker: Und drittens, sollten pandemiebedingte Anpassungen und Veränderungen im Flüchtlingsschutz nicht zu dauerhaft eingeschränkten bzw. dauerhaft zurückgeschraubten Unterstützungsmaßnahmen führen. Die Pandemie sollte nicht als Ausrede für einen geringeren Flüchtlingsschutz benutzt werden.

Das Interview führte Beeke Wattenberg.

Weitere Inhalte

Über die Interviewpartnerin:
Prof. Dr. Ulrike Krause ist Juniorprofessorin für Flucht- und Flüchtlingsforschung am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück. Sie leitet das Projekt "Frauen, Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern".

Über die Interviewpartnerin:
Nadine Segadlo arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Frauen, Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern" am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.

Über die Interviewpartnerin:
Dr. Franzisca Zanker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Forschungsclusters Flucht und Migration am Arnold-Bergstraesser-Institut an der Universität Freiburg.

Über die Interviewpartnerin:
Hannah Edler arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Frauen, Flucht – und Frieden? Friedensfördernde Praktiken von Frauen in Flüchtlingslagern" am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.