Überblick: Die nationalsozialistische Zwangsarbeit
Cord Pagenstecher
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Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs arbeiteten über 13 Millionen zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hielten landwirtschaftliche Versorgung und Rüstungsproduktion aufrecht. Die Industrie profitierte von der Ausweitung der Produktion, deutsche Beschäftigte stiegen in Vorarbeiter-Stellen auf.
Im Zweiten Weltkrieg fehlten der deutschen Kriegswirtschaft in großem Umfang Arbeitskräfte. Daher setzten Staat und Wirtschaft auf den massenhaften Einsatz von ausländischen Arbeitskräften. Alle überfallenen Länder wurden als Arbeitskräftereservoir für Deutschland genutzt. Anfängliche Anwerbungsversuche hatten geringen Erfolg; nach Tschechien und Polen wurden ab 1940 auch aus Westeuropa immer mehr Männer und Frauen – zum Teil in kompletten Jahrgängen – zwangsverpflichtet.
Die große Wende brachte aber das Jahr 1942, als das Deutsche Reich nach dem Scheitern der "Blitzkrieg"-Strategie auf die Kriegswirtschaft des "totalen Kriegs" umstellte. Dies war angesichts der Einberufung fast aller deutschen Männer nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte durchzuführen. Sie bildeten mehr als ein Viertel, in manchen Werksabteilungen bis zu 60 Prozent der Belegschaft. Nur mit ihnen wurde die Versorgung der Bevölkerung und die von Albert Speer als dem zuständigen Minister organisierte Rüstungsproduktion aufrechterhalten. Großunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch Bauern und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit. Die Industrie profitierte von der starken Ausweitung der Produktion, die dadurch erst möglich wurde.
Auf dem Höhepunkt des "Ausländereinsatzes" im August 1944 arbeiteten sechs Millionen zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Deutschen Reich, die meisten davon aus Polen und der Sowjetunion. Über ein Drittel waren Frauen, von denen manche gemeinsam mit ihren Kindern verschleppt wurden oder diese in den Lagern zur Welt brachten. Außerdem mussten 1944 fast zwei Millionen Kriegsgefangene in der deutschen Wirtschaft arbeiten. Immer stärker griff die deutsche Industrie auch auf Konzentrationslager-Häftlinge zu.
Die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter
Die Lebensbedingungen der zwangsweise in Deutschland oder in den besetzten Gebieten für Deutschland arbeitenden Menschen waren je nach Nation, rechtlichem Status und Geschlecht unterschiedlich. Menschen aus der Sowjetunion (im NS-Jargon sogenannte Ostarbeiter) und aus Polen waren durch diskriminierende Sondererlasse der Willkür der Gestapo und anderer polizeilicher Dienststellen wehrlos ausgeliefert. Sie durften ihre Lager oft nur zur Arbeit verlassen und mussten entsprechende Kennzeichen ("OST", "P") auf der Brust tragen.
Gestützt wurde diese rassistische Hierarchie des NS-Regimes durch die innerhalb der deutschen Bevölkerung weit verbreiteten antislawischen Vorurteile, die zu vielen zusätzlichen Beleidigungen, Denunziationen und Misshandlungen führten. Auch die nach dem Kriegsaustritt Italiens im Herbst 1943 als "Militärinternierte" nach Deutschland verschleppten Italiener wurden als angebliche Verräter miserabel behandelt.
Erträglicher, aber dennoch entbehrungsreich und demütigend, war das Leben für westeuropäische oder der "nordischen Rasse" zugerechnete Facharbeiter und Ingenieure. Am schlimmsten war das Schicksal der Konzentrationslager-Häftlinge, vor allem der zur "Vernichtung durch Arbeit" vorgesehenen Jüdinnen, Juden, Sinti und Roma.
Alle ausländischen Arbeitskräfte wurden durch einen rassistisch-bürokratischen Repressions- und Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, Polizei und SS streng überwacht. Sie wurden in zugige Baracken oder in überfüllte Gaststätten und Festsäle eingepfercht. In den Lager- und Betriebskantinen wurden sie nur äußerst unzureichend verpflegt; ohne Lebensmittelmarken konnten sie von ihrem geringen Lohn nichts zu Essen kaufen und litten ständig Hunger. Die wenigen nach der oft zwölfstündigen Arbeitsschicht verbleibenden Stunden Freizeit nutzten sie zunächst, um ihr Überleben zu sichern. Sie versuchten auf dem Schwarzmarkt Brot zu erstehen oder putzten – gegen ein Mittagessen – für eine deutsche Familie. Damit konnten sich auch ärmere Deutsche ein Dienstmädchen oder einen Bauarbeiter ins Haus holen – wortwörtlich für ein Butterbrot.
Den Bombenangriffen waren die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch wehrloser ausgesetzt als die deutsche Bevölkerung, da sie meist keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Viele Frauen litten unter zusätzlichen Schikanen und Gewalttätigkeiten.
Trotz Repression, Denunziation, Orientierungslosigkeit und der verheerenden Lebensbedingungen in der besetzten und ausgeplünderten Heimat versuchten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter immer wieder zu fliehen; auch gab es Ansätze zu Widerstand und Sabotage. Ohne juristische Einspruchsmöglichkeiten und allein schon bei Verdacht auf diese Delikte konnten sie im Extremfall in Konzentrationslager eingewiesen oder gar hingerichtet werden. Im Falle von "Bummelei" oder Arbeitsverweigerung drohten die berüchtigten Arbeitserziehungslager.
Nach der Befreiung
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte Millionen versklavter und todesbedrohter Menschen die Befreiung. Nach ihrer Befreiung machten sich viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf eigene Faust sofort auf den Heimweg; andere lebten als "Displaced Persons" oder "Repatrianten" weiterhin in Lagern und warteten auf ihre Rückkehr oder Ausreise ins westliche Ausland. Für viele, insbesondere sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter war der Leidensweg 1945 noch nicht zu Ende. Sie wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt; nicht wenige verschwanden in den stalinistischen Lagern. Die meisten leiden noch immer und besonders im Alter unter den psychischen und physischen Folgeschäden des "Totaleinsatzes" (so die tschechische Bezeichnung für die NS-Zwangsarbeit). In vielen osteuropäischen Ländern leben sie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften am Rand des Existenzminimums. In Deutschland wurde die NS-Zwangsarbeit – trotz ihrer Verurteilung in den Nürnberger Prozessen – jahrzehntelang als übliche Begleiterscheinung von Krieg und Besatzungsherrschaft bezeichnet und damit zugleich bagatellisiert, nicht aber als spezifisches NS-Unrecht anerkannt.
Die deutschen Regierungen und die von dem Sklaveneinsatz profitierenden Betriebe lehnten lange Zeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jegliche Übernahme von Verantwortung für diese Opfer ab. Erst 65 Jahre nach Kriegsende rief die Entschädigungs-Debatte die lange Zeit vergessenen Opfer der Zwangsarbeit wieder ins Gedächtnis. Überall in Deutschland erforschten lokale Initiativen die Geschichte der Zwangsarbeit, organisierten Begegnungen, sammelten Erinnerungen und errichteten Gedenkstätten.
Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zahlte eine Gesamtsumme von rund 4,7 Mrd. Euro an 1,7 Mio. Überlebende aus. Um die Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit auch in Zukunft zu bewahren, stellt das Interview-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte" 590 Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Internet bereit. Die dazugehörige Online-Lernumgebung "Lernen mit Interviews" stellt beispielhaft sieben Video-Interviews vor.
Lernumgebung "Lernen mit Interviews: Zwangsarbeit 1939-1945", Hintergrundfilm Zwangsarbeit und Entschädigung mit Zusatzmaterialien (Registrierung notwendig)
Historiker, geb. 1965, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin, Bereich Interview-Archive, Online-Archiv "Zwangsarbeit 1939-1945".