Die „Wirtschaft“ führt in der Anschauung der meisten Menschen eine Art Doppelleben. Einerseits kennt jede*r sie aus dem eigenen Alltag und unmittelbaren Erleben: Man geht arbeiten, verdient Geld und zahlt Steuern, man legt Geld an oder gibt es beim Einkaufen aus. Das ist zum Teil kompliziert genug. Aber dann gibt es auch noch die „große“ Wirtschaft: Konjunkturverläufe, Handelsbilanzen, Armut, Arbeitslosen- und Steuerquoten. Zusammen kommen beide Sphären beispielsweise in Zeiten hoher Inflation, wenn im Supermarkt alles viel teurer wird und gleichzeitig die Expert*innen in Talkshows über die gesamtwirtschaftlichen Ursachen streiten – von Zinsen über Staatsausgaben bis zu Lohnsteigerungen oder „Übergewinnen“ der Unternehmen. Dann wird es noch komplizierter.
Anders als bei anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen verspüren im Falle der Wirtschaft viele Menschen einen höheren Druck, sich auskennen zu müssen. Gleichzeitig besteht oft eine gewisse Scheu: Wirtschaft, das ist kompliziert, auch ein bisschen langweilig, auf jeden Fall etwas für Experten. Die Wirtschaft hat Autorität, sie fordert Respekt. Das liegt zum einen daran, dass sie für uns alle so wichtig ist und unser Leben von ihr abhängt. Zum anderen werden der näheren Befassung mit ökonomischen Phänomenen einige Hürden in den Weg gelegt – sie werden als etwas Geheimnisvolles dargestellt, als etwas kaum zu Durchschauendes, das in Krisenzeiten sogar die Menschen bedroht und von ihnen Anpassung fordert. Hier ist Aufklärung nötig.
Wirtschaft ist wichtig
„Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts“, zugeschrieben wird dieser Satz Ludwig Erhard, dem ehemaligen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler der jungen Bundesrepublik, der als Vater des „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet wird. Der Satz spiegelt noch heute gut die Bedeutung wider, die der Ökonomie zugeschrieben wird: Zunächst wird diese Bedeutung relativiert („ist nicht alles“). Gleichzeitig aber wird die Wirtschaft als notwendige Bedingung für alles gesetzt („ohne sie ist alles nichts“), weswegen bis heute sämtliche politischen Maßnahmen darauf abgeklopft werden, wie sie auf die Ökonomie wirken: Nützt ihr Migration oder schadet sie ihr? Ist das Bildungssystem auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnitten? Wie reagiert sie auf Wahlergebnisse? Fällt der Sozialstaat der Wirtschaft zur Last? Braucht die Wirtschaft mehr Geschlechtergerechtigkeit, mehr Kinder, weniger Bürokratie und überhaupt mehr Optimismus?
Der Rang der Wirtschaft spiegelt sich auch im Wort „Konjunktur“ wider. In den Alltag eingewandert ist der Begriff aus dem Bereich der Astrologie, wo das lateinische „coniunctio“ die Verbindung der Gestirne benannte. Diese Bedeutung verallgemeinerte sich im Zeitverlauf zu „Lage der Dinge“, sodass alles seine Konjunkturen haben konnte. Heute dagegen gibt es nur noch „die“ Konjunktur, die das Wohlergehen der Wirtschaft bezeichnet, also ihr Auf und Ab. Und vom „Auf“ hängt alles ab, sodass man heute sagen würde: Ohne Wachstum ist alles nichts. „Eine der wenigen Dinge, auf die sich Politiker*innen einigen können, ist, dass wir mehr Wachstum brauchen“, sagte der britische Wissenschaftler Daniel Susskind. „Unser kollektiver Erfolg wird bestimmt durch die Menge an Gütern, die wir in einem gegebenen Zeitraum produzieren können.“ Eine Wirtschaft, die nicht wächst, stagniert, tritt auf der Stelle. Sie gilt als tot.
Schicksal und Aufgabe
Die Autorität des Themas „Wirtschaft“ resultiert also zum einen aus der Bedeutung des Ökonomischen in unserem Leben. Zum anderen tut die Berichterstattung das ihre dazu, dass „Wirtschaft“ als etwas Übermächtiges, kaum zu Durchdringendes wahrgenommen wird. Eine Rolle spielen hier Metaphern, also Sprachbilder, mit denen wirtschaftliche Phänomene dem Publikum erklärt werden. Besonders beliebt sind Metaphern aus der Natur. Da zeigen sich „dunkle Wolken am Konjunkturhimmel“, ein „Sturm zieht auf“, ein „Tsunami“ droht. Dann wieder ist die Wirtschaft „in der Flaute“, wir müssen auf den „Konjunkturfrühling“ warten, damit die „Ertragsquellen“ wieder kräftig sprudeln. Aus der Natur entlehnt sind auch Bilder der Wirtschaft als Körper, der „im Koma liegt“, den Bürokratie „lähmt“, der unter „Schwäche“ leidet und daher eine „Rosskur“ benötigt.
Diese Metaphern liefern die Botschaft: Wir sind der Wirtschaft ausgeliefert, sie ist letztlich unkontrollierbar, man kann bestenfalls auf sie reagieren und sich ihr fügen. Dem Bild der Wirtschaft als Naturgewalt oder unzähmbares Tier zur Seite gestellt wird das Gegenteil: das Bild der Wirtschaft als einer Maschine, die zwar sehr kompliziert, aber doch beherrschbar ist. Bereits der französische Ökonom Francois Quesnay (1694-1774) sprach von einer „machine économique“ und der britische Ökonom William Stanley Jevons (1835-1882) von den „mechanics of utility and self-interest“, also von der Mechanik der Nützlichkeit und des Eigeninteresses. Das Konzept der Wirtschaft als Automat wird heutzutage transportiert durch das allgegenwärtige Bild des ökonomischen „Gleichgewichts“, aber auch durch Auto-Metaphern: Erst „stottert der Konjunkturmotor“, dann läuft er wieder rund, die „Talfahrt“ endet, weil die Politik die „Bremsen gelöst“ hat. Alternativ wird die Wirtschaft als Bauwerk beschrieben, dessen „Fundament bröckelt“, weil die „Grundpfeiler des deutschen Geschäftsmodells Risse bekommen hat“.
Präsentiert wird dem Publikum also eine zuweilen verwirrende Darstellung der ökonomischen Vorgänge: einerseits als Naturgewalt oder Lebewesen mit eigenem Willen; andererseits als komplizierter Apparat, den man theoretisch beherrschen und steuern kann. Politik und Expert*innen sind damit immer gleichzeitig unschuldig am Geschehen – gegen Natur kann man nichts machen – und zuständig für die Wirtschaft, schließlich ist sie steuerbar (solange keine „Kernschmelze“ des Finanzsektors eintritt).
In dieser Deutung der Vorgänge bleibt dem wahlweise der Naturgewalt oder der vorwärts stampfenden Maschine „Wirtschaft“ ausgelieferten Publikum nichts anderes übrig, als das Beste zu hoffen und sein Vertrauen in die Expert*innen zu setzen, die ihm sagen, was geschieht und zu tun ist. Denn die Expert*innen wissen um die Gesetze dieses ebenso machtvollen wie zerbrechlichen Gebildes „Wirtschaft“, an ihren Einschätzungen kommt kein Politiker vorbei und die Bevölkerung sowieso nicht. Wobei erschwerend hinzukommt – auch das behindert das Verständnis ökonomischer Phänomene –, dass sich die Expert*innen allzu oft uneins sind: Braucht es jetzt höhere Löhne, um mehr Nachfrage zu schaffen? Oder braucht es geringere Löhne, um die Unternehmen zu entlasten? Sind viele Menschen arm, weil der Markt zu stark reguliert ist? Oder zu schwach? „Zwei Ökonom*innen, drei Meinungen“ ist ein bekannter Spruch.
Keine Angst vor der Wirtschaft
Für Laien ist all dies jedoch kein Grund zu verzweifeln oder blind den Expert*innen zu vertrauen. Ökonomie ist immer noch eine Gesellschaftswissenschaft und das bedeutet: Sie handelt nicht von Stürmen oder selbsttätigen Automaten, sondern von den Verhältnissen der Menschen untereinander. Klar, die Marktwirtschaft ist kompliziert, aber nicht undurchschaubar. Sie ist weder ein Schicksal noch eine Naturgewalt. Und sie ist kein Labyrinth, durch das wir wie Laborratten gejagt werden.
Tatsächlich haben Menschen dieses System konstruiert. Wirtschaft ist ein soziales Konstrukt, von Menschen gemacht, von Menschen betrieben und daher verstehbar und veränderbar. Allzu oft wird so getan, als müssten die Menschen die Bedürfnisse der Wirtschaft bedienen – durch Arbeit, Qualifikation, Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit oder sonstige Tugenden. Tatsächlich aber sollte es umgekehrt sein: Die Wirtschaft ist für die Menschen und ihr Wohlergehen da. Sie ist nichts Exotisches oder Fremdes, sondern das Ergebnis von sozialen Regelungen. Wirtschaft ist das, was die Menschen daraus für sich machen. Dafür muss man sie verstehen. Das geht, wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt.