In Tarifauseinandersetzungen hört man von der Unternehmerseite immer wieder, die Forderungen der abhängig Beschäftigten nach einer besseren Bezahlung seien „zu hoch“. Umgekehrt stufen die Gewerkschaftsvertreter das Angebot der Arbeitgeber fortgesetzt als „zu niedrig“ ein.
Grundsätzlich bedeuten solche Kommentare zweierlei. Zum einen hegen beide Parteien offenbar abweichende Vorstellungen über die angemessene oder tragbare Vergütungsanpassung, mit der sie vor einer Konsensfindung die Ablehnung des Gegenvorschlags begründen. Zum anderen deuten die Stellungnahmen auf einen Verhandlungsspielraum hin, in dem allerdings weniger die unverändert vorgebrachten ökonomischen Gesichtspunkte das Ergebnis bestimmen. Vielmehr kommt es als Voraussetzung einer Einigung auf das Druckpotenzial an, das in der gegebenen konjunkturellen Großwetterlage den jeweiligen Opponenten schließlich zu einer akzeptablen Annäherung an die eigene Position bewegt. Dieser pauschale Hinweis informiert aber noch nicht darüber, inwieweit erzielte Tarifkompromisse regelmäßig die konträren wirtschaftlichen Interessen tatsächlich berücksichtigen.
Zunächst wirken die Argumentationsmuster beider Kontrahenten plausibel. Der Gewinn eines Betriebs ergibt sich aus der Differenz zwischen den Erlösen und den Gesamtkosten, die das Entgelt der Belegschaft einschließen. Unternehmenssprecher betonen, dass „illusorische“ Lohnsteigerungen Gewinneinbußen oder gar Verluste hervorrufen. Dies mindere die Attraktivität des Standorts und beeinträchtige neue Investitionen. Daneben sähen sich die betroffenen Anbieter leider gezwungen, die Preise zu erhöhen. Dies reduziere die verkaufte Menge und führe deshalb über kurz oder lang zu einer insgesamt geringeren Beschäftigung. Ein überzogenes Plus in der Lohntüte schade damit nicht nur den von der Teuerung betroffenen Käufern, sondern gefährde außerdem Arbeitsplätze. Insbesondere die in Deutschland wichtige Exportwirtschaft verweist zudem darauf, dass ihre Verkaufserlöse in der weiten Welt von attraktiven Preisen und somit von wettbewerbsfähigen Löhnen abhängen.
Dieser Überlegung halten Gewerkschaftsfunktionäre entgegen, dass mit wachsenden Masseneinkommen auch Importwaren gekauft werden, was sich dank der Mehreinnahmen des Auslands dann in gestiegenen Ausfuhren niederschlage. Der Löwenanteil der größeren Kaufkraft abhängig Beschäftigter stimuliere jedoch direkt die Binnennachfrage. Zunächst scheinbar negative Effekte von Lohnsteigerungen werden demnach wahrscheinlich überkompensiert und es könnten sogar zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Diesen Gedankengang lehnen die Arbeitgeber ab, weil einerseits keineswegs klar ist, welche Firmen von höheren Gehältern der Belegschaften profitieren und andererseits würden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einen beträchtlichen Teil des Mehrverdiensts absorbieren. Dieses Argument lässt sich damit entkräften, dass Steuern und Abgaben in aller Regel nicht im Nirwana verschwinden, sondern im volkswirtschaftlichen Kreislauf weiterhin zirkulieren, solange der Staat und die Sozialversicherungshaushalte ihre Einnahmen wieder ausgeben. Vor dieser Kulisse erhebt sich die Frage, auf welches Ergebnis Lohnfindungsprozesse zusteuern und welche Merkmale einen Interessenausgleich zwischen den Tarifpartnern kennzeichnen.
Die funktionale Verteilung
Im Zentrum der Analyse steht dabei die sogenannte funktionale Verteilung, also die Bestimmung des Einkommens, das an die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital fließt. Hierbei lassen sich die Entlohnung der abhängig Beschäftigten und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen jeweils brutto oder netto – mit oder ohne Steuern und gegebenenfalls der Sozialversicherungsbeiträge – betrachten.
Das Statistische Bundesamt berechnet mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Summe der einzelnen, um die Vorleistungen verringerten Produktionswerte innerhalb der geographischen Grenzen Deutschlands für einen bestimmten Zeitraum (beispielsweise ein Quartal oder ein Jahr). Die Erbringung der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung geht mit verschleißbedingten Abschreibungen auf den Kapitalstock (Gebäude, Anlagen und Maschinen) mit zurzeit rund 20 Prozent einher. Subtrahiert man diese Wertminderung vom BIP, erhält man das Volkseinkommen. Davon entfallen in Deutschland ungefähr Externer Link: 70 Prozent auf das Arbeitnehmerentgelt (inklusive aller Abgaben). Den Rest von 30 Prozent macht das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen aus.
Das gegenüber dem BIP geringere Volkseinkommen dient üblicherweise als Bezugsbasis der Einkommen von Arbeit und Kapital, um die Anteile am verteilbaren Nettoertrag anzugeben. Jedoch müsste dafür eigentlich der notwendige Konsum zur Reproduktion der Arbeitskraft, etwa Ausgaben für Wohnraum und Lebensmittel, gleichfalls von der Bruttolohnsumme abgezogen werden, womit die so korrigierte Lohnquote geringer ausfiele. Allerdings ist die angemessene Höhe solcher „Erhaltungsaufwendungen des Arbeitsvermögens“ – ebenso wie die Berechnung des Existenzminimums – durchaus umstritten.
Die Differenz zwischen BIP und Arbeitsnehmerentgelt entspricht dem Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Die Maximierung dieses Rohgewinns inklusive der Abschreibungen sowie der Verzinsung des eingesetzten Finanzkapitals ist die treibende Kraft der kapitalistischen Warenproduktion. Bemerkenswerterweise verteilt sich in zahlreichen entwickelten Volkswirtschaften das BIP über viele Jahre praktisch zur Hälfte auf die Bruttoeinkommen von Arbeit und Kapital. Die Abbildung zeigt am Beispiel Deutschland das Verharren auf dem genannten Niveau.