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Die mächtigste Zahl der Welt – was taugt das Bruttoinlandsprodukt? | Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Die mächtigste Zahl der Welt – was taugt das Bruttoinlandsprodukt?

Philipp Lepenies

/ 7 Minuten zu lesen

Das Bruttoinlandsprodukt gilt als Maß der Wirtschaftsleistung. Um seine Steigerung – das Wirtschaftswachstum – dreht sich alles. Allerdings ist ein hohes BIP nicht gleichbedeutend mit gutem Leben.

Ausstellungsbesucher betrachtet die Fotografie "99 Cent" des deutschen Fotografen Andreas Gursky. (© picture-alliance/dpa, Franck Robichon)

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ein statistisches Maß der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft eines Landes. In seiner einfachsten Definition erfasst das BIP den Wert der im Inland erwirtschafteten Leistung einer bestimmten Periode – zumeist eines Jahres oder eines Vierteljahres. Für das BIP relevant ist nur der Wert der hergestellten Güter und angebotenen Dienstleistungen, also ein Geldbetrag, der Preis. Die Menge oder Stückzahlen produzierter Güter oder durchgeführter Dienstleistungen ist dabei unwichtig. Für das BIP relevant ist nicht, wie viele Kühlschränke in einem Jahr gebaut oder wie viele Edgar-Cuts in Barbershops auf deutschem Boden geschnitten wurden, sondern die addierten Preise aller produzierten Güter und geleisteten Dienstleistungen – eben der Wert der Produktion. Das BIP ist ein einziger Geldbetrag. Es ist eine Zahl, ausgedrückt in Euro.

Rechnerisch ist das BIP kein Produkt, sondern eine Summe. Konzeptionell ist das BIP aber deswegen ein Produkt, weil es den Wert der Produktion erfasst – so, als würde man alle Produkte und Dienstleistungen eines Landes zu einem einzigen Produkt zusammenfassen, dass einen einzigen Preis hat. Deswegen auch die Bezeichnung Bruttoinlandsprodukt im Singular. Genau genommen werden im BIP nicht einfach alle Preise zusammengerechnet, sondern nur die jeweilige Wertschöpfung. Das bedeutet: Bei einem in Deutschland hergestellten Automobil geht nicht der Kaufpreis in das BIP ein, den der Endkunde für sein neues Gefährt beim Autohändler zahlt. Vom Kaufpreis werden erst die Werte aller Vorleistungen abgezogen, die der Autobauer von anderen Herstellern, beispielsweise den Zulieferbetrieben, vorher einkaufen musste, um das Auto herzustellen: also zum Beispiel die Sitze. Würde man das nicht so machen, würde es zu Doppelzählungen kommen – die Sitze beispielsweise wären einmal im Produktionswert des Autobauers enthalten und das zweite Mal im Produktionswert des Sitz-Lieferanten.

Nicht erfasst in der BIP-Berechnung wird der Kapitalverschleiß, also der Wertverlust aus der Abnutzung von Maschinen, die wir im Produktionsprozess immer haben und die Unternehmen üblicherweise als Abschreibungen ausweisen. Das versteckt sich hinter dem Wort „brutto“ in Bruttoinlandsprodukt. Das BIP ist darüber hinaus auf dem Inlandskonzept aufgebaut. In das BIP geht der Wert aller im Inland produzierter Waren und Dienstleistungen ein, also alles, was auf deutschem Boden produziert wurde. Mit dem BIP will man alles einfangen, was in Deutschland produziert wurde. Dabei werden dann auch die in Deutschland hergestellten Produkte eines Unternehmens in amerikanischem oder chinesischem Besitz mitgezählt, oder die Arbeitsleistung, die ein Pendler aus Frankreich in Deutschland erbringt.

Das unterscheidet das Bruttoinlandsprodukt vom bis in die 1990er Jahre dominierenden Bruttosozialprodukt (BSP). Das BSP beruht nicht auf dem Inlands-, sondern dem Inländerprinzip. Es erfasst, vereinfacht ausgedrückt, alle Güter und Dienstleistungen, die von Menschen mit permanentem Wohnsitz in Deutschland hergestellt werden, egal, wo das passiert. In das deutsche BSP ginge also der Wert der in Mexiko hergestellten Volkswagenautomobile ein, oder das, was ein deutscher Pendler aus Lörrach im schweizerischen Basel an Dienstleistungen anbietet. Der Wert der von Tesla in Grünheide hergestellten Elektroautos würde im deutschen Bruttosozialprodukt nicht erfasst werden, im Bruttoinlandsprodukt aber schon. Die Notwendigkeit, das BSP auf das BIP umzustellen, ergab sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Im Zuge der Globalisierung operierten im Inland immer mehr Unternehmen, deren Eigentümer aus anderen Staaten kamen. Mit dem Bruttoinlandsprodukt trägt man der Tatsache Rechnung, dass die Wirtschaft globalisiert und verflochten ist, man aber genau errechnen will, wie viel Wertschöpfung in einem Land erbracht wird, egal, wem die Firma gehört.

Das BIP und sein Wachstum

Von Bedeutung ist gar nicht so sehr die absolute Zahl des Bruttoinlandsprodukts, sondern seine prozentuale Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Diese Zahl, ausgedrückt in Prozent, ist das Wirtschaftswachstum. Bei der Ermittlung des Wachstums wird die Inflation herausgerechnet. Ein Produkt kann allerdings teurer werden, weil sich die Qualität des Gutes verbessert hat. Das würde das BIP erhöhen.

Das Wachstum des BIP ist nicht nur ein Zeichen dafür, dass die Produktion gestiegen ist. Mit positivem Wachstum verbunden ist die Vorstellung, dass es dem Land und seiner Bevölkerung grundsätzlich besser geht. Das BIP deckt in diesem Verständnis nicht nur den Wert der Güter und Dienstleistungen ab, sondern fungiert als allgemeiner Wohlfahrtsindikator.

Was das BIP nicht zeigt

Wenn man in der BIP-Berechnung nur Preise zusammenrechnet, werden nur Güter mit einbezogen, die auch einen Preis haben, also am Markt angeboten werden. Damit werden aber wirtschaftliche Aktivitäten nicht erfasst, die nicht am Markt gehandelt werden. Beauftragt man eine Reinigungsfirma, dann geht ihre Leistung (also der an sie gezahlte Betrag) als Dienstleistung in die Berechnung des BIP mit ein. Putzt man hingegen seine Wohnung selbst, wird das im BIP nicht berechnet. Das BIP weist also unbezahlte Hausarbeit, Familienbetreuung oder private Pflege, die sogenannte und noch vorrangig von Frauen durchgeführte Sorge-Arbeit, statistisch nicht aus.

Das BIP kann daher kein Abbild der gesamten wirtschaftlichen Aktivität eines Landes geben (weil ein nicht unerheblicher Teil wirtschaftlicher Tätigkeit nicht am Markt gehandelt wird). Es unterscheidet nicht zwischen moralisch guter und weniger guter Produktion und kann auch nicht in Betracht ziehen, dass vielleicht mehr Güter und Dienstleistungen nur deswegen angeboten werden (wie im Fall des Wiederaufbaus), weil zunächst Elend, Tod und Zerstörung über die Menschen einer Region gekommen ist. Das BIP kann auch nicht erfassen, ob mit der Produktion ein irreversibler Verlust von Biodiversität oder andere Formen der Umweltzerstörung einhergeht. Der Bau eines Staudammes geht in das BIP mit ein, ebenso wie das vielleicht damit verbundene Abholzen tausender Hektar Wald oder das Umsiedeln von Menschen und Dörfern. Mit einer CO2-Abgabe kann die Umweltverschmutzung in den Preisen abgebildet sein, aber negative Umweltwirkungen des Produktionsprozesses bleiben dennoch größtenteils unberücksichtigt.

Die Vorteile des BIP

Das BIP ist ein Kind des Zweiten Weltkrieges. Es wurde in den Vereinigten Staaten zu einem Zeitpunkt entwickelt, an dem die US-Regierung durch den Eintritt in den Krieg und die Transformation einer Friedens- in eine Kriegswirtschaft nach einer recht einfachen Kennzahl suchte, die zeigte, dass man die Produktionsziele der Rüstungsindustrie erreichte. Die Einfachheit und Klarheit des BIP ist nicht zu unterschätzen. Eine Addition ist ein für alle nachzuvollziehender mathematischer Vorgang. Die Nutzung von Preisen ist transparent. Einen Wert in Geldeinheiten kann man intuitiv besser verstehen als beispielsweise einen Index, der einen Wert zwischen 0 und 1 einnimmt. Auch die Veränderung im Zeitverlauf ist leichter zu vermitteln. Das BIP lässt sich ziemlich schnell und zeitnah berechnen und Quartalsweise ausweisen. Dadurch zeigen sich Veränderungen der wirtschaftlichen Aktivität und der Produktion sofort. Andere soziale Indikatoren im Bereich Bildung oder Gesundheit oder Umwelt verändern sich hingegen meist nur langfristig.

Dass das BIP darüber hinaus die Wohlfahrt eines Landes erfasst, leitet sich aus der Annahme ab, dass der Wert der produzierten Güter, also der Output der Arbeit der Menschen, wieder in Form von Löhnen und Gehältern zu denjenigen zurückfließt, die diese Arbeit geleistet haben. Sofern das BIP wächst, geht man davon aus, dass auch die Löhne und Gehälter steigen. Was man allerdings dabei nicht weiß, ist, ob die Löhne und Gehälter auch gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten wachsen oder die Ungleichheit einer Gesellschaft zunimmt.

Das Ende des Wachstums?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges standen die Vereinigten Staaten vor der Herausforderung, Millionen von heimkehrenden Soldaten rasch in den Arbeitsprozess zu integrieren. Das Horroszenario der US-Regierung war eine Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit wie nach der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die Ökonomen der damaligen Zeit glaubten allerdings noch nicht an Wachstum als einem möglichen Dauerzustand, wie wir es heute annehmen. Stattdessen galt das Dogma der Maturität, oder Stagnation. Für die Wirtschaftswissenschaftler damals war es kaum vorstellbar, dass sich ein Land wie die USA noch weiter industriell entwickeln könnte. Ganz anders sahen dies allerdings die Wirtschaftslenker, also die Unternehmer, unter ihnen vor allem diejenigen, die Erfahrungen mit der Produktion von Rüstungsgütern gemacht hatten. Sie waren es, die als Berater dem US-Präsidenten vorschlugen, zur Bekämpfung der drohenden Beschäftigungskrise auch in Friedenszeiten eine stetige Ausweitung der Produktion anzustreben. So setzte sich die Idee des permanenten Wachstums durch.

Nach der Hochwachstumsphase zwischen den 1950er und den späten 1970er Jahren schwächte sich allerdings das Wachstum in fast allen Industrieländern ab. Gleichzeitig bedeutete Wachstum in einer zunehmend automatisierten Fertigung nicht mehr automatisch, dass gleichzeitig Arbeitsplätze geschaffen wurden. Jobless Growth wurde zu einem bis dato unbekannten Phänomen. Zur selben Zeit wiesen Publikationen wie der Interner Link: Bericht Limits of Growth des Club of Rome darauf hin, dass man sich politisch auf ein Modell versteift hatte, das einen dauerhaften Anstieg unser Lebensqualität propagierte, während dies aufgrund der Endlichkeit der Ressourcen ein Ding der Unmöglichkeit war. Die aufkommende ökologische Bewegung machte auch immer deutlicher, dass die zerstörerischen Effekte des industriellen Wachstums schlicht übersehen und kleingeredet wurden, sofern man weiter blind auf BIP-Wachstum setzte.

Ein weiteres zentrales Problem des BIP: Lange war man davon ausgegangen, dass alle Menschen automatisch von seinem Wachstum profitieren. Dabei wird auch heute noch gern das Bild eines Kuchens bemüht, der immer größer wird: Wenn mir ein bestimmter Teil des Kuchens zusteht, sagen wir fünf Prozent davon, werden mit wachsendem Kuchen auch diese fünf Prozent immer größer. Mit anderen Worten ging man davon aus, dass mit steigendem BIP die Menschen nicht länger über Verteilung und Verteilungsgerechtigkeit streiten würden. Dies ging aber nur so lange gut, wie wirklich alle Bevölkerungsschichten etwas vom Wachstum merkten.

Tatsache ist aber, dass sich die Verteilung in unseren entwickelten Gesellschaften immer ungleicher entwickelt hat, dass es immer mehr Menschen gibt, die nicht vom Wachstum profitieren, andere jedoch überproportional. Die Frage der Verteilung wird bei der Fixierung auf das Wirtschaftswachstum nicht nur ausgeblendet, sondern es wird unterstellt, dass Verteilung bei positivem Wirtschaftswachstum unproblematisch sei. Die alte Gleichung aber, dass höhere Produktion zu höheren Einkommen und damit einem besseren Leben für alle führt, gilt nicht.

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Philipp Lepenies ist Professor für Politik mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Freien Universität Berlin.