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Wohlstand – was ist das eigentlich? | Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Wohlstand – was ist das eigentlich?

Sebastian Thieme

/ 6 Minuten zu lesen

Die Mehrung des Wohlstands gilt als Ziel des Wirtschaftens. Ökonomen sehen den deutschen Wohlstand als bedroht an, Politikerinnen versprechen, ihn zu schützen. Aber was ist Wohlstand überhaupt?

Luis Meléndez, The Afternoon Meal (La Merienda), Öl auf Leinwand, ca. 1772. (© Public Domain)

Dem allgemeinen Verständnis nach ist Wohlstand ein Maß für wirtschaftliche Sicherheit und steht für einen hohen Lebensstandard. Im Gegensatz zu dieser ersten allgemeinen Vorstellung zeigt eine nähere Beschäftigung mit diesem ökonomischen Begriff, dass gleich mehrere Verständnisse von Wohlstand im Gebrauch sind. Was wird also unter „Wohlstand“ verstanden? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die öffentliche, politische und akademische Auseinandersetzung mit Wohlstand?

Was ist Wohlstand?

„Wohlstand“ oder – das Synonym – „Wohlfahrt“ sind nicht nur alltägliche Begriffe, sondern gehören auch zum Standard-Repertoire ökonomischer Lehrbücher. Jedoch werden diese Begriffe in diesen Lehrbüchern praktisch nicht definiert. Stattdessen existiert dort ein Nebeneinander verschiedener Verständnisse von Wohlstand.

1.

Nachbau des Ischtar-Tors im Berliner Pergamonmuseum (Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv / Dieter Breitenborn) Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

Mit quantitativem Wohlstand oder Güterwohlstand geht eine Vorstellung von Wohlstand einher, die ihn mit jenen Gütern und Dienstleistungen identifiziert, die in einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum produziert wurden. Diese Waren und Dienste werden physisch gezählt oder dann in Geldeinheiten bewertet. In der Forschung zur Geschichte des ökonomischen Denkens gilt das Tor von Ischtar aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus als ein erstes Zeugnis einer solchen quantitativen Vorstellung – auf ihm fanden sich Angaben zur jährlichen Getreideernte und dem dazugehörigen Aufwand verewigt. Als prominentes und heute noch dominantes Wohlstandsmaß gilt das Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Wert aller Waren und Dienstleistungen abbildet, die in einer Volkswirtschaft produziert werden.

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Neoquantitativer Wohlstand und Glück: Am BIP als Wohlstandsmaß wird kritisiert, dass Wohlstand doch mehr sei als die in Geldeinheiten bewertete Zahl an Waren und Diensten in einer Volkswirtschaft. Besonders die wohlstandsrelevante Bedeutung unbezahlter Sorgearbeit (Care) – dazu gehört unter anderem die Erziehung von Kindern, Pflege von Angehörigen, Essenszubereitung – werde im BIP ignoriert. Naturressourcen – also zum Beispiel saubere Luft und sauberes Wasser, Wald, Artenvielfalt – werden im BIP nicht erfasst, demnach auch nicht ihr Verbrauch oder ihre Zerstörung. Aus diesen und anderen Kritikpunkten gingen alternative Wohlfahrtsmaße hervor, die Aspekte wie Gesundheit, Lebensdauer, Bildungsstand, Freizeit oder Natur als wohlstandsrelevant erachten. Auch diese Aspekte werden quantifiziert, also in Zahlen erfasst, um dann in die Wohlstandsbetrachtung integriert zu werden. Prominente Beispiele sind derExterner Link: Human-Development-Index (HDI) der Interner Link: Vereinten Nationen oder der Better-Life-Index (BLI) der Interner Link: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Es gibt sogar eine Glücksforschung, die Wohlstand im Sinne von Glück versteht, das dann in einzelne Schlüsselindikatoren zerlegt, gemessen und in einer Glücksformel arrangiert wird. Deshalb sind diese Versuche auch zu den neoquantitativen Vorstellungen von Wohlstand zu zählen.

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Einem dritten Verständnis zufolge ist Wohlstand vor allem marktwirtschaftlicher Nutzen. Dieser Nutzen ist dann erreicht, wenn möglichst viele Menschen die Güter bekommen können, die sie sich wünschen. Der Wohlstand der ganzen Gesellschaft ergibt sich hier aus der „Aggregation“ – der Zusammenfassung – des individuellen Wohlstands. Das Problem dabei: die Nutzen-Wohlstands-Perspektive bleibt abstrakt und auf ideelle Marktmodelle sowie Formeln (Wohlstandsfunktionen) beschränkt. In diesen Marktmodellen wird Wohlstand vor allem durch die sogenannten Selbstregulierungskräfte des Marktes erzeugt. Von ganz bestimmten Fällen abgesehen (Marktversagen) wird davon ausgegangen, dass Eingriffe in den Markt wie zum Beispiel ein Mietpreisdeckel oder der Mindestlohn tendenziell zu Wohlfahrtsverlusten führen.

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Wohlstand wird in ökonomischen Lehrbüchern auch im Sinne wohlfahrtspolitischer Maßnahmen thematisiert: Er bezieht sich dann auf soziale Sicherheit, auf die Existenzsicherung (durch Sozialtransfers wie das Bürgergeld), den Zugang zum Gesundheitssystem (Krankenversicherung) und Umverteilungsmaßnahmen (Steuern und Abgaben). Dieses Verständnis von Wohlstand unterscheidet sich deutlich vom Wohlstand als BIP und vom abstrakten Nutzen-Wohlstand.

Auch die kritische Auseinandersetzung mit Wohlstandsfragen liefert Vorstellungen über Wohlstand, ohne aber bereits ausgefeilte Konzepte liefern zu müssen. Es sind eher Versatzstücke, die ein materiell geprägtes Verständnis von Wohlstand ergänzen und problematisieren. Dazu gehören die Hinweise aus der Feministischen Ökonomik und der Care Economics auf die Relevanz unbezahlter Sorgearbeit, einschließlich Statistiken zur Externer Link: Zeitverwendung, die aufschlüsseln, wie viel Zeit für welche Tätigkeiten im Haushalt aufgebracht wird. Dazu zählen aber auch kritische Fragen zum ökonomischen Wachstum, wie sie in der Debatte um DeGrowth oder Postwachstum aufgeworfen werden, zum Beispiel inwiefern ökonomisches Wachstum den Wohlstand gefährdet (etwa durch die Zerstörung der Natur) und ob sich Wohlstand von Wachstum entkoppeln lässt.

Es existieren auch alternative ökonomische Konzepte wie die sozial-ökologische Perspektive, die Wohlstand als Ergebnis unterschiedlicher Wirtschaftssphären (Markt, Haushalt, Non-Profit-Sektor usw.) sowie als prozesshaft, offen und in planetare Grenzen eingebettet verstehen: Das, was unter Wohlstand verstanden sein soll, hängt von natürlichen Bedingungen ab und ist demokratisch zu bestimmen. Wohlstand steht damit unter einem ethischen Legitimationsvorbehalt. Allerdings sind solche Konzepte eher in den Randbereichen der Ökonomik – in der Externer Link: Pluralen Ökonomik (oder heterodoxen Ökonomik) – zu finden.

Schwierigkeiten und Ausblick

Die Existenz mehrerer Verständnisse von Wohlstand lässt dann Schwierigkeiten auftreten, wenn sie – wie in ökonomischen Lehrbüchern – unvermittelt nebeneinanderstehen, anstatt voneinander abgegrenzt und in Beziehung gesetzt zu werden. Ferner wird in ökonomischen Lehrbüchern zwar oft die Kritik am BIP als Wohlfahrtsmaß aufgegriffen. Im weiteren Fortgang dieser Bücher taucht dann aber wieder wie zuvor das BIP als Wohlfahrtsmaß auf.

Eine besondere Herausforderung resultiert aus der Angewohnheit, Wohlstand in den Debatten um den Wohlfahrtsstaat auf soziale Sicherung – etwa den Regelsatz im Bürgergeld – zu reduzieren. Dabei lässt sich eine solche Lebenssituation am Existenzminimum nicht ernsthaft als Leben im Wohlstand bezeichnen. Die damit angesprochenen sozialen Sicherungssysteme versuchen eher, die Voraussetzungen für Wohlstand zu sichern, nicht unbedingt den Wohlstand selbst.

Tiefgreifend sind die Herausforderungen, die sich aus dem Selbstverständnis der modernen Ökonomik ergeben: Die moderne Ökonomik gilt als nur den empirischen Fakten verschrieben, mathematisch-formal und ‚wertneutral‘, weshalb dort bewusst von der Bearbeitung ethischer Fragen abgesehen wird. Deshalb gestaltet es sich für die moderne Ökonomik schwierig, Fragen zu beantworten wie etwa: was Wohlstand eigentlich ist, welches Verständnis von Wohlstand – aus welchen Gründen heraus – gewählt werden soll und wie sich diese Wahl ethisch rechtfertigt. Bei neoquantitativen Perspektiven schlägt es sich in Fragen nieder wie etwa, welche Variablen in alternative Wohlstands-Indizes aufgenommen und (wie) gewichtet werden sollen und wer darüber mit welcher ethischen Rechtfertigung befindet. Die Auseinandersetzung mit Wohlstand ist außerdem in Narrative – in Erzählungen – eingebettet, die bestimmte Werte und Werturteile vermitteln. Das betrifft vor allem jene Narrative in der modernen Ökonomik, in denen Wohlstand stillschweigend vom ökonomischen Wachstum abhängt oder auf marktwirtschaftlichen Wohlstand reduziert ist. Doch die ethische Perspektive stößt bei vielen Ökonominnen und Ökonomen auf Unverständnis, denn in der modernen Ökonomik ist Ethik eben keine Kategorie des Wirtschaftens.

„Wohlstand“ ist also ein vielschichtiger Begriff, zu dem vor allem in den ökonomischen Fachdebatten verschiedene Vorstellungen existieren. Trotz der unterschiedlichen Verständnisse scheinen die fachlichen und öffentlichen Diskussionen aber vor allem von einem Verständnis dominiert zu werden, das Wohlstand in Zahlen (Quantitäten) denkt: Nach wie vor – und trotz aller Kritik – ist das BIP als vorherrschender Maßstab für Wohlstand im Gebrauch, und Alternativen werden überwiegend in neoquantitativen Wohlstandsperspektiven gesucht. Zwar lässt sich argumentieren, dass ein Verständnis von Wohlstand ohne die Berücksichtigung ethischer Momente unvollständig und vor allem konfliktbeladen bleibt, weil viele Aspekte des Wohlstands – nicht zuletzt: was Wohlstand ist – ethische Fragen sind. Gleichzeitig ist kaum davon auszugehen, dass sich die Fachdebatten der ethischen Dimension des Wirtschaftens in nächster Zeit annehmen werden. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die neoquantitativen Verständnisse von Wohlstand – ob als Human Development Index oder des Better Life Index oder in Form von Wohlstandsberichten – weiter etablieren und dann irgendwann gleichberechtigt neben dem immer noch ungebrochen populären BIP als Wohlfahrtsmaß stehen.

Weitere Inhalte

Sebastian Thieme ist Wirtschaftsethiker und Wissenschaftlicher Referent zum Thema "Wohlstand neu definieren" an der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien.