Die Bundesregierung lässt viel Geld springen, damit eine US-Firma in Deutschland Computerchips baut. Beim Kauf von Elektro-Autos gab es Prämien vom Staat. Dazu einen Transformationsfonds für Regionen, die unter dem Wandel zu kollabieren drohen. Und in so manchem Ort beschließt der Gemeinderat auch mal, dem ansässigen Familienbetrieb Gutes zu tun.
All das gehört zu dem, was Ökonomen und Politiker Industriepolitik nennen – auch wenn es, kleine Begriffsverirrung, gar nicht immer um die Industrie geht. Industriepolitik, das ist eine Art von Eingreifen der Politik ins Wirtschaftsgeschehen, wie sie seit den 1980ern tabu war, heute aber weltweit wieder eifrig praktiziert wird, ob in den USA, China, der EU oder Deutschland. Wobei es inzwischen weniger an guten Argumenten mangelt als daran, dass es Regierenden wie Beratern nach den vielen Jahren schlicht an Erfahrung fehlt, wie Industriepolitik überhaupt geht.
Zum Tabu wurde Industriepolitik in jenen marktliberalen Hochzeiten, die mit Margaret Thatcher in Großbritannien und mit Ronald Reagan in den USA begannen – und die vier Jahrzehnte das Leitmotiv der Globalisierung blieben. Motto: „Die Regierung ist stets das Problem, nie die Lösung“ (Reagan). Der Markt mit seinen vielen Akteuren wisse es sowieso immer besser. Und nur Unternehmen schafften Wohlstand. Punkt. Wie sollten sich Beamte oder Politiker da anmaßen, einzelne Industrien oder Betriebe gezielt zu subventionieren. Das würde nur alles durcheinanderbringen. So das Versprechen.
Spätestens seit der großen Finanzkrise 2008 aber bröckelt das Vertrauen in Märkte – und auch darin, dass es die Wirtschaft immer richtet. Dazu kommen große Herausforderungen wie Klimakrisen, Ungleichheit und Globalisierung – was durch den freien Wettbewerb nicht auf Anhieb lösbar ist, schon weil einzelne Firmen damit überfordert sind.
Was das heißt, zeigt wie kaum etwas anderes die leidliche Umstellung auf Elektro-Autos. Klar, es lässt sich streiten, ob das Elektrifizieren die Antwort für alle Ewigkeit ist. Nur hat gerade die deutsche Autoindustrie viel zu lange darauf gepocht, dass sie die Lösung im – technologieoffenen – Wettbewerb selbst finden möchte. Bis klar wurde, dass das zu nichts führt, solange nicht irgendwer klare Vorgabe für die Richtung macht – und für den nötigen Anlauf dann auch Anreize und Ladestationen bietet. Technologieoffenheit ergibt keinen Sinn, wenn sich vor lauter Offenheit nichts durchsetzt.
Wenn die deutsche Autoindustrie 2024 in eine tiefe Krise geriet, dann auch deshalb: weil die Regierung erst Kaufprämien anbot – um sie, als die Deutschen gerade begannen, sich fürs Elektroauto zu begeistern, wieder abzuschaffen. Zu der Zeit hatte die Regierung in Peking längst vorgegeben, in welche Richtung es geht – ebenso wie 2022 US-Präsident Joe Biden mit seinem
Wozu es führen kann, wenn die Masse der Akteure am Markt mit so langfristigen und komplexen Trends überfordert ist, zeigt sich seit Corona-Pandemie und Kriegen noch stärker. Durch die lockdown-bedingten Lieferengpässe in Asien bekamen deutsche Verbraucher und Industrie plötzlich zu spüren, wie abhängig Deutschland von der Zulieferung überlebenswichtiger Arzneimittel oder jenen Computer-Chips ist, die heute in allem gebraucht werden, ob in Smartphone oder Staubsauger. Und die infolge unkontrollierter Globalisierung zum Großteil heute aus Taiwan kommen – was uns wiederum erpressbar macht, wenn China dort zu intervenieren droht.
All das muss für ein einzelnes Unternehmen noch kein Problem sein: jeder kauft dort, wo es am günstigsten ist. Nur wenn alle am selben kritischen Ort kaufen, entsteht für das Land ein geo-politisches Problem. Das kann nicht der Markt lösen, der Markt hat es ja entstehen lassen. Und da braucht es: eine Industriepolitik, die dafür zu sorgen versucht, dass strategisch sensible Güter zu einem Mindestmaß auch bei uns produziert werden. Das ist der Grund für den Versuch, mit Milliardengeldern den US-Chip-Hersteller Intel nach Magdeburg zu holen. In den USA werden Subventionen und Steuernachlässe aus dem IRA wie aus dem CHIPS Act daran gekoppelt, dass die Begünstigten einen garantierten Anteil der Produktion im Land behalten.
Nach marktliberaler Doktrin galt, dass man die Globalisierung ruhig laufen lassen kann, weil es im Ergebnis immer mehr Gewinn als Verlust gibt – auch als etwa Chinas Billigkonkurrenz ab 2001 zu einem regionalen Schock im alten Industriegürtel der USA führte. Das brachte für Verbraucher ja auch günstigere Angebote. Nur was hilft so ein positiver Saldo den Hunderttausenden, die als Arbeiter damals ihre Existenz verloren. Nirgendwo hat Donald Trump 2016 so entscheidenden Zuspruch gefunden wie bei den Frustrierten in der seither als „Rust Belt“ bedauerten Region. Ähnliches gilt für Umbrüche, wie sie in den früheren nordenglischen Industrieregionen oder im Osten Deutschlands passiert sind. Auch da hat der Markt allein keine neuen Perspektiven geschaffen – mit fatalen politischen Folgen.
Seither ist die Einsicht gereift, dass es lohnt, wenn der Staat dem zuvorkommt – und dafür sorgt, dass neue Industrien angeworben werden, bevor unzählige Menschen in Not geraten. So wie es US-Präsident Biden mit seinem IRA von 2022 bis 2024 praktiziert hat, indem er überdurchschnittlich viele Mittel gezielt in die Regionen gab, die von größeren Umbrüchen getroffen waren.
Zur Liste der industriepolitischen Wiederbelebung gehört auch die Herausforderung, die sich durch Künstliche Intelligenz ergibt – eine Technologie, bei der immer offenbarer geworden ist, dass es nicht gut ist, sie im freien Wettbewerb laufen zu lassen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger 2024, Daron Acemoglu, fordert seit Jahren daher schon einen „gelenkten technologischen Wandel“, bei dem unterschieden würde zwischen jener Nutzung von KI, die Arbeitnehmern das Leben einfacher macht – und derjenigen, die selbst gute Arbeit wegzurationalisieren droht, auch wenn das gesellschaftlich gar nicht gewünscht ist.
Dass es für eine Industriepolitik gute Gründe geben kann, sei in den vergangenen Jahren zum Konsens gereift, sagt der Harvard-Ökonom Dani Rodrik. Im Frühjahr 2024 unterzeichneten rund 70 renommierte Experten und Expertinnen eine Berliner Erklärung (AQ),
Umso auffälliger ist, wie sehr in Deutschland noch ums Prinzip gestritten und jeder Gedanke an Industriepolitik gelegentlich noch als Schritt in den Kommunismus gewertet wird. Dabei geht es den Vordenkern zufolge nur noch ums Wie, nichts ums Ob.
Es geht weder darum, jetzt überall zu intervenieren. Noch sollen einseitig alte Strukturen gerettet werden. Wichtiger ist eher: Wie lässt sich herausfinden, wann genau eine Technologie wie die Elektromobilität so systemisch komplex und relevant ist, dass sie sich im freien Wettbewerb nicht durchsetzt – und auf welche trifft das nicht zu? Und was muss passieren, damit Voraussetzungen wie hinreichende Nachfrage oder Ladenetze erfüllt werden?
Wie lässt sich definieren, was strategisch für ein Land so wichtig ist, dass eine Regierung für genügend nationale Produktion sorgen sollte? Wichtige Medikamente? Klar. Masken? Auch. Und Computer-Chips? Ja. Nur: wo ist die Grenze? Und wie lässt sich verhindern, dass Regierende das alles je nach Laune bestimmen? Oder dass der Protektionismus in Handelskriege ausartet? Das geht vielleicht durch internationale Abkommen dazu, was man als strategisch wichtig einstuft – im Einvernehmen.
Ähnliches gilt für die Frage, welche KI gewünscht ist. Oder dafür, wie Regierungen am besten dafür sorgen, dass in abgehängten Regionen neue Industrien entstehen. Dani Rodrik schlägt dafür eine Behörde vor, die jene Innovationen besonders fördert, die gute eher statt prekärer Arbeit schaffen. Weil die Industrie nicht mehr so viele Jobs bieten kann, sollten bewusst auch „gute“ Dienstleistungen gefördert werden – und KI dafür eingesetzt, dass Pflegekräfte schneller und individueller auf Patienten reagieren können. Wie das geht, müssten dann gar nicht unbedingt zentrale Regierungen entscheiden, so Rodrik.
Ins Leere geht das Bedenken, dass die Politik das alles doch gar nicht besser wissen kann. Dieser Einwand zöge ja nur, wenn der Markt es immer für alle richten würde. Dabei liegt gerade hier ja der Grund für die Wiederbelebung der Industriepolitik: dass ungesteuerter Wettbewerb gelegentlich eben nicht hilft – oder alles schlimmer macht. Dann ist die Antwort auf Zweifel und Ungenügen des Staates eher, dass die Kapazitäten zu verbessern sind – und nicht, dass es besser wäre, wieder auf den Markt zu hoffen.
Wenn über Jahrzehnte Jobs und Gelder gekürzt worden sind, weil niemand mehr Industriepolitik wollte, ist kein Wunder, dass heute Mittel und Erfahrung fehlen, um die neuen industriepolitischen Aufgaben zu bewältigen. Dann braucht es bessere Bezahlung für besser qualifizierte Experten, die dann auch mit der privaten Wirtschaft mithalten können. Und mehr Geld für praktische Projekte, schon um herauszufinden, was gut funktioniert – und was nicht. Wie soll man’s sonst wissen?
Dann braucht es dringend auch überzeugendere Kriterien, wann und wo es der Markt richtet – und wann der Staat gefragt ist. Beim Anschieben von Elektroautos – ja. Bei massiven regionalen Umbrüchen – auch. Bei der Entwicklung neuer Handyhüllen – eher nicht (solange die nicht systemrelevant werden). Je klarer die Trennlinien, desto mehr Schutz vor Willkür.
Schwer zu definieren? Und fehlerbehaftet? Klar. Wie so vieles im Leben. Nur: wenn es darum geht, gesellschaftlich voranzukommen, müssen das eben im Zweifel auch die Gesellschaft und ihre gewählten Vertreter entscheiden – nicht ein Markt, der für die Lösung größerer gesellschaftlichen Umbrüche und Krisen nicht geeignet ist.