Die Einkommensverteilung wird durch mehrere Aspekte bestimmt: die technologische und soziale Entwicklung, die Produktivität von Beschäftigten und die Machtverhältnisse. Bei der Erklärung konkreter Einkommensunterschiede spielen immer alle drei Faktoren mit unterschiedlichem Gewicht eine Rolle.
Schauen wir zunächst auf die Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Ländern. Selbst bei gleicher Ausbildung und Arbeitszeit erzielen Beschäftigte in einem wirtschaftlich weniger entwickelten Land niedrigere Einkommen als in einem höher entwickelten Land. Sie sind weniger produktiv, da sie mit alten Technologien und unzureichender Infrastruktur arbeiten. Aufgrund der geringeren Produktivität gibt es weniger zu verteilen als in Ländern mit höherer Arbeitsproduktivität.
Solche Länderunterschiede lassen sich nur durch eine technische und soziale Entwicklung verringern. Dazu gehören nicht nur Investitionen in neue Technologien und Maschinen, sondern auch der Ausbau des Bildungssystems und der Infrastruktur. Es müssen Eliten in Politik und Wirtschaft an die Macht kommen, die investieren und sich nicht nur selbst bereichern. Weiterhin müssen sie die Kontrolle über ihre Ressourcen (Rohstoffe und Handelsbeziehungen) bekommen, um sich aus der ökonomischen und politischen Abhängigkeit von anderen Ländern zu befreien. China, Singapur oder Südkorea sind gute Beispiele für erfolgreiche Aufholprozesse.
Auch in Europa finden sich Vorbilder für erfolgreiche Entwicklungen aus der Armut. Man denke nur an Finnland, das 1945 noch ein Agrarstaat war und heute nicht nur bei den Durchschnittseinkommen, sondern auch bei allen Indikatoren für hohe technologische Leistungsfähigkeit und gute Bildung weltweit in der Spitzengruppe liegt. Leider gibt es deutlich mehr Beispiele dafür, wie solche Aufholprozesse verhindert wurden, etwa durch militärische Interventionen von außen oder Staatsstreiche korrupter Eliten von innen. Dies gilt vor allem für rohstoffreiche Länder im Globalen Süden. Man denke nur an den Irak, Libyen, die Demokratische Republik Kongo oder Argentinien.
Warum sich die Einkommensunterschiede innerhalb von Ländern unterscheiden
Im nächsten Schritt schauen wir auf die regionalen Einkommensunterschiede innerhalb von Ländern. In manchen Staaten sind sie sehr hoch, und es finden sich Inseln mit niedrigem, mittlerem und hohem Wohlstandsniveau dicht beieinander. Ein bekanntes Beispiel ist Italien mit dem industriell entwickelten Norden, dem weniger entwickelten Mezzogiorno und armen Regionen, die durch Landwirtschaft mit vielen informellen und prekären Beschäftigungsverhältnissen geprägt sind. Die skandinavischen Länder sind hingegen trotz hoher Anteile dünn besiedelter Regionen sehr homogen.
Ein Finanzausgleich zwischen armen und reichen Regionen, eine aktive regionale Strukturpolitik, die Investitionen in ärmeren Regionen fördert, und landesweit gleiche Tariflöhne, die überall eine ähnliche hohe Kaufkraft sichern, verringern die regionalen Einkommensunterschiede.
Welche Rolle Machtauseinandersetzungen spielen, erleben wir in Deutschland in jeder politischen Diskussion über den Länderfinanzausgleich und bei den Entscheidungen über die Vergabe großer Infrastrukturprojekte. Das Ziel, gleiche Lebensbedingungen in allen Regionen zu sichern, ist immer politisch umkämpft und muss regelmäßig aufs Neue politisch gesichert werden. In der Regionalpolitik der EU sind die Verteilungskämpfe noch ungleich härter, da das verbindende Element einer nationalen Tradition des Finanzausgleichs fehlt. Aber trotz allen politischen Gezerres: Die Einkommensunterschiede in der EU sind zwar weiterhin sehr groß; sie haben sich aber durch die überdurchschnittlichen Lohnsteigerungen in den neuen EU-Mitgliedsländern Externer Link: deutlich verringert. Wenn allerdings Strukturmittel durch mafiöse Strukturen oder korrupte Eliten versickern, mindert sich der Effekt. Rechtsstaatlichkeit ist also ein unverzichtbarer Entwicklungsfaktor.
Wie Lohnunterschiede wachsen…
Kommen wir nun zu den Einkommensunterschieden zwischen Personengruppen innerhalb der Länder. Der rasante Anstieg der oberen Einkommen und die Zunahme gering bezahlter Arbeit in den meisten Ländern, auch in Deutschland, hat hier die Diskussion bestimmt. So sind hierzulande die oberen Gehälter über viele Jahre stärker gestiegen als die unteren. An der Spitze der Vergütung stehen die Dax-Vorstände. So verdienten 1987 Vorstandsvorsitzende von Dax-Unternehmen rund 15-mal so viel wie ein Durchschnittsverdiener. 2018 waren es Externer Link: 85-mal so viel. Mit einer wachsenden individuellen Produktivität in Relation zum Durchschnitt ist das nicht zu erklären, umso weniger, als der Fachkräfteanteil unter den Beschäftigten zugenommen hat.
Hinzu kommt, dass sich die Produktivität einzelner meist nicht messen lässt. Waren und Dienstleistungen sind in einer arbeitsteiligen Wirtschaft immer Gemeinschaftsprodukte. Auch die Pförtner und Reinigungskräfte haben daran ihren Anteil und es gibt keinen ökonomischen Grund, ihnen einen Hungerlohn zu zahlen.
Die Verteilung der Einkommen aus gemeinsam erzielter Wertschöpfung innerhalb eines Unternehmens oder einer Volkswirtschaft ist ein Machtkampf. In Ländern mit hoher Tarifbindung und gewerkschaftlichem Organisationsgrad wie in den skandinavischen Ländern, aber auch den Niederlanden und Belgien sind die Lohnunterschiede wesentlich kleiner als in Ländern mit geringerer Tarifbindung. Tarifverträge mit ihren differenzierten Lohngittern, die auch Qualifikation, Verantwortung und schwere Arbeitsbedingungen entlohnen, sind die Grundlage einer stabilen Mittelschicht.
Das war auch in Deutschland bis Mitte der 1990er Jahre so, als noch Externer Link: rund 80 Prozent aller Beschäftigten nach Tarif bezahlt wurden. Briefträger und Müllarbeiter gehörten selbstverständlich zur Mittelschicht. Seitdem ist die Tarifbindung auf heute nur 50 Prozent gesunken und es hat sich ein Externer Link: großer Niedriglohnsektor entwickelt. Abgesehen von einigen Spezialisten bekommen die meisten Beschäftigten, die auf sich allein gestellt sind, weniger als den Tariflohn und müssen dazu länger arbeiten.
Die Senkung der Tarifbindung ist eine Folge der Schwächung solidarischer Arbeitsmarktinstitutionen. Die Privatisierung ehemals öffentlicher Tätigkeiten, die Auslagerung von Tätigkeiten in nichttarifgebundene Subunternehmen, die Zunahme schlecht bezahlter Leiharbeit, der Einsatz ausländischer Werkvertragsnehmer zu niedrigeren Tätigkeiten, die Entlassung von Beschäftigten, die Betriebsräte bilden wollen, und der Widerstand gegen Instrumente, die niedrige Löhne eindämmen, schwächen die Verhandlungsposition Beschäftigten.
… und wie Lohnunterschiede wieder schrumpfen können
Durch die Stärkung solidarischer Arbeitsmarktinstitutionen, wie Mindestlöhne, Tarifverträge und Mitbestimmung, kann die Einkommensungleichheit wieder verringert werden.
Verfolgte die europäische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik seit den 1990ern eine Schwächung der Tarifbindung und des Mindestlohns, so markiert die Externer Link: Europäische Mindestlohnrichtlinie von 2022 die politische Wende der EU-Kommission. Die Richtlinie zwingt alle Länder mit einer Tarifbindung von weniger als 80 Prozent, also auch Deutschland, Ende 2025 einen Aktionsplan zur Erhöhung der Tarifbindung auf diese Größe vorzulegen.
Dafür gibt es viele Instrumente. Der Gesetzgeber kann die Akteure stärken, wie etwa die Gewerkschaften durch einen Ausbau der Mitbestimmung oder auch stärkere steuerliche Anreize, Gewerkschaftsmitglied zu werden. Durch eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit kann die Geltungskraft von Tarifverträgen auf die ganze Branche ausgedehnt werden. Durch Tariftreuegesetze werden öffentliche Aufträge nur an Betriebe vergeben, die ihren Beschäftigten dabei auch den Tariflohn zahlen. Tariftreue kann man zur Bedingung bei der Vergabe von Fördermitteln, etwa in der regionalen Strukturpolitik oder bei Ansiedlungen, machen.
Die Ablehnung von Mindest- und Tariflöhnen beruhte auf dem Argument, dass viele Beschäftigte durch diese Institutionen Löhne über ihrer Produktivität erhielten und daher entlassen oder nicht eingestellt würden. Entgegen allen Horrorprognosen zu Arbeitsplatzverlusten von bis zu vier Millionen gingen mit der Einführung des Mindestlohns in Deutschland und seiner Erhöhung auf zwölf Euro keine Arbeitsplätze verloren. Das gilt nach der neuen Forschung der OECD gleichermaßen für Tarifverträge.
Mit Tarifverträgen sinkt die Einkommensungleichheit, sie verschwindet aber nicht. Unbestritten ist, dass einige Tätigkeiten komplexer sind und eine längere Ausbildung und mehr Berufserfahrung benötigen – sie also auch besser bezahlt werden müssen. Die Unterschiede in der Bezahlung nach Qualifikation und Position in der Hierarchie hängt aber letztlich von gesellschaftlichen Konventionen und Bewertungen ab. Diese können sehr unterschiedlich sein. In Skandinavien mit seinen egalitären Normen sind die Einkommensunterschiede zwischen den Qualifikations- und Hierarchiegruppen geringer als in Deutschland, in den englischsprachigen Industrieländern sind sie größer.
Die Normen über gerechte Bezahlung verändern sich zudem. Eine geringere Bezahlung von Frauen war in Deutschland mit seinem dominanten Alleinernährer-Modell lange akzeptiert. Sogenannte Leichtlohngruppen für Frauen wurden inzwischen abgeschafft. Und: Teilzeitkräfte müssen bei gleicher Arbeit auch den gleichen Stundenlohn wie Vollzeitkräfte erhalten. Die Lohnunterschiede zwischen Branchen mit hohen Frauen- und Männeranteilen sind aber weiterhin beträchtlich. In vielen Tarifrunden geht es heute daher um die Aufwertung schlecht bezahlter Frauenarbeit, was in der Pflege über hohe tarifliche Mindestlöhne und ein Tariftreuegesetz gelungen ist. Das kann aber angesichts des im internationalen Vergleich weiterhin hohen Gender-Pay-Gaps nur ein Anfang sein.
Die Aufwertung schlecht bezahlter Tätigkeiten und Sicherung der Mittelschicht ist ohne eine Erhöhung der Tarifbindung nicht möglich. Tarifverträge sind „Gesetzbücher“ für die Arbeitswelt, die für Millionen von Beschäftigten gelten. Der Staat wäre zu derart vielfältigen branchenspezifischen Regulierungen nicht in der Lage. Dazu fehlen ihm sowohl die Sachnähe als auch der in der Wirtschaft unmittelbare Handlungsdruck. Da Gewerkschaften demokratische Organisationen sind und ganze Branchen organisieren, müssen sie die oft unterschiedlichen Interessen von Männern und Frauen, Beschäftigten in großen und kleinen Betrieben, In- und Ausländern sowie Arbeitern und Angestellten mit unterschiedlichen Qualifikationen ausgleichen. Nur durch einen solchen Interessensausgleich und die Durchsetzung von Tarifforderungen, oft auch im Konflikt, lassen sich Normen für eine faire Bezahlung erarbeiten, die in der Gesellschaft akzeptiert werden.
Dieses Aushandeln eines Interessenausgleichs ist ein ständiger Prozess, der in Tarifrunden stattfindet. Dort wird zum einen über regelmäßige Lohnerhöhungen verhandelt. Zum anderen werden längerfristige Veränderungen von gesellschaftlichen Wertvorstellungen aufgegriffen. Die bessere Bezahlung von Pflegearbeit ist hierfür ein Beispiel. Normen fairer Entlohnung am Schreibtisch auf der Basis wissenschaftlicher oder normativer Kriterien entwickeln und durchsetzen zu wollen, ist hingegen eine Illusion.