Wenn es um drängende Probleme geht, wird in der öffentlichen Debatte immer wieder auf unsere Wirtschaftsordnung verwiesen: Die Zerstörung der Umwelt und ausbeuterische Arbeitsformen? Finanzkrisen, die zu massiven Einkommensverlusten und höherer Arbeitslosigkeit führen? Für einige klar: der „Kapitalismus“ ist schuld. Seit dem zweiten Weltkrieg massiv gewachsener Wohlstand in Deutschland mit einer sozialen Absicherung, die weltweit ihresgleichen sucht? Für andere ist das gerade die Errungenschaft der „sozialen Marktwirtschaft“. Gründe, warum die deutsche Wirtschaft seit einem halben Jahrzehnt insgesamt nicht mehr gewachsen ist? Viele erklären es sich dadurch, dass sich Politikerinnen und Politiker eben von den Grundprinzipien der Marktwirtschaft abgewandt hätten und Deutschland zunehmend in eine Planwirtschaft steuerten.
Kapitalismus oder Marktwirtschaft, „sozial“ oder nicht – welche Wirtschaftsordnung haben wir eigentlich in Deutschland? Und was daran ist gut oder diskussionswürdig?
Um die Begriffe zu klären, hilft ein Blick ins
Produktionsmittel – also Land, Fabriken, Maschinen und Anlagen – überwiegend in Privateigentum befinden,
in denen Eigentümer und Eigentümerinnen dieser Produktionsmittel versuchen, ihren Gewinn zu maximieren und
in denen Marktmechanismen für die von Inputfaktoren wie Rohstoffen und Arbeitskräften sowie von den Endprodukten an die Privathaushalte sorgen.
Dabei gibt es verschiedene Arten des Kapitalismus: Unter Kapitalismus fällt der vorindustrielle Frühkapitalismus ebenso wie der weitgehend unregulierte Manchesterkapitalismus während der industriellen Revolution in Großbritannien, der Raubkapitalismus in Russland nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in den 1990er Jahren, die skandinavischen Wohlfahrtsstaatsmodelle des frühen 21. Jahrhunderts und eben auch die soziale Marktwirtschaft westdeutscher Prägung (oder: rheinischer Kapitalismus) nach dem zweiten Weltkrieg.
Es gibt nicht den einen Kapitalismus
Die soziale Marktwirtschaft, auf die in der deutschen Debatte oft verwiesen wird, ist dabei eine Unterausprägung des Kapitalismus. Man kann sich das etwa so vorstellen wie in der Biologie: Es gibt dort die Famile der Hunde (Canidae), zu der neben der Vielzahl der domestizierten Haushunde auch Wölfe, Kojoten, Füchse und Schakale gehören. Die soziale Marktwirtschaft ist so etwas wie eine Rasse in der Familie der Hunde, etwa der Schäferhund. Der Kapitalismus wäre die ganze Familie.
In der Wissenschaft geht der Begriff der sozialen Marktwirtschaft unter anderem auf den deutschen Ökonomen Alfred Müller-Armack zurück, dessen erklärtes Ziel es war, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“.
Im Gegensatz zum Kapitalismus ist das Sozialstaatsprinzip sogar im Grundgesetz festgeschrieben. In Art. 20 GG ist ausbuchstabiert, dass die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ zu sein hat. Diese Prinzipien sind zudem durch die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG geschützt, nach der diese Grundsätze auch nicht mit verfassungsändernden Mehrheiten gekippt werden können. Für Deutschland unter dem aktuellen Grundgesetz wäre damit die Einführung eines Manchesterkapitalismus unmöglich.
Diese Ewigkeitsklausel ist dabei kein Zufall und sie ist durchaus sinnvoll: Wie auch nicht alle Tiere der Familie der Hunde für den Menschen gleich nützlich oder ungefährlich sind, sind auch nicht alle Spielarten des Kapitalismus für den Menschen gleich nützlich. Das Grundgesetz stellt sicher, dass besonders schädliche Varianten des Kapitalismus in Deutschland nicht ausprobiert werden.
Schadensbegrenzung durch Regulierung
Der unregulierte Kapitalismus hat immer wieder zu einer übermäßigen Konzentration von Vermögen und damit wirtschaftlicher Macht geführt, die ebenso regelmäßig dann von den Mächtigen missbraucht wurde. Zum anderen hat der unregulierte (oder nicht ausreichend regulierte) Kapitalismus über die Jahrhunderte immer wieder zu tiefen wirtschaftlichen Krisen geführt. In vielen Teilen der Welt etwa wurden seit den 1970er Jahren die Finanzmärkte dereguliert, internationale Kapitalströme freigegeben und damit den Entscheidungen von Finanzinvestoren ein größerer Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen gegeben. Die Folgen waren oft erratische Kapitalströme, die zeitweise Überinvestitionen auslösten, dann aber zu Kreditklemmen und daraus folgenden plötzlichem Einbruch von Investitionen und schnell steigender Arbeitslosigkeit führten.
Die wohl heftigste solche Krise war die US-Subprimekrise 2007 bis 2009, die sich schnell auf die gesamte Weltwirtschaft ausweitete. Damals hatten Finanzinstitutionen in den USA übermäßig viele Hypothekenkredite an Schuldnerinnen und Schuldner schlechter Bonität vergeben und diese Schulden über sogenannte Verbriefungen an andere Banken und institutionelle Anleger wie Investmentfonds verkauft. Statt in produktive Anlagen war deshalb besonders viel Kapital in den Wohnungsbau geflossen und die Preise von Wohnhäusern schossen in die Höhe. Als die Spekulationsblase platzte, kam es zu massiven Kreditausfällen und Bankenpleiten weltweit. Der Finanzsektor fuhr die Kreditvergabe auch an produzierende Unternehmen zurück und die Weltwirtschaft schlitterte in eine schwere Krise.
Die Folgen dieser Krise waren nicht so dramatisch wie jene in der großen Depression der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, nicht zuletzt auch, weil alle wichtigen Volkswirtschaften 2008 eben kein System des unregulierten Kapitalismus hatten. Soziale Elemente wie öffentliche Arbeitslosenversicherungen und massive staatliche Konjunkturpakete stabilisierten die Weltwirtschaft und verhinderten einen tieferen Einbruch.
Der Kapitalismus führt also zu Krisen. Zugleich ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass der Kapitalismus großes Potenzial zur Steigerung des menschlichen Wohlergehens hat. In der Nachkriegszeit in Europa waren es die marktwirtschaftlich ausgerichteten Länder Westeuropas, die so rasche Wohlstandsgewinne zeigten, dass man allgemein vom „Wirtschaftswunder“ sprach, während den planwirtschaftlich organisierten Staaten Mittel- und Osteuropas ein vergleichbarer Wohlstandsgewinn versagt blieb. Die Einführung kapitalistischer Elemente in die chinesische Wirtschaft führte ab den 1980er Jahren zu solch massiven Einkommenszuwächsen, dass Hunderte Millionen Menschen aus der Armut gezogen wurden.
Wichtig ist deshalb, den Kapitalismus so zu regulieren, dass seine gefährlichen und schädlichen Charakterzüge zurückgedrängt werden, er aber sein Potenzial zur Wohlstandssteigerung und Innovationsförderung ausspielen kann.
Um das Hundebeispiel weiter zu strapazieren: Einen Wolf möchte man nicht im selben Haus wohnen haben, weil er einfach zu gefährlich ist, der Schäferhund dagegen kann sehr nützliche Dienste bei der Aufsicht über die Schafsherde leisten. Der unregulierte Manchesterkapitalismus bringt zu viele Nebenwirkung und Gefahren mit sich, mit der sozialen Marktwirtschaft versucht dagegen mehr oder wenig erfolgreich, den Kapitalismus zu domestizieren.
In Deutschland leben wir zwar im Kapitalismus, doch zum Glück in seiner Form als sozialer Marktwirtschaft und nicht in einem unregulierten Raubkapitalismus. Doch auch in einer sozialen Marktwirtschaft sind die Grenzen zwischen freiem Markt und sozialem Ausgleich immer wieder neu auszutarieren. So gibt es immer wieder Bestrebungen, wichtige Elemente des Sozialstaates zurückzudrängen, etwa, wenn gefordert wird, Arbeitsschutzregeln zu lockern, weil einige den Eindruck haben, dass aktuelle Regeln die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Auf der anderen Seite gibt es Forderungen, stärker in den Markt einzugreifen, etwa beim öffentlichen Wohnungsbau, weil die Marktergebnisse gesellschaftlich unerwünscht sind und soziale Schieflagen produzieren. Was am Ende das richtige Maß der Regulierung ist, muss dabei jedes Mal neu diskutiert werden. Man möchte ja weder plötzlich einen Wolf am Rande der Herde sitzen haben, der die Schafe reißt, noch einen Chihuahua, der die Herde nicht zusammenhalten kann.