Dokument 2.3 Ein Appell und offener Brief an die sowjetischen Wissenschaftler. Gewidmet der Wiedergeburt der deutschen Nation in der UdSSR, 1982
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Sehr geehrte Wissenschaftler der Sowjetunion!
Wir appellieren an Sie, an die Erben von Laurentius Blumentrost,
Wir bitten Sie, unser Ersuchen für die Einrichtung eines Forschungsinstituts für Geschichte, Ethnographie, Kultur, Sprache und Literatur der Deutschen der UdSSR zu unterstützen. Das betreffende Institut wird dazu dienen, unsere nationale Gleichberechtigung wiederherzustellen und die Freundschaft und das gegenseitige Verständnis zwischen den Völkern unseres Landes zu festigen. Ähnlich wie in den fernen Zeiten von Peter [des Großen], in denen die deutschen Wissenschaftler die Russländische Akademie der Wissenschaften zu gründen verhalfen, so hegen wir die Hoffnung, dass Sie, Wissenschaftler unseres Landes, uns eine helfende Hand bei der Schaffung des Instituts reichen würden. Die Entscheidung über deren Einrichtung wäre ein großer Tag für unser Volk am Vorabend des 60. Jahrestages der UdSSR!
Wir können dazu mitteilen, dass ein Teil der Mittel für die Einrichtung des Instituts sowohl durch Spenden der Deutschen der UdSSR als auch durch Appelle an die aus Russland und der Sowjetunion stammenden Deutschen erworben werden können, die in Westeuropa, den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay, Australien und in anderen Ländern der Welt leben und schon jetzt die deutsche Bevölkerung unseres Landes zahlenmäßig übertreffen. In der Vergangenheit haben sie bei der Entstehung der deutschen Autonomie in der UdSSR tatkräftig mitgeholfen.
Kopien unseres offenen Briefes sind auch an die Nationen, Völkerschaften und ethnischen Gruppen der Russischen [Russländischen] Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik verschickt worden, in deren einträchtigen Völkerfamilie sich bis zum 28. August 1941 die ASSR der Wolgadeutschen befand.
[Verfasser: Konstantin Asmus,
Wjatscheslaw Maier, Christian Ramchen,
Nowosibirsk 1982]
Der Wiedergeburt der deutschen Nation in der UdSSR gewidmet
OFFENER BRIEF AN DIE WISSENSCHAFTLER DER SOWJETUNION
An den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften (AdW) der UdSSR,
Akademiemitglied ALEKSANDROW A. P.
An den Präsidenten der AdW der Kasachischen SSR
An den Präsidenten der AdW der Kirgisischen SSR
An den Vorsitzender der Sibirischen Abteilung der AdW der UdSSR, Akademiemitglied KOPTJUG W. A.
An den Generalsekretär des ZK der KPdSU, den Vorsitzenden des Präsidiums
des Obersten Sowjets der UdSSR, BRESCHNEW L. I.
An den ersten Sekretär des Nowosibirsker Gebietskomitees der KPdSU,
FILATOW A. P.
An den Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Gebiets Nowosibirsk,
FILATOW V. A.
Die deutsche Nation unseres Landes nimmt mit 1 Million 936 Tausend Menschen unter den Völkern der UdSSR den 14. Platz ein. Sie belegt [nach ihrer Größe] den dritten Platz in der Kasachischen SSR, den fünften in der Kirgisischen SSR, und in vielen Gebieten, Rayons und Städten Sibiriens den zweiten-vierten Platz. Aber sie befindet sich immer noch in einer nicht gleichberechtigten Situation. Die Deutschen der UdSSR haben übrigens kein einziges Forschungsinstitut, keine einzige wissenschaftliche Abteilung für das Studium der Sprache, Kultur und Geschichte, während bei den anderen Völkern der UdSSR solche vorhanden sind. Für die 353 Tsd. Burjaten, die in der UdSSR lebten [nach der Volkszählung 1979] wurde zum Beispiel das Burjatische Institut für Gesellschaftswissenschaften gegründet; an der Orientabteilung [beim Präsidium] der AdW der Kirgisischen SSR existiert eine Unterabteilung für Dunganen-Studien (in der UdSSR leben 52 Tsd. Dunganen
Verehrte Genossen, wir weisen noch einmal darauf hin, dass die Deutschen, die im vorrevolutionären Russland jahrhundertelange Erfahrung der Selbstverwaltung hatten und in den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht ihre nationale Staatlichkeit [d.h. eine autonome Republik] bekamen, die die Leibeigenschaft nie kannten, paradoxerweise zu Sonderübersiedlern und Sondersiedlern geworden sind! Und wir, die Söhne des Volkes, das jahrhundertelang in vorbehaltloser Achtung vor Recht [und Gesetz] und vor staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen erzogen wurde, bekamen erst ab 1972 die Berechtigung, im europäischen Teil der UdSSR zu leben.
Zugegebenermaßen verbessert sich momentan [sehr] langsam die Lage der Deutschen in der UdSSR. Nicht zuletzt liegt das an der persönlichen Zivilcourage sowohl der einzelnen Deutschen als auch Personen anderer Nationalitäten, die das Wesen des deutschen Problems in der UdSSR erkennen und ausdrücken konnten. Fortschritte in dieser Hinsicht könnten und sollten jedoch sichtbar werden, deshalb sehen wir uns verpflichtet, nicht nur einzelne Mängel festzustellen, sondern die ganze Wahrheit [über die Lage der Deutschen] zu sagen, um konstruktive Entscheidungen zu treffen.
Den Deutschen wurde der Status eines sowjetischen Volkes noch immer nicht wiederhergestellt. Wir fehlen in den meisten Verzeichnissen der Nationen, Nationalitäten und ethnischen Gruppen, die in der UdSSR leben. Als Beweis dafür kann die fünfbändige Ausgabe "Sprachen der Völker der UdSSR" dienen, herausgegeben zum 50. Jahrestag der Sowjetmacht.
Nach wie vor wird gegen die Deutschen eine sprachlich-kulturelle Diskriminierung praktiziert. Seit 1764, dem Jahr der Ankunft der deutschen Kolonisten in Russland, und bis 1941 erschienen nur in unserem Land [d.h. im Russischen Reich und in der UdSSR] mehr als 1 500 Titel aller Arten von Literatur: Monographien, Studien, Aufsätze und Zeitschriftenartikel auf Russisch und Deutsch. Von 1941 bis 1955 wurde kein einziges Buch und keinen Aufsatz über die Deutschen der UdSSR veröffentlicht. Seit 1956 und bis zum heutigen Tag erschienen vier Bücher zu einigen Teilbereichen der Geschichte der Deutschen in Russland und in der UdSSR. Das sind zwei Bücher über Deutschbalten
[…]
Wenn es vor dem Krieg 38 deutsche Zeitungen gab (allein in Sibirien erschienen drei Zeitungen in deutscher Sprache), so gibt es heute nur noch drei Zeitungen […] 1980 begann das Deutsche Theater [richtig: Dramatheater] in Temir-Tau (60 km von Karaganda) zu arbeiten. Es ist jämmerlich, dass seit mehreren Jahren in keinem Gebietszentrum in der RSFSR, in Kasachstan und Kirgisien einen Platz [d.h. Bühnenhaus] für das deutsche Theater gefunden werden konnte. […] In der UdSSR gibt es außer einem kurzen Filmstreifen über die Neuland-Traktoristin N[atalie] Gellert
[…]
Das Fehlen an zuverlässigen und detaillierten Statistiken macht es unmöglich zu erfahren, wie viele Wissenschaftler, Ingenieure, Studenten unter den Deutschen sind, wie viele deutsche Schulen [d.h. Schulen mit dem Unterricht der Muttersprache einige Stunden in der Woche] existieren. Über die Deutschen der UdSSR werden keine bibliographischen und namentlichen Verzeichnisse oder Nachschlagewerke zusammengestellt. In keiner Bibliothek in den Städten und Rayonszentren, in denen die deutsche Bevölkerung kompakt lebt, gibt es Vorkriegs- und vorrevolutionäre Literatur über die Geschichte und Kultur der Deutschen im Land [d.h. im Russischen Reich und in der UdSSR]. Sogar in Bibliotheken in Moskau, Leningrad, Saratow und Odessa wird der größte Teil dieser Literatur in Sondermagazinen verwahrt, für deren Nutzung besondere Genehmigungen und Zugangsberechtigungen erforderlich sind.
[…]
Über die Geschichte der Deutschen in Russland und in der UdSSR ist seit 1938 kein einziges Buch in deutscher oder russischer Sprache veröffentlicht.
Direkt oder indirekt wird das Ziel verfolgt, aus der Geschichte jeglichen Hinweis auf die Deutschen zu entfernen; zu ihnen wird nichts in historisch-geografischen und landeskundlichen Darstellungen solcher Republiken, Gebiete und Regionen geschrieben, wo sie einst gelebt haben oder jetzt wohnhaft sind. Über mehrere hunderttausend Menschen zählende deutsche Bevölkerung gibt es keine Angaben in der fünfbändigen [akademischen] "Geschichte Sibiriens" (1968-1969), in der "Geschichte der Ukrainischen SSR" (2 Bände 1969), der "Geschichte der Kirgisischen SSR" (2 Bände, 1968).
[…] Die in 22 Bänden vor kurzem erschienene Ausgabe "Sowjetunion" ("Sovetskij Sojuz". Moskau: Mysl, 1967-1972) schenkt den Deutschen nur drei Sätze, die auf der Seite 118 des Bandes "Sowjetunion. Kasachstan" stehen. Wir geben sie vollständig wieder:
Es gibt viele Deutsche im Norden und Süden der Republik sowie im Gebiet Karaganda. Sie tauchten in Kasachstan vorerst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf, aber der größte Teil hat sich hier in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts und während des Vaterländischen Krieges [1941–1945] niedergelassen.
Bisher ist die Heldentat der deutschen Trudarmisten während des Vaterländischen Krieges noch nicht beschrieben worden. Davon, dass auf den Schultern der Deutschen Sibiriens und Kasachstans die Schwierigkeiten der Erschließung der Neu- und brachliegenden Ländereien – lange bevor der unionsweite Appell ausging
[…]
Was könnte man beim Lesen der modernen Prosa über uns, Deutsche der UdSSR, "erfahren"? Der angehende Schriftsteller Juri Geiko hat in seinem spannenden, auf authentische psychologische und Alltagsbeobachtungen aufgebauten Roman "Saiga-Antilope"
Wir haben keine historischen und ethnographischen Museen und keine Abteilungen in den regionalen Museen, die der Geschichte, Kultur und Kunst der Deutschen gewidmet sind. Es werden keine historischen Karten, Alben und Postkarten mit Ansichten von katholischen und protestantischen Kirchen herausgegeben, während die Abbilder von orthodoxen Kathedralen in fast jedem Kiosk "Sojuspetschat" [Verkaufsstand zum Vertrieb v.a. der Periodika u.a. Druckerzeugnisse] erworben werden konnten. Außer an den Wänden einzelner lutherischer und baptistischer Bethäuser in Sibirien und Kasachstan findet man sonst keine Inschriften in deutscher Sprache. Die fehlt auch an Siegeln und Vordrucken in den deutschen Kolchosen und Sowchosen, auf den Aushängetafeln der Institutionen. Selbst wenn über die Deutschen geschrieben wird, wird nicht erwähnt, dass sie Deutsche sind. So wird zum Beispiel im Beitrag [der Journalistin Nadeshda] Prochorowa "Hier bin ich geboren und hier lebe ich" der Held der sozialistischen Arbeit, Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR und Vorsitzender der deutschen Kolchose im Dorf Podsosnowo Friedrich Friedrichowitsch Schneider
Die Deutschen der UdSSR haben keine einzige politische, kulturelle und religiöse Vertretung. Dies führt dazu, dass niemand die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen artikuliert. Sie finden keine Unterstützung in Präsidien des Obersten Sowjets der UdSSR, der RSFSR, der Kasachischen SSR, der Kirgisischen SSR, in Gebietskomitees [der Partei] und in -exekutivkomitees. Dutzende von Delegationen in [dem Zeitraum von] einem Vierteljahrhundert kehrten faktisch mit leeren Händen zurück.
[…]
In der UdSSR gibt es keine deutschen Vereine, Kongresse, Landsmannschaften, Versorgungskassen und andere gesellschaftliche Organisationen. In dem Land, in dem zwei Millionen Menschen zählende deutsche Bevölkerung zu Hause ist, werden keine deutschen nationalen Feiertage begangen, keine Festivals deutscher Volkslieder und keine Karnevalsumzüge durchgeführt. Es finden keine Umfragen und Referenden über nationale Probleme statt. Derartige Forderungen seitens der Vertreter des deutschen Volkes der UdSSR, die der Verfassung der UdSSR und den Prinzipien der Leninschen Nationalitätenpolitik nicht widersprechen, werden als Ausdruck des Nationalismus angesehen und [strikt] unterbunden. Die Bestrebungen der Deutschen, die Autonomie als Voraussetzung der Gleichheit und der nationalen Entwicklung wiederherzustellen, werden seit einem Vierteljahrhundert von dem Präsidium des Obersten Sowjets [der UdSSR] und dem Zentralkomitee der KPdSU nicht unterstützt. Man kommt nicht umhin, sich in diesem Zusammenhang an die Worte von W. I. [Wladimir Iljitsch] Lenin zu erinnern, die er noch im Jahr 1916 sagte: "...dass es Verrat am Sozialismus wäre, auf die Verwirklichung der Selbstbestimmung der Nationen im Sozialismus zu verzichten." (Lenin, Werke, Bd. 22, S. 327).
Die Deutschen sind nicht auf den Ebenen der höchsten Staatsgewalt im Land vertreten. Sie sind nicht unter den Mitgliedern und stellvertretenden Mitgliedern des Zentralkomitees der KPdSU,
[…]
Die Deutschen der UdSSR haben kein Vertrauen in die [eigene] Zukunft, in die Zukunft ihrer Kinder. Die Ukase des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR aus dem Jahr 1964 und 1972 in Bezug auf die Deutschen sind bislang noch nicht in der Öffentlichkeit bekannt gemacht, und die vorherigen, uns verleumdenden Erlasse sind nicht annulliert.
Hoffentlich werden solche Vorurteile in den Köpfen der Menschen und insbesondere in denen der Funktionsträger bald überwunden sein. Man möchte diesen Abschnitt unseres Briefes mit den Worten von L[eonid] I[ljitsch] Breschnews schließen: "Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Probleme im Bereich der nationalen Beziehungen schon gelöst sind. Die Entwicklungsdynamik eines solchen großen multinationalen Staates wie des unsrigen schafft eine Menge Probleme, die eine feinfühlige Aufmerksamkeit von der Partei abverlangen."