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"Wie wir wählen, hat nur noch sehr wenig mit dem Alter zu tun" | Demografischer Wandel | bpb.de

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"Wie wir wählen, hat nur noch sehr wenig mit dem Alter zu tun"

Achim Goerres

/ 6 Minuten zu lesen

Mittlerweile stellen die über 50-Jährigen bei den tatsächlichen Wählern die Mehrheit. Bedeutet das, dass die Älteren immer stärker die Politik bestimmen? Die Vorstellung einer Rentner-Demokratie lehnt der Politologe und Wahlforscher Achim Goerres vehement ab. Obwohl die Bevölkerung immer älter wird, war das Alter noch nie so unwichtig für die Frage, wie wir wählen, sagt Goerres.

Rein zahlenmäßig dominieren ältere Wählerinnen und Wähler zunehmend bei Wahlen und Abstimmungen. Macht das Deutschland zu einer Rentner-Demokratie? (© dpa)

bpb.de: Bei den Wahlberechtigten dominieren zunehmend die Älteren. Das wurde bei der Bundestagswahl 2017 erneut deutlich: Die Generation ab 60 Jahren machte gut 36 Prozent der Wahlberechtigten aus; die unter 30-Jährigen lagen bei knapp 15 Prozent. Finden wir uns bald in einer Rentner-Demokratie wieder?

Achim Goerres, Politikwissenschaftler und Wahlforscher, Universität Duisburg-Essen (© Privat)

Achim Goerres: Das Wort "dominieren" hat schon etwas mit Macht zu tun und damit wäre ich sehr vorsichtig. Ich bin ein harter Gegner dieser Idee der Rentner-Demokratie.

Die Zahlen, die Sie nennen, sind korrekt. Aber die beschreiben erst einmal nur, dass bestimmte Altersgruppen einen konkreten Anteil an der Wählerschaft ausmachen. Wenn man die Ergebnisse mit der Wahlbeteiligung verknüpft, werden diese Zahlen sogar noch eindrucksvoller: 2013 hatten wir bei den tatsächlichen Wählern das erste Mal eine Mehrheit, die älter als 50 Jahre war. 2017 war diese Mehrheit noch größer.

Aber das heißt erst einmal lediglich, dass sich die Altersgruppen innerhalb der Wählerschaft verändern. Das heißt aber noch lange nicht, dass es zu einer politischen Dominanz der Älteren kommt.

Das setzt voraus, dass Altersgruppen nicht homogen wählen und deshalb bevölkerungsstarke Altersgruppen nicht automatisch politisch dominieren. Richtig?

Es gibt keine Homogenität der Altersgruppen beim Wählen. Die Leute unterscheiden sich durch verschiedene Merkmale und Erfahrungshorizonte, wie zum Beispiel Einkommen und Bildung. Nur weil ich mit anderen Menschen im gleichen Alter bin, gehen diese Unterschiede nicht einfach weg – auch nicht im höheren Alter. Das heißt, die Differenzen innerhalb einer Altersgruppe sind deutlich größer als jene zwischen den Altersgruppen.

Generation ab 60 stellt gut ein Drittel der Wahlberechtigten

"Die Generation der 30- bis 59-Jährigen stellte bei der Bundestagswahl 2017 knapp die Hälfte der Wahlberechtigten (48,9 %). Die Generation ab 60 Jahren umfasste mit knapp 22,4 Millionen gut ein Drittel (36,3 %) aller potentiellen Wähler und damit rund doppelt so viele wie die jüngere Generation unter 30 Jahren. Mit 9,2 Millionen machte diese nur knapp ein Sechstel (14,8 %) aller Wahlberechtigten aus. Damit zeigen sich bei der Altersstruktur der Wählerschaft deutlich die Folgen des demografischen Wandels. Bei der Bundestagswahl 1990 hatten die über 60-Jährigen nur 26,8 % der Wahlberechtigten gestellt, die unter 30-Jährigen noch 23,0 %."

Quelle: Bundeswahlleiter, Repräsentative Wahlstatistik zur Bundestagswahl 2017, Januar 2018, S. 2f. : Externer Link: https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/9d64fb87-0d12-478b-88ed-df4b6ad0e2a1/btw17_rws_pk_statement.pdf (Stand: 15.09.2018)

Es gibt aber sogenannte Kohorten-Effekte. Das heißt, dass Menschen, die zu einer bestimmten Zeit geboren und aufgewachsen sind, eine gewisse politische Parteipräferenz teilen, die im Alter bleibt. Dieser Effekt zeigt sich zum Beispiel in West-Deutschland nach der Nachkriegszeit zwischen denen, die das erste Mal unter Adenauer und Erhard wählen durften [CDU/CSU; Anm. d. Red.] und jenen, die das erste Mal unter Brandt und Schmidt [SPD; Anm. d. Red.] wählen durften. Diese politische Prägung haben die unterschiedlichen Altersgruppen im Leben beibehalten und wählten entsprechend stark CDU beziehungsweise SPD. Doch das hat etwas mit den Geburtsjahrgängen zu tun, nichts mit dem chronologischen Alter.

Zudem verschwinden diese Kohorten-Effekte zusehends, denn es gibt immer mehr Wechselwähler. Deshalb haben wir auch innerhalb der Geburtsjahrgänge immer größere Unterschiede bei der politischen Präferenz; Ähnlichkeiten schwinden. Die Vorstellung einer Rentner-Demokratie beinhaltet aber, dass wir uns ähnlicher werden, wenn wir älter werden. Dafür gibt es überhaupt keinen Beleg.

Heißt das, dass es sich für politische Parteien nicht lohnt, Parteiprogramme aufzusetzen, die speziell die Interessen von Älteren bedienen?

Es gibt keine politischen Themen, die nur für Ältere da sind. Selbst das Thema Rente ist kein reines Senioren-Thema. Die Rente hat übergreifend für alle Altersgruppen eine große Bedeutung: für die 70-Jährigen, die 50-Jährigen, die 40-Jährigen und so weiter.

Deshalb ist die Bedeutung der Rentenpolitik für den Wettbewerb zwischen den Parteien äußerst gering. Vielleicht versuchen Parteien sich kurzfristig zu profilieren, indem sie bestimmte Vorschläge zur Rente propagieren. Aber letztlich ist die Gefahr zu groß, bestimmte Leute, auch jüngere, zu vergrätzen.

Wahlprogramme speziell für Ältere bringen also wirklich nicht mehr Wählerinnen und Wähler?

Lassen Sie mich etwas differenzieren. Wir leben in einem institutionellen System der repräsentativen Demokratie, in dem Parteien in Wahlen denken. Das heißt, als Partei denke ich erst einmal nie länger als vier oder fünf Jahre im Voraus. Wenn ich dann noch einen Rest Zweifel habe, ob ich eine Politik mache, die vielleicht gegen die Interessen der 60-Plus gehen könnte, lass ich lieber die Finger davon. Auch wenn die Vorstellung von gemeinsamen Interessen bei den über 60-Jährigen vielleicht gar nicht stimmt.

Daraus ergibt sich eine Art vorauseilender Gehorsam, der ausschaut als hätten die Älteren mit ihrer politischen Macht die Politik so durchgesetzt. Es geht hier um einen Mechanismus, dass die Älteren von den Parteien auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden – als eine Art große, graue Mehrheit. Leider ist dies sehr schwer nachzuweisen, weil Politiker nicht ihre wirklichen Perspektiven auf soziale Gruppen preisgeben.

Blicken wir einmal genauer auf CDU und Grüne. Bei beiden Parteien sieht man durchaus Wahlpräferenzen abhängig von der Altersgruppe. Bei der Bundestagswahl 2017 lag die CDU bei den Wählern zwischen 18 und 24 Jahren bei knapp 20 Prozent; bei den Wählern ab 70 bei gut 36 Prozent. Das Ergebnis der Grünen sah anders aus: In der Altersgruppe 18 bis 24 holten sie gut 14 Prozent der Stimmen, bei den ab 70-Jährigen knapp 4 Prozent. Zugleich wissen wir, dass die Deutschen immer älter werden und die Geburtenrate auf einem relativ niedrigen Niveau liegt. Was bedeutet das für diese Parteien?

Wir müssen auch hier die Kohorten-Effekte einbeziehen. Bei den Grünen ist es so: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der vor 1945 geboren war, die Grünen in ihren Anfängen um 1980 wählte, war quasi null. Danach steigt die Wahrscheinlichkeit mit jedem Geburtsjahrgang an. Schaut man sich die letzten 30 Jahre an, sind die Grünen die großen Gewinner der 60-Plus-Wähler. Denn die Jahrgänge, die erstmals verstärkt Grün wählten, werden älter. Wenn wir in diesem Kohorten-Denken bleiben, dann scheint es, dass die Grünen auch in Zukunft profitieren.

Aber man muss vorsichtig sein, denn die Wechselwählerschaft nimmt eben enorm zu. Das heißt, nur weil eine Partei jetzt bei den Jüngeren ein paar Prozentpunkte mehr abgreift, heißt das nicht, dass sie auch künftig diese Geburtsjahrgänge komplett für sich einnehmen kann.

Und wie sieht es bei CDU/CSU aus?

Da ist es andersrum. Die haben ihre gute Zeit, was das Einfangen der Geburtsjahrgänge angeht, hinter sich. Die Jahrgänge 1915 bis 1945 waren die super CDU/CSU-Geburtsjahrgänge, die enorm stark die CDU/CSU favorisiert haben. Davon konnten CDU/CSU jahrzehntelang profitieren. Aber mit den Jahrgängen ab 1945 nimmt diese klare Präferenz stetig ab. Danach konnte die Union die Erstwähler nicht mehr komplett für sich einnehmen. Deshalb sehen wir zurzeit quasi noch ein Restzucken dieser ehemaligen "Grandeur", dieser politischen Größe, bei den älteren Jahrgängen – und auch da nimmt die Wechselwählerschaft zu.

Man kann das so auf den Punkt bringen: Obwohl wir eine immer älter werdende Demokratie sind, was die Bevölkerung betrifft, hat das Alter noch nie eine so geringe Rolle gespielt bei der Frage, wie wir wählen. Das heißt: Wenn ich in den 1960er-Jahren wusste, wie alt jemand ist, hat mir das noch viel gebracht, um die Wahlpräferenz zu bestimmen. Heute bringt mir das nichts mehr.

Schauen wir noch auf die Wahlbeteiligung. Die lag bei der Bundestagswahl 2017 bei den 18- bis 39-Jährigen unter dem Durchschnitt. Die 40- bis 69-Jährigen beteiligten sich hingegen überdurchschnittlich stark an den Wahlen. Woran liegt das? Warum nutzen die Jüngeren nicht besser ihre Chance an der Wahlurne?

Wir wissen relativ genau, was mit Wählern in jungen Jahren passiert. Da gibt es so praktische Dinge wie Wohnortwechsel. Auch ist man eher damit beschäftigt, eine Familie zu gründen und/oder im Beruf weiterzukommen. Die Jungwähler brauchen etwas Zeit, um den Fokus stärker auf die Politik zu legen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für fast alle Länder.

Aber man darf eine niedrigere Wahlbeteiligung nicht gleichsetzen mit einem sinkenden politischen Interesse. Das ist bei Jugendlichen und jüngeren Menschen immer noch gleich hoch – es hat sich nur verändert. Heute ist es die Arbeit für eine Nichtregierungsorganisation oder die Signatur einer Online-Petition. Wir sehen hier ein viel breiteres Verständnis von Politik.

Das Interview führte Sonja Ernst.

Bundestagswahl 2017: Unterschiede bei der Stimmabgabe nach Alter

"Die CDU war [bei der Bundestagswahl 2017] durchweg in allen Altersgruppen die stärkste Partei. Verhältnismäßig knapp war ihr Vorsprung vor der SPD nur bei den jüngsten Wählern zwischen 18 und 24 Jahren. Hier erreichte sie mit 19,9 % ihr schlechtestes Ergebnis. In allen weiteren Altersgruppen bis 69 Jahre schwankte der Stimmenanteil der CDU zwischen 21,4 % und 27,2 %. Bei den Wählern ab 70 Jahren – diese Altersgruppe konnte in der repräsentativen Wahlstatistik bei dieser Bundestagswahl erst zum zweiten Mal ausgewertet werden – stieg er sprunghaft auf 36,5 % an.

Die CSU schnitt wie ihre Schwesterpartei besonders gut bei älteren Wählern ab. So erreichte sie bundesweit bei den ab 70-Jährigen 8,1 %.

Die SPD erzielte bei der Bundestagswahl 2017 mit 25,2 % ihren höchsten Stimmenanteil ebenfalls bei den Wählern ab 70 Jahren. Bei den 35- bis 44-jährigen Wählern hatte sie mit 15,6 % ihren geringsten Zweitstimmenanteil.

Die AfD, die insgesamt die größten Gewinne zu verzeichnen hatte, konnte bei den 25- bis 69-Jährigen ein relativ konstantes Wählerpotential von 12,8 bis 15,4 % für sich erschließen. Deutlich weniger erfolgreich war sie sowohl bei der jüngsten Generation (8,0 %) als auch bei den ältesten Wählern (8,3 %).

Die FDP zeigte prozentual die geringsten Schwankungen in den einzelnen Altersgruppen. Den höchsten Stimmenanteil erreichte sie in der jüngsten Altersgruppe (13,2 %). DIE LINKE erzielte ihren höchsten Stimmenanteil bei den 25- bis 34-Jährigen mit 10,9 %. Auch bei ihr wiesen die Stimmenanteile zwischen den einzelnen Altersgruppen nur relativ geringe Schwankungen auf. Die GRÜNEN er- reichten bei der Bundestagswahl 2017 in allen Altersgruppen bis 59 Jahren zweistellige Stimmenanteile. Am erfolgreichsten waren sie mit 14,6 % bei den Jung- und Erstwählern unter 25 Jahren. Bei den über 60-Jährigen erreichten sie hingegen deutlich schlechtere Ergebnisse, bei den ab 70-Jährigen sogar nur 3,8 %. Die sonstigen Parteien schnitten bei der jüngsten Generation mit 10,4 % deutlich am besten ab."

Quelle: Bundeswahlleiter, Repräsentative Wahlstatistik zur Bundestagswahl 2017, Januar 2018, S. 5f.: Externer Link: https://www.bundeswahlleiter.de/dam/jcr/9d64fb87-0d12-478b-88ed-df4b6ad0e2a1/btw17_rws_pk_statement.pdf (Stand: 15.09.2018)

Prof. Dr. Achim Goerres ist Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft. Zu seinem Forschungsgebiet gehört die politikwissenschaftliche Umfrageforschung mit den Schwerpunkten Wahlen, Einstellungen zu Sozialpolitik, Immigration und Alterung.