Gerechtigkeit im Marktmodell
Wer ein Grundstudium in Ökonomie absolviert, lernt kaum etwas über Gerechtigkeit. Das hat vor allem mit dem Modell der Wirtschaft zu tun, das den Anfänger:innen als erstes präsentiert wird. Dieses Modell beschreibt die Wirtschaft als eine Marktwirtschaft. Sie besteht aus Märkten, also aus Angebot und Nachfrage, wird durch Preise gesteuert, und auf jedem Markt – so wird gesagt – existiert ein Mechanismus, der die Preise so anpasst, dass Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. Damit werden Güter in den Mengen und zu den Preisen angeboten, die die Nachfrage optimal bedienen – und auch effizient produziert.
Dieses „Marktmodell“ kann sehr unterschiedlich interpretiert werden, etwa als Norm für die Wirtschaftspolitik oder als eine Utopie einer perfekten Wirtschaft, die es noch niemals gegeben hat. Viele Ökonom:innen verstehen das Marktmodell als eine Beschreibung, wie „die Wirtschaft“ im Kern funktioniert. Sie erscheint damit vor allem als ein System mit hoher Effizienz. Andere Werte oder Ziele, wie Gerechtigkeit, sind hier nicht zu finden.
Gleichzeitig wird auch gesagt, dass der Markt keine Debatte über Gerechtigkeit benötigt, weil er von selbst einen gerechten Zustand herstellt. Hier wird oft so argumentiert: Das Marktmodell beschreibt, wie Käufe und Verkäufe ablaufen. Jeder einzelne Kaufakt basiert auf den (rationalen) Entscheidungen unabhängiger Individuen und kommt freiwillig zustande. Man kann also annehmen, dass sich alle fair und gerecht behandelt fühlen – sonst würden sie ihre Käufe und Verkäufe nicht durchführen. Damit wird die Gerechtigkeit zu einem strukturellen Merkmal der Wirtschaft. Dazu müssen aber alle Individuen gleiche Chancen haben, auf Märkten wie dem Arbeitsmarkt zu agieren. Es darf beispielsweise niemand wegen seiner Hautfarbe diskriminiert werden. Die Chancengerechtigkeit der Marktteilnehmer:innen sichert so die Gerechtigkeit im gesamten System.
Ein solches Verständnis schließt andere Formen von Gerechtigkeit aus, zum Beispiel die Bewertung, ob die bestehenden Unterschiede in den Einkommen gerecht sind. Eine solche Fragestellung – so wird gesagt – führt zu ethischen Positionen, die im Modell nicht beantworten werden können. Denn die Frage verletze die Methode, der das Marktmodell folge. Das Modell könne nur beschreiben, wie die Wirtschaft tatsächlich ablaufe, nicht jedoch, wie sie nach anderen („wirtschaftsfremden“) Kriterien ablaufen sollte. Für Überlegungen zur Gerechtigkeit seien daher nicht die Wirtschaftswissenschaften zuständig, sondern jene, die sich mit Moral und Ethik oder mit Politik beschäftigten.
Ökonomische Theorien von Gerechtigkeit
Demgegenüber gibt es eine große Palette eigenständiger Theorien von Gerechtigkeit, die von Ökonom:innen entweder entworfen oder diskutiert werden. Weit bekannt ist der Ansatz des US-Philosophen John Rawls (1921-2002). Er stellt die Gerechtigkeit in das Zentrum sozialer Institutionen, sie sollen diesem Ziel folgen. Rawls denkt integrativ: Jede Person habe das Recht auf ein System grundlegender Freiheiten. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind für ihn nur dann gerecht, wenn sie dem größten Vorteil der am schlechtesten gestellten Mitglieder der Gesellschaft dienen. Rawls argumentiert, dass die Menschen, wenn sie nicht wüssten, welche Position sie in der Gesellschaft einnehmen, eine Gesellschaftsstruktur wählen würden, die möglichst gerecht und fair ist.
Einen anderen viel diskutierten Ansatz haben der indische Ökonom Amartya Sen (geb. 1933) und die US-Philosophin Martha Nussbaum (geb. 1947) entwickelt. Sie konzentrieren sich darauf, was Menschen tatsächlich in der Lage sind zu tun. Gerechtigkeit bedeutet für sie, dass alle Menschen die Freiheit haben, ihre Fähigkeiten und Potenziale zu verwirklichen. Entscheidend sind die echten Möglichkeiten, die Menschen haben, um das Leben zu führen, das sie wertschätzen, aber auch die konkreten Resultate dieser Möglichkeiten. Soziale Gerechtigkeit orientiert sich hier nicht an wirtschaftlichen Kennziffern wie dem Wirtschaftswachstum oder dem Pro-Kopf-Einkommen, sondern direkt an sozialen Größen wie Armut, Ungleichheit oder sozialer Ausgrenzung. Die Frage lautet: Wie können wir Bedingungen schaffen, unter denen alle Menschen ihr Potenzial entfalten können?
Gerechtigkeit in der Wirtschaftspolitik
Solche Überlegungen spielen in vielen aktuellen politischen Debatten eine zentrale Rolle, in denen es um die Verteilung von Ressourcen, um Produktion und Konsum geht. Politische Diskurse führen meist direkt zu moralischen Fragen, in vielen Fällen geht es um Fragen der Gerechtigkeit. Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts ist davon inspiriert, ein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit herzustellen. Dazu dient ein umfangreiches System von Transfers, Steuern und Staatsausgaben – in Deutschland ist ein Sozialstaatsprinzip auch in der Verfassung vorgeschrieben.
QuellentextWas ist soziale Gerechtigkeit?
Typischerweise wird zwischen vier Grundprinzipien der sozialen Gerechtigkeit unterschieden:
Das Gleichheitsprinzip fordert, Güter und Lasten gleich zu verteilen und jedem – unabhängig von Herkunft und nicht selbst verantworteten Einschränkungen – möglichst gleiche Chancen beim Zugang zu Gütern oder Positionen zu gewähren, wie dies insbesondere für den Zugang zu Bildung gilt.
Dem Bedarfsprinzip entspricht eine Verteilung, die grundlegende Bedürfnisse deckt und damit verhindert, dass Menschen in Armut leben müssen, insbesondere dann, wenn sie unverschuldet in eine Notlage geraten. Die Einrichtung der gesetzlichen Sozialversicherung ist ein Beispiel für die Institutionalisierung dieses Prinzips: Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung greifen stets dann, wenn Menschen wegen verschiedener Umstände auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen sind.
Das Leistungsprinzip fordert, denjenigen mehr zu geben, die größere Leistungen erbracht haben. Insbesondere die moderne Arbeitswelt folgt diesem Prinzip, wenn die Höhe der Erwerbseinkommen häufig – wenn auch nicht immer – mit der individuellen Leistung oder den Kompetenzen korreliert.
Das Anrechtsprinzip schließlich sieht vor, dass Güter und Lasten anhand von Statusmerkmalen wie Familienansehen oder Herkunft verteilt werden – hier spielen z. B. Erbschaften eine Rolle.
Stefan Liebig, aus:
In der wirtschaftspolitischen konkreten Ausgestaltung der vergangenen Jahrzehnte war zu beobachten, dass Gerechtigkeit als soziale Forderung als weniger wichtig erachtet wurde. So interpretierte die Sozialdemokratie um die Jahrtausendwende ihren zentralen Wert der Gerechtigkeit neu: weg von einer kollektiven Verteilungsgerechtigkeit und und hin zur individuellen Chancengerechtigkeit. Ihnen wurde für die Inanspruchnahme sozialer Rechte (wie der Arbeitslosen- und Sozialhilfe) auch Pflichten (beispielsweise zumutbare Jobangebote anzunehmen) auferlegt. Die bedingungslose Durchsetzung von Gerechtigkeitsnormen durch den Staat wird hier als problematisch erachtet, weil sie die Dynamik der Wirtschaft negativ beeinflussen könne – etwa, weil Sozialleistungen die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme mindern könnten. Die Folge war ein Umbau des Sozialstaates (Stichwort: Hartz-IV-Reformen).
Neoliberale Gerechtigkeit
Im Hintergrund für diese Neudeutung von Gerechtigkeit steht ein breiter Trend, der dem erwähnten Marktmodell eine höhere Bedeutung für die Wirtschaftspolitik zugesprochen hat. Dies wurde ergänzt und begleitet durch eine Palette neoliberaler Theorien. Hier werden in der Regel Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit vehement abgelehnt. Ein wichtiger Theoretiker ist der philosophisch argumentierende Ökonom Friedrich August von Hayek (1899-1992), der auch den deutschen Ordoliberalismus beeinflusst hat. Hayek argumentiert nicht nur, dass eine Verteilungsgerechtigkeit mit einer Marktwirtschaft unvereinbar sei, sondern auch, dass eine solche Forderung keinen Sinn oder Inhalt besitze. Denn „der Markt“ sei ein Prozess, bei dem das in den Individuen enthaltene Wissen aufgegriffen, koordiniert und in Preisen gebündelt würde.
Dieses Marktwissen ist ungemein komplex. Es wird dem beschränkten Wissen einzelner Personen, wie einzelner Wissenschaftler, gegenübergestellt. Daraus zieht Hayek den Schluss, dass kein Mensch „den Markt“ durchblicken oder durchdenken könne. Der Mensch besitzt nach Hayek kein Mittel, um „die Ordnung“ der Wirtschaft insgesamt oder einzelne ihrer Ergebnisse aufgrund selbstgewählter Ziele beurteilen zu können. Er verliert die Berechtigung, über „den Markt“ nachzudenken und an „ihn“ Forderungen nach Gerechtigkeit zu stellen. Wer dies dennoch täte (wie Menschen, die die zunehmende Ungleichheit der Vermögen als ungerecht beschreiben), würde sich nach Hayek „Vernunft anmaßen“, er würde seine Vernunft auf falsche Weise verwenden. Gerechtigkeit als Anforderung an das Wirtschaftssystem könne damit nicht einmal sinnvoll formuliert werden, ein moralischer Diskurs über das Wirtschaftssystem und seine Strukturen sei gegenstandslos.
Klimagerechtigkeit
Vorstellungen dieser Art sind weit verbreitet. Sie tragen mit dazu bei, dass es kein politisches Programm gibt, die Ungleichheit in den Vermögen ernsthaft zu reduzieren. Eine wichtige Auswirkung betrifft die Debatte um ökologische Gefahren. Hier geht es zentral um Fragen der Gerechtigkeit, beispielsweise wie die Verantwortung und die Lasten einer Klimapolitik verteilt werden sollen – innerhalb eines Landes und global über alle Länder? Sollen die historischen Verursacher zur Kasse gebeten werden (also vor allem die Länder Nordamerikas, Westeuropas)? Oder jene Länder, die heute die größten Schäden verursachen (zum Beispiel China)? Oder sollen jene vorrangig zu Zahlungen verpflichtet werden, die es sich leisten können? Handlungen und Unterlassungen heute betreffen künftige Generationen auf vermutlich lange Zeiträume, dies betrifft Fragen einer intergenerationalen Gerechtigkeit. Unter anderem wird auch diskutiert, ob es eine ethische Verantwortung auch für Personen und Länder gibt, die zwar keine großen Verursacher sind, aber zu Vorreitern für Formen von Produktion und Konsum werden sollen, die die Umwelt weniger belasten.
Wie solche Gerechtigkeitsfragen in Zukunft beantwortet werden, könnte für das Schicksal vieler Menschen entscheidend sein. Aber dazu muss auch die ökonomische Theorie den Stellenwert des Marktmodells und neoliberale Marktvorstellungen abschwächen, um in den Wirtschaftswissenschaften mehr Raum für eine eigenständige Debatte um Fragen der Gerechtigkeit zu schaffen.