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Warum ist der Sozialstaat nötig? | Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Warum ist der Sozialstaat nötig?

Gerhard Bäcker

/ 9 Minuten zu lesen

In allen hochentwickelten Volkswirtschaften wird die Marktwirtschaft durch einen Sozialstaat flankiert. Offenbar ist er unabdingbar. Dabei geht es nicht nur um soziale Gerechtigkeit.

Ein Rettungswagen auf einer Einsatzfahrt in München. (© picture-alliance, Matthias Balk)

Artikel 20, Satz 1 des Grundgesetzes legt fest: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein de-mokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Aus diesem Sozialstaatspostulat lassen sich zwar keine konkreten sozialpolitischen Ansprüche ableiten. Aber zweifelsohne weist Deutschland ein dicht geknüpftes soziales Netz auf. Die deutsche Ausprägung kapitalistischer Marktwirtschaften wird deshalb häufig als „Interner Link: soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet. Die finanziellen Dimensionen des Sozialstaats sind beachtlich: Ein knappes Drittel des Interner Link: Bruttoinlandsprodukts werden für Sozialausgaben und soziale Dienstleistungen eingesetzt. Dies verweist auf die enorme Bedeutung des Sozialstaats. Er soll Menschen soziale Sicherheit geben, wobei das Ausmaß politisch umstritten ist. Gleichzeitig ist er unabdingbar für die Stabilisierung des Wirtschaftssystems.

Wofür Sozialleistungen verwendet werden

Zum deutschen Sozialstaat gehören zunächst einmal die fünf Zweige der Sozialversicherung: die Renten-, Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung, die Grundsicherung, also das Bürgergeld, sowie Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Arbeitsschutz sowie das Gesundheits- und Sozialwesen.

Mit den sozialstaatlichen Mitteln werden zum einen Geldleistungen finanziert, auf die Menschen einen gesetzlichen Anspruch haben, also etwa Renten, Arbeitslosengeld, Krankengeld, Kindergeld, Elterngeld, Bürgergeld und Pflegegeld.

Der Sozialstaat bietet zum anderen Sach- und Dienstleistungen an: Immerhin rund 40 Prozent der Sozialausgaben werden für Leistungen des Gesundheits- und Pflegesystems aufgewendet, beispielsweise für ambulante und stationäre Versorgung von Patient:innen und Pflegebedürftigen, Arzneimittel sowie Heil- und Hilfsmittel, die (weitgehend) kostenfrei in Anspruch genommen werden können. Hinzu kommen die Leistungen des kommunalen Sozialwesens: Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Beratungs-, Integrations- und Betreuungsdienste. Hier spielen die Interner Link: Wohlfahrtsverbände als Träger und Anbieter eine zentrale Rolle.

Jenseits finanzieller Leistungen gehören zum Sozialstaat auch Marktregulierungen: Eine ganze Reihe von arbeits- und sozialrechtlichen Gesetzen greift in das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ein, es gelten Gebote und Verbote, etwa hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Elternzeiten.

Dieses komplexe System hat einen langen historischen Vorlauf. Die Entwicklung der Sozialpolitik beginnt bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Interner Link: Bismarck‘schen Sozialversicherungspolitik, und blickt heute auf einen langen Weg von Reformen und Rückschlägen, expansiven wie restriktiven Phasen zurück. Erst seit den 1970er Jahren kann dabei von einem ausgebauten und hoch differenzierten Sozialstaat gesprochen werden, der nahezu die gesamte Bevölkerung erfasst und weite Bereiche von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik durchdringt. Er fundiert eine demokratische Gesellschaft und durchdringt die kapitalistisch-marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit vielfältigen Elementen des sozialen Ausgleichs.

Dieser ausgebaute Sozialstaat ist keine deutsche Erfindung oder Besonderheit. Ausgestaltung und das Ausmaß sind in den verschiedenen Ländern zwar unterschiedlich. Es gibt jedoch keine hochentwickelte Volkswirtschaft, die ohne die Flankierung der Marktwirtschaft durch sozialpolitische Regelungen auskommt. So lagen zuletzt die Sozialausgaben im EU-Durchschnitt bei rund 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Deutschland liegt etwas über diesem Mittelwert. Wohlhabendere Länder wie die Bundesrepublik haben dabei tendenziell eine höhere Sozialstaatsquote als ärmere Staaten wie Ungarn oder Rumänien, wenn man den Wohlstand am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf misst.

Dies weist darauf hin, dass der Auf- und Ausbau der staatlichen Sozialpolitik notwendig war und ist, um die kapitalistische Ökonomie stabil und entwicklungsfähig zu halten. Sozialstaatliche Leistungen und Interventionen in die Märkte sind eine Antwort auf negative soziale Folgewirkungen eines unregulierten, „freien“ Marktmechanismus und eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen. Diese machen sozialstaatliches Handeln notwendig. So zeigte sich mit Beginn der Industrialisierung, dass die soziale Unterstützung durch Familien nur noch begrenzt funktionierte. Auch die Armenfürsorge, wie sie seit dem Mittelalter durch die Kommunen praktiziert wurde, konnte die sozialen Probleme der Industriearbeiter nicht mehr lösen. Denn wenn der Großteil der Menschen auf abhängige Lohnarbeit als Einkommensquelle verwiesen wird, bedeutet dies im Umkehrschluss: Das zum Lebensunterhalt der Erwerbstätigen und ihrer Familienmitglieder erforderliche Einkommen fließt nicht mehr, wenn kein Arbeitsverhältnis besteht. Wovon sollen Menschen dann leben, die arbeitslos oder erwerbsunfähig sind, die nicht arbeiten können, weil sie alt oder krank sind oder einen Unfall hatten? Diese sogenannten Standardrisiken abhängiger Arbeit erfordern zwingend einen Ausgleich durch sozialpolitische Einkommensersatzleistungen. Und wenn es das Ziel ist, dass Erkrankte medizinisch gut versorgt werden, dann darf der Zugang zum Gesundheitssystem nicht durch finanzielle Hürden versperrt sein. Ein ausgebauter Sozialstaat kann dabei nicht „billig“ sein: Ein hohes Sozialleistungsniveau auf der einen Seite, niedrige Steuern und Sozialversicherungsbeiträge auf der anderen Seite lassen sich nicht vereinbaren.

Woher die Mittel für den Sozialstaat kommen

Der deutsche Sozialstaat ist – folgend der Bismarck’schen Tradition – ein Sozialversicherungsstaat, der vorrangig Arbeiter:innen und Angestellte absichert und der Selbstständige nach wie vor auf anderweitige, private Sicherungssysteme verweist. Auch für Beamt:innen gibt es Sondersysteme.

Mehr als 60 Prozent aller Sozialleistungen werden über Beiträge für die gesetzliche Arbeitslosen-, Kranken-, Renten-, Pflege- und Unfallversicherung finanziert. Hinzu kommen Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Diese Einnahmen sind zweckgebunden: So dürfen die Mittel der Rentenversicherung nur für die Leistungen der Rentenversicherung verwendet werden. Der zusammengefasste Beitragssatz, der weitgehend paritätisch von Arbeitgebern und versicherten Beschäftigten aufgebracht wird, liegt aktuell bei rund 41 Prozent. Das heißt: Rund 20 Prozent des Bruttolohns zahlen Beschäftigte für ihre soziale Absicherung. Zusätzlich überweisen die Arbeitgeber rund 20 Prozent an die Sozialversicherungen.

Gut ein Drittel der Sozialleistungen werden aus Steuern finanziert. Der mit Abstand größte Posten bei den Sozialausgaben des Bundes sind dabei die Zuschüsse an die Rentenversicherung. Finanziert werden damit gesetzlich beschlossene Leistungen, die nicht durch Beiträge gedeckt sind. Dazu gehören beispielsweise die Berücksichtigung von Ausbildungszeiten und Kindererziehungszeiten bei der Rente und die Renten an Vertriebene und Spätaussiedler.

Zusammengefasst lässt sich also sagen: Damit Menschen sozial abgesichert sind, fließt ein erheblicher Teil des Lohns in die Sozialversicherungen. Zusätzlich werden Steuermittel dafür eingesetzt: Über 40 Prozent des Bundeshaushalts werden für Sozialausgaben verwendet.

Wie der Sozialstaat Wirtschaft und Gesellschaft stabilisiert

Die Dimension des Sozialstaats und seine Ausgestaltung werden dabei praktisch ständig kontrovers diskutiert, mal mehr, mal weniger vehement. Insbesondere Wirtschaftsliberale und auch Arbeitgebervertreter kritisieren die Kosten und Abgaben häufig als zu hoch Dagegen lässt sich erwidern, dass das Geld nicht in einem schwarzen Loch versickert. Vielmehr fließt es zurück in den Einkommens- und Wirtschaftskreislauf. Die umverteilten Geldleistungen stabilisieren gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten der Nachfrage der privaten Haushalte.

In jedem Fall haben die öffentlich finanzierten Sach- und Dienstleistungen mit dem Gesundheits-, Pflege- und Sozialwesen große Wirtschaftssektoren entstehen lassen, die in den zurückliegenden Jahren die wesentlichen Treiber des Beschäftigungswachstums waren. Ohne die sozialen Berufe hätte der Beschäftigungsabbau in der Industrie nicht überkompensiert werden können.

Aus ökonomischer Sicht werden mit dem Sozialstaat die Ergebnisse des Marktprozesses umverteilt. Was ebenfalls wichtig ist: Ganze Sektoren wie das Gesundheits-, Pflege- und Sozialwesen werden aus dem reinen Zusammenhang von Angebot und privater, zahlungsfähiger Nachfrage herausgenommen. Denn die Nachfrage etwa nach Pflege oder ärztlicher Behandlung richtet sich nach dem persönlichen Bedarf und eben nicht nach dem persönlichen Einkommen. Das lässt sich nur durch eine öffentliche Finanzierung erreichen. Selbstverständlich kann nur das durch Abzüge vom Bruttoeinkommen umverteilt werden, was vorher auch produziert werden ist. Eine leistungsfähige Wirtschaft sichert die öffentlichen Einnahmen und damit die finanziellen Rahmenbedingungen für sozialpolitische Ausgaben. Produktivitätsfortschritte, Wirtschaftswachstum und steigende Bruttoeinkommen sorgen dafür, dass ausreichende Finanzressourcen zur Verfügung stehen. Allerdings ist der über Steuern und Beiträge finanzierte Sozialstaat kein „Kostgänger“ des Marktsektors. Er wirkt als produktiver und stabilisierender Faktor auf das wirtschaftliche Geschehen zurück. So liegt die Sicherung von Gesundheit, Qualifikation und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten im übergeordneten ökonomischen und gesellschaftlichen Interesse, auch wenn damit Unternehmen Kosten entstehen. So trägt eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die die Beschäftigten durch Weiterbildung und Umschulung qualifiziert, dazu bei, dass der wirtschaftliche und technische Strukturwandel leichter bewältigt wird. Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe und der frühkindlichen Betreuung und Erziehung sind wichtige Instrumente, um den Berufseinstieg junger Menschen zu fördern und prekäre Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit zu verhindern und damit kompensatorische Ausgaben (wie Arbeitslosengeld oder Bürgergeld) zu vermeiden. Durch Elternzeit und den Ausbau von Kindertageseinrichtungen können Beschäftigte mit Kindern erwerbstätig bleiben, was dabei hilft, den Fachkräftebedarf zu decken.

Die stabilisierende Wirkung des Sozialstaats hat sich beispielsweise während der weltweiten Banken und Finanzkrise 2008/2009 gezeigt. Deutschland hat diese Krise bemerkenswert schnell überwunden, weil der Staat gerade nicht die Rolle eines zurückhaltenden Beobachters angenommen hat, sondern mit einer expansiven Wirtschaftspolitik als aktiver und interventionistischer Akteur gehandelt hat. Eine wichtige Rolle spielte hier das Kurzarbeitergeld, das den Anstieg der Arbeitslosigkeit stark begrenzt hat. Auch während der Covid-Krise haben staatliche Interventionen stabilisierend gewirkt etwa, indem sie die Einkommen von abhängig Beschäftigte und Selbstständigen durch finanzielle Hilfen stabilisiert haben. Gleichwohl gibt es Grenzen des sozialen Ausgleichs: Die Interner Link: Krisenhaftigkeit des globalen Finanzkapitalismus kann der Sozialstaat nicht außer Kraft setzen, er kann jedoch die Folgen für einen Großteil der Menschen abmildern.

Verfolgt man die historische Entwicklung der Sozialpolitik, so haben soziale Leistungen immer auch eine Integrationsfunktion. Gerade Demokratien sind ohne ein ausgebautes und verlässliches soziales Sicherungssystem in ihrer Akzeptanz gefährdet. So haben die Erfahrungen zum Ende der Weimarer Republik gezeigt, dass rechtsextreme und faschistische Parteien die Oberhand gewinnen können, wenn bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder im Alter ein sozialer Absturz droht, die Existenzgrundlagen gefährdet sind und die Lebensperspektiven zunehmend unsicher werden. Derzeit lösen multiple Krisen Ängste und reale Unsicherheiten aus: die Covid-Pandemie, die Flucht- und Migrationsbewegungen, der Ukraine-Krieg, die Energiewende und die Anforderungen der ökologischen Transformation. All dies hat rechtspopulistische und rechtsextreme Strömungen und Parteien begünstigt. Rufe nach „einfachen“ und autoritären Lösungen werden lauter, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus nehmen zu, Migranten wird die Schuld an der Misere gegeben. Der soziale und politische Zusammenhalt in der Demokratie ist in Gefahr.

Eine starke Sozialpolitik kann die gegenwärtigen Krisen keineswegs lösen, erst recht nicht allein. Sie kann aber dazu beitragen, Menschen mehr Sicherheit zu geben, etwa bei der ökologischen Transformation. Und Sicherheit ist für die meisten Menschen extrem wichtig, das zeigt etwa eine Umfrage des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) von 2015. Das Besondere an dieser Befragung ist, dass den Menschen keine Antwortmöglichkeiten vorgegeben wurden, sondern sie selbst formulieren konnten, was für sie Lebensqualität bedeutet.

Die positiven Funktionen des Sozialstaates ändern nichts daran, dass die konkrete Ausgestaltung der Sozialpolitik immer mit Konflikten verbunden ist. Wie ein historischer Überblick zeigt, ist es in der Bundesrepublik vor allem in ökonomischen und politischen Krisenphasen immer wieder zu heftigen politischen Auseinandersetzungen gekommen. Rezessionen, Stagnationsphasen, Massenarbeitslosigkeit und Defizite in den öffentlichen Haushalten, hohe Belastungen von Wirtschaft und Beschäftigten durch Abgaben haben zum Aufflammen der Sozialstaatskritik und zu Forderungen nach einem Ab- und Umbau des gegenwärtigen Systems geführt. In Krisenzeiten verschärfen sich Verteilungskonflikte, Interessengegensätze treten offener zutage. Wächst die Wirtschaft, kann der Zuwachs verteilt werden. Schrumpft sie, stellt sich die Frage: Wessen Einkommen schrumpft und wessen Einkommen steigt trotz der Flaute?

Dabei wird im politischen Prozess darüber befunden, wofür der Sozialstaat zuständig sein soll und was der Markt regeln soll: Welches Leistungsniveau soll bei der sozialen Absicherung gelten? Welche Bevölkerungsgruppen sind einzubeziehen und an der Finanzierung zu beteiligen? Wie stark werden hohe Einkommen und Unternehmen zur Finanzierung des Sozialstaats herangezogen? All diese Fragen sind nicht wissenschaftlich zu klären, sondern normativer Natur. Es kommt darauf an, was gewollt wird. Die Ausgestaltung der Grundsicherung, konkret die Höhe des Bürgergelds, ist dafür das beste Beispiel. Die Grundsicherung soll das sozial-kulturelle Existenzminimum abdecken. Maßstab ist der Auftrag in Artikel 1 des Grundgesetzes, die Würde des Menschen zu sichern. In der politischen Debatte stehen sich zwei Positionen gegenüber: Für die eine Seite ist das Leistungsniveau zu niedrig, da es das Existenzminimum in einer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft nicht abdecke. Für die andere Seite sind die Bedarfssätze zu hoch, weil es sich nicht ausreichend lohne, eine Arbeit aufzunehmen und Beitrags- und Steuerzahler:innen übermäßig belaste.

Nach dem Gesetz gilt als Maßstab für die Bemessung der Regelbedarfe das statistisch erfasste Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Haushalten mit niedrigem Einkommen. Das Verfahren macht nur auf den ersten Blick den Eindruck einer Berechnung auf der Grundlage einer objektiven Datenbasis. Da entschieden werden muss, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden und welche Ausgabenpositionen als „regelbedarfsrelevant“ zu berücksichtigen sind, werden aber zwangsläufig auch hier normative Entscheidungen getroffen.

Letztlich geht es darum: Wie geht der „soziale Bundesstaat“ mit Kinder und Erwachsenen um, die – warum auch immer – nicht genügend Einkünfte aus Erwerbsarbeit oder Lohnersatzleistungen wie Rente haben? Welche Mindestsicherung gewährt er allen hier lebenden Menschen? Inwiefern ist es fair, bestimmten Gruppen wie Flüchtlingen weniger Mittel zu gewähren, um ihr sozio-kulturelles Existenzminimum zu sichern? Dafür gibt es keine objektive wissenschaftliche Antwort. Die Entscheidung hängt davon ab, welche normative Position sich politisch durchsetzt.

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker ist Volkswirt und Senior Professor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Informationsportals Externer Link: www.sozialpolitik-aktuell.de. 2024 erschien das Buch „Der Sozialstaat in Deutschland“ von Bäcker, Jürgen Boeckh und Ernst-Ulrich Huster.