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Der Lohn – Kaufkraft oder Kosten? | Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Der Lohn – Kaufkraft oder Kosten?

Fritz Helmedag

/ 5 Minuten zu lesen

Laut Unternehmensvertretern bremsen hohe Arbeitskosten das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Gewerkschaften dagegen weisen darauf hin, dass der Lohn den privaten Konsum stützt. Wer hat recht?

Nahaufnahme gestapelter Euro-Banknoten – Lohnkosten oder Konsumkraft? (© picture-alliance, SZ Photo | Wolfgang Filser)

In Tarifauseinandersetzungen hört man von der Unternehmerseite immer wieder, die Forderungen der abhängig Beschäftigten nach einer besseren Bezahlung seien „zu hoch“. Umgekehrt stufen die Gewerkschaftsvertreter das Angebot der Arbeitgeber fortgesetzt als „zu niedrig“ ein.

Grundsätzlich bedeuten solche Kommentare zweierlei. Zum einen hegen beide Parteien offenbar abweichende Vorstellungen über die angemessene oder tragbare Vergütungsanpassung, mit der sie vor einer Konsensfindung die Ablehnung des Gegenvorschlags begründen. Zum anderen deuten die Stellungnahmen auf einen Verhandlungsspielraum hin, in dem allerdings weniger die unverändert vorgebrachten ökonomischen Gesichtspunkte das Ergebnis bestimmen. Vielmehr kommt es als Voraussetzung einer Einigung auf das Druckpotenzial an, das in der gegebenen konjunkturellen Großwetterlage den jeweiligen Opponenten schließlich zu einer akzeptablen Annäherung an die eigene Position bewegt. Dieser pauschale Hinweis informiert aber noch nicht darüber, inwieweit erzielte Tarifkompromisse regelmäßig die konträren wirtschaftlichen Interessen tatsächlich berücksichtigen.

Zunächst wirken die Argumentationsmuster beider Kontrahenten plausibel. Der Gewinn eines Betriebs ergibt sich aus der Differenz zwischen den Erlösen und den Gesamtkosten, die das Entgelt der Belegschaft einschließen. Unternehmenssprecher betonen, dass „illusorische“ Lohnsteigerungen Gewinneinbußen oder gar Verluste hervorrufen. Dies mindere die Attraktivität des Standorts und beeinträchtige neue Investitionen. Daneben sähen sich die betroffenen Anbieter leider gezwungen, die Preise zu erhöhen. Dies reduziere die verkaufte Menge und führe deshalb über kurz oder lang zu einer insgesamt geringeren Beschäftigung. Ein überzogenes Plus in der Lohntüte schade damit nicht nur den von der Teuerung betroffenen Käufern, sondern gefährde außerdem Arbeitsplätze. Insbesondere die in Deutschland wichtige Exportwirtschaft verweist zudem darauf, dass ihre Verkaufserlöse in der weiten Welt von attraktiven Preisen und somit von wettbewerbsfähigen Löhnen abhängen.

Dieser Überlegung halten Gewerkschaftsfunktionäre entgegen, dass mit wachsenden Masseneinkommen auch Importwaren gekauft werden, was sich dank der Mehreinnahmen des Auslands dann in gestiegenen Ausfuhren niederschlage. Der Löwenanteil der größeren Kaufkraft abhängig Beschäftigter stimuliere jedoch direkt die Binnennachfrage. Zunächst scheinbar negative Effekte von Lohnsteigerungen werden demnach wahrscheinlich überkompensiert und es könnten sogar zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Diesen Gedankengang lehnen die Arbeitgeber ab, weil einerseits keineswegs klar ist, welche Firmen von höheren Gehältern der Belegschaften profitieren und andererseits würden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einen beträchtlichen Teil des Mehrverdiensts absorbieren. Dieses Argument lässt sich damit entkräften, dass Steuern und Abgaben in aller Regel nicht im Nirwana verschwinden, sondern im volkswirtschaftlichen Kreislauf weiterhin zirkulieren, solange der Staat und die Sozialversicherungshaushalte ihre Einnahmen wieder ausgeben. Vor dieser Kulisse erhebt sich die Frage, auf welches Ergebnis Lohnfindungsprozesse zusteuern und welche Merkmale einen Interessenausgleich zwischen den Tarifpartnern kennzeichnen.

Die funktionale Verteilung

Im Zentrum der Analyse steht dabei die sogenannte funktionale Verteilung, also die Bestimmung des Einkommens, das an die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital fließt. Hierbei lassen sich die Entlohnung der abhängig Beschäftigten und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen jeweils brutto oder netto – mit oder ohne Steuern und gegebenenfalls der Sozialversicherungsbeiträge – betrachten.

Das Statistische Bundesamt berechnet mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Summe der einzelnen, um die Vorleistungen verringerten Produktionswerte innerhalb der geographischen Grenzen Deutschlands für einen bestimmten Zeitraum (beispielsweise ein Quartal oder ein Jahr). Die Erbringung der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung geht mit verschleißbedingten Abschreibungen auf den Kapitalstock (Gebäude, Anlagen und Maschinen) mit zurzeit rund 20 Prozent einher. Subtrahiert man diese Wertminderung vom BIP, erhält man das Volkseinkommen. Davon entfallen in Deutschland ungefähr Externer Link: 70 Prozent auf das Arbeitnehmerentgelt (inklusive aller Abgaben). Den Rest von 30 Prozent macht das Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen aus.

Das gegenüber dem BIP geringere Volkseinkommen dient üblicherweise als Bezugsbasis der Einkommen von Arbeit und Kapital, um die Anteile am verteilbaren Nettoertrag anzugeben. Jedoch müsste dafür eigentlich der notwendige Konsum zur Reproduktion der Arbeitskraft, etwa Ausgaben für Wohnraum und Lebensmittel, gleichfalls von der Bruttolohnsumme abgezogen werden, womit die so korrigierte Lohnquote geringer ausfiele. Allerdings ist die angemessene Höhe solcher „Erhaltungsaufwendungen des Arbeitsvermögens“ – ebenso wie die Berechnung des Existenzminimums – durchaus umstritten.

Die Differenz zwischen BIP und Arbeitsnehmerentgelt entspricht dem Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Die Maximierung dieses Rohgewinns inklusive der Abschreibungen sowie der Verzinsung des eingesetzten Finanzkapitals ist die treibende Kraft der kapitalistischen Warenproduktion. Bemerkenswerterweise verteilt sich in zahlreichen entwickelten Volkswirtschaften das BIP über viele Jahre praktisch zur Hälfte auf die Bruttoeinkommen von Arbeit und Kapital. Die Abbildung zeigt am Beispiel Deutschland das Verharren auf dem genannten Niveau.

Die Goldene Lohnregel

Wie lässt sich angesichts der teilweise zähen Lohnkämpfe (und dem Konjunktureinbruch während der Corona-Pandemie) die nahezu perfekte langfristige Konstanz der auf das BIP bezogenen funktionalen Verteilung erklären? Die Antwort ergibt sich zunächst daraus, dass aus gesamtwirtschaftlicher Sicht die Tarifkompromisse regelmäßig auf eine Dynamik der Bruttolohnsumme hinauslaufen, die der des nominalen Bruttoinlandsprodukts folgt. Das bedeutet im idealtypischen Fall: Steigt das BIP um ein Prozent, so nimmt die gesamte Bruttolohnsumme ebenfalls um ein Prozent zu. Diese Übereinstimmung festigt den Anteil der Arbeitsentgelte am BIP.

Der empirische Befund entspricht dem normativen Ziel der „Goldenen Lohnregel“: Vergütungsanpassungen sollen keinen Einfluss auf die funktionale Verteilung der Einkommen zwischen Arbeit und Kapital ausüben. Die Maxime verlangt deshalb, dass die Bruttostundenlöhne mit derselben Rate variieren wie die nominale Arbeitsproduktivität, gemessen als durchschnittlicher Bruttoertrag einer Arbeitsstunde.

Wie sich die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität berechnen lässt, sei an einem Beispiel verdeutlicht. 2019 wuchs das nominale BIP im Vergleich zum Vorjahr Externer Link: laut Statistischem Bundesamt um 3,2 Prozent (Tabelle 1.4). Das Arbeitsvolumen – die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden aller Erwerbstätigen – vergrößerte sich im selben Zeitraum um 0,4 Prozent (Tabelle 2.7). Die nominale Arbeitsproduktivität stieg demnach um 3,2 Prozent minus 0,4 Prozent, also um 2,8 Prozent. Wenn die Bruttostundenlöhne im Schnitt mit dieser Rate zunehmen, bleibt der Anteil der Arbeitnehmerentgelte an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung gleich. Tatsächlich erhöhten sich die Bruttostundenlöhne 2019 ein wenig stärker – die auf das BIP bezogene Lohnquote bewegte sich folglich etwas nach oben (siehe Abbildung). Ab 2021 ging die Kennziffer zunächst geringfügig zurück, um danach wieder ein wenig anzusteigen.

Offenbar behauptet sich über alle Wirtschaftszweige hinweg und auf längere Sicht die Goldene Lohnregel als Gravitationszentrum, das trotz gewisser Besonderheiten auch auf einzelne Branchen ausstrahlt. So fordern Dienstleistungsgewerkschaften (mindestens) Lohnerhöhungen, die neben einem Inflationsausgleich die gesamtwirtschaftliche statt der systematisch geringeren sektorspezifischen Produktivitätsentwicklung umfassen. Zwar klettern damit die Preise für Dienstleistungen im Verhältnis zu den Erzeugnissen der gewerblichen Wirtschaft, doch die funktionale Verteilung verharrt auf dem einmal etablierten Level.

Mit den bisherigen Darlegungen ist freilich noch nicht erklärt, welches Niveau der Arbeitsentgelte am BIP die Goldene Lohnregel konsolidiert. Modelltheoretische Überlegungen zeigen indes, dass es Unternehmen, soweit sie an Arbeitnehmer verkaufen, den meisten Gewinn bringt, wenn der Durchschnittslohn pro Stunde 50 Prozent der Arbeitsproduktivität pro Stunde (BIP geteilt durch die Gesamtzahl der Arbeitsstunden) ausmacht. Im Endeffekt partizipieren dann die abhängig Beschäftigten und die Gewinnbezieher mitsamt den Vermögensbesitzern praktisch halbe-halbe an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, wie es die oben präsentierte Abbildung exemplarisch zeigt.

Der Lohn ist also beides: Kostenfaktor sowie Kaufkraftkomponente. Jedoch existiert ein Gleichgewicht, in dem sich einander entgegengerichtete Kräfte die Waage halten. Zum einen determinieren ökonomische Gesetzmäßigkeiten die ziemlich äquivalente Teilung des Bruttoinlandsprodukts zwischen Arbeit und Kapital. Zum anderen stabilisiert im Zeitablauf die Orientierung der Tarifabschlüsse an der Goldenen Lohnregel diese Verteilung.

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Prof. Dr. Fritz Helmedag ist Angehöriger der Technischen Universität Chemnitz und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Beschäftigungstheorie und -politik, Produktions-, Wert- und Kapitaltheorie sowie die Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen.