👋 Hey! Hier kommt die zehnte Ausgabe von Interner Link: “Zahlen, bitte!”. Henrik Müller erklärt, was letzten Monat in der Wirtschaftspolitik wichtig war. Deutschland steckt in der längsten wirtschaftlichen Schwächephase seit 1949. Die Konjunktur schwankt zwar naturgemäß, gerade bleibt die Wirtschaftsleistung aber klar unter ihren Möglichkeiten. Trotz allem erwarten die Wirtschaftsinstitute eine allmähliche Erholung – mit ersten positiven Wachstumsraten im kommenden Jahr.
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Von Henrik Müller
🤔 Was ist los?
Im Frühjahr gehen die großen Wirtschaftsforschungsinstitute traditionell mit ihren Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung an die Öffentlichkeit. Mitte Mai schloss sich der Reigen vorerst mit dem Frühjahrsgutachten des Sachverständigenrats Wirtschaft („Fünf Weise“). Übereinstimmender Kernbefund: Die Aussichten sind fast genauso bescheiden wie die Lage.
2025 dürfte das dritte Jahr in Folge werden, in dem die Wirtschaft nicht wächst, sondern womöglich sogar weiter schrumpft. Deutschland steckt in der längsten wirtschaftlichen Schwächephase seit Gründung der Bundesrepublik.
In Interner Link: Zahlen, bitte! #1 haben wir uns mit der strukturellen Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft beschäftigt. Im Mittelpunkt standen dabei langfristige Fragen:
👵🏻 die Auswirkungen der Alterung der Gesellschaft,
All das sind die Faktoren, die den langfristigen Wachstumspfad einer Volkswirtschaft („Potenzialwachstum“) bestimmen. In dieser Ausgabe geht es um das zyklische Auf und Ab, eben jene konjunkturellen Schwankungen, die in den Nachrichten das Bild bestimmen.
Dass die Konjunktur, also die zyklische Entwicklung der Wirtschaft, schwankt, ist zunächst normal. Phasen des Aufschwungs wechseln sich im Laufe des Konjunkturzyklus mit jenen der Stagnation und des Abschwungs ab. Im Idealfall geht dabei aber der Wachstumspfad insgesamt nach oben (siehe Schaubild).
Konjunkturzyklus.
Konjunkturzyklus. Die einzelnen Phasen des Konjunkturzyklus
Konjunkturzyklus. Die einzelnen Phasen des Konjunkturzyklus
⚠️ Wo ist das Problem?
Die Auswirkungen der langen Rezession in Deutschland sind erheblich: Die Einkommen stagnieren, die Arbeitslosigkeit steigt allmählich, die Staatsfinanzen stehen unter Druck, weil weniger Sozialabgaben und Steuern in die öffentlichen Kassen fließen als erhofft.
In der wirtschaftspolitischen Debatte gehen verschiedene Definitionen einer Rezession durcheinander. Unter einer solchen vorübergehenden Schwächephase versteht man üblicherweise eine Situation, in der die Wirtschaftsleistung – das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – über einen gewissen Zeitraum zurückgeht. In den USA gelten zwei Quartale Schrumpfung in Folge als Rezession. Gelegentlich wird auch ein Minus über ein gesamtes Jahr als Rezession verstanden.
Grafik 1a zeigt die Veränderung von Quartal zu Quartal, und Grafik 1b die jahresdurchschnittliche Wachstumsrate für die jüngste Vergangenheit. Die durchgezogene Kurve stellt die Entwicklung des quartalsweisen BIP in Euro dar. Dabei ist die Inflation bereits herausgerechnet. Demnach liegt die reale Wirtschaftsleistung gegenwärtig niedriger als vor drei Jahren. Was die quartalsweise Entwicklung angeht, lässt sich eine Zickzack-Bewegung feststellen: Auf ein Vierteljahr mit positivem Vorzeichen folgte stets eines mit negativem. Im Jahresmittel überwog zuletzt die Schrumpfung, sodass Werte von -0,3 und -0,2 für die Jahre 2023 und 2024 herauskamen.
Für Bürger und Unternehmen ist eigentlich die Frage wichtiger, wie stark die tatsächliche aktuelle Wirtschaftsleistung vom langfristigen Wachstumspfad abweicht. Denn das kann das gesellschaftliche Wohlbefinden empfindlich beeinträchtigen. Eine solche Konstellation kann auch bei positiver BIP-Entwicklung eintreten („Growth Recession“).
Generell gilt: Starke Abweichungen des BIP von den Produktionsmöglichkeiten sind problematisch. Bei einer Unterauslastung der Kapazitäten („negative Produktionslücke“) stehen beispielsweise ungenutzte Maschinen in den Fabrikhallen herum. Beschäftigte werden nicht gebraucht, in Kurzarbeit geschickt oder entlassen, sodass die Arbeitslosigkeit steigt.
Bei einer Überauslastung („positive Produktionslücke“) hingegen übersteigt die Nachfrage das kurzfristig verfügbare Angebot an Dienstleistungen und Gütern. In solchen Situationen fahren Firmen Sonderschichten. Beschäftigte machen mehr Überstunden als sonst. Entsprechend steigen typischerweise Kosten, Preise und letztlich die Inflation.
Grafik 2 zeigt die Produktionslücke, wie sie Wirtschaftsforscher berechnen, und den Grad der Kapazitätsauslastung, ermittelt durch Umfragen des ifo-Instituts bei Firmen. Beide Größen dümpeln derzeit im negativen Bereich. Das heißt: Es werden nicht so viele Produkte aus dem In- und Ausland nachgefragt, wie die Wirtschaft eigentlich produzieren könnte. Demnach erlebt Deutschland derzeit eine recht ausgeprägte Rezession – nicht so stark wie während der Corona-Krise oder der Finanzkrise 2009, aber doch deutlich. Entsprechend steigt die Arbeitslosigkeit allmählich an. Auch die Steuereinnahmen des Staates fallen schwächer aus.
📰 Ist das neu?
Im 19. Jahrhundert waren heftige Schwankungen der Wirtschaftsleistung die Regel. Die beiden wichtigsten Sektoren waren damals Landwirtschaft und Industrie. Von einem Jahr aufs andere konnten Ernteerträge und Industrieproduktion stark zulegen, um kurz darauf einzubrechen.
Im 20. Jahrhundert hat sich die konjunkturelle Entwicklung beruhigt. Das liegt vor allem an zwei Gründen:
1️⃣ Erstens hat sich die Wirtschaftsstruktur stark verschoben. Dienstleistungen, die inzwischen den mit Abstand größten Teil zur Wirtschaftsleistung in den entwickelten Volkswirtschaften beitragen, sind weniger schwankungsanfällig.
2️⃣ Zweitens spielt der Staat in entwickelten Volkswirtschaften heute eine tragende Rolle, etwa durch den Ausbau von Sozialversicherungen, was zu einer automatischen Stabilisierung beiträgt: Wenn Beschäftigte arbeitslos werden, fallen sie nicht ins Bodenlose, sondern haben Anspruch auf Transferzahlungen und können auf dieser Basis weiterhin konsumieren und somit auch die Wirtschaft stützen. In Deutschland beläuft sich der Staatsanteil am BIP derzeit auf knapp 50 Prozent.
Im 19. Jahrhundert unternahm der Staat kaum etwas, um den Konjunkturverlauf zu glätten. Heute hingegen ist die aktive Eindämmung von Schwankungen ein zentraler Bereich der Wirtschaftspolitik. Und die Produktionslücke ist dabei ein wichtiger Indikator. Notenbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) senken bei unterausgelasteten Kapazitäten die Zinsen, in Boomphasen steuern sie mit steigenden Zinsen gegen. Auch die Finanzpolitik soll sich an der Produktionslücke orientieren. In Schwächephasen sind Staaten eher geneigt, zusätzliche Ausgaben durch neue Schulden zu finanzieren. Flexible Wechselkurse (siehe Interner Link: Zahlen, bitte #9) helfen ebenfalls bei der Stabilisierung, weil ein schwacher Konjunkturverlauf in einem Land tendenziell mit einer Abwertung der jeweiligen Währung einhergeht, was die Produkte auf dem Weltmarkt vergleichbar günstig macht und so die Exportnachfrage ankurbelt.
Seit den 1950er Jahren waren BIP-Rückgänge stets Ausnahmesituationen. Die gegenwärtige Schwäche ist erst das achte Minus in der Geschichte der Bundesrepublik (Grafik 3). Umso bemerkenswerter ist die aktuelle Ausdehnung der Schwächephase.
⏩ Was passiert als nächstes?
Wie in früheren Ausgaben von „Zahlen, bitte!“ gezeigt, steckt Deutschland derzeit in einer Strukturkrise: Die traditionell starke Interner Link: exportorientierte Industrie schrumpft, weil sich die weltwirtschaftlichen und geopolitischen Bedingungen rapide verschoben haben. Zugleich überlagert die aktuelle Nachfrageschwäche die Entwicklung. Dieses Zusammenspiel von kurz- und langfristigen Faktoren spricht gegen eine rasche Rückkehr zu deutlich beschleunigten Wachstumsraten.
Immerhin: Die gängigen Prognosen sehen eine allmähliche Erholung voraus. So prognostizieren die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer aktuellen „Gemeinschaftsdiagnose“, dass die Konjunktur im Laufe dieses Jahres anzieht und kommendes Jahr eine Wachstumsrate von 1,3 Prozent erreichbar erscheint (Grafik 1 oben). Für eine positive Entwicklung spricht insbesondere der veränderte finanzpolitische Kurs Deutschlands. Die schwarzrote Bundesregierung hat die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben aufgehoben und will massiv Geld in die Aufrüstung des Militärs pumpen. Außerdem sollen über die kommenden Jahre 500 Milliarden Euro zusätzlich in die Modernisierung der Infrastruktur fließen, ebenfalls finanziert durch neue Schulden. Beides zusammen dürften einen kräftigen Nachfrageimpuls auslösen. Inwieweit sich dieses Geld in einem dauerhaft höheren Potenzialwachstum niederschlägt, hängt davon ab, wie effizient der Staat diese zusätzlichen Mittel einsetzt.
Zugleich gibt es eine Menge Unwägbarkeiten. Dazu zählt insbesondere die Handelspolitik. Sollte sich der von US-Präsident Donald Trump angezettelte Interner Link: Zollkonflikt in einen ausgewachsenen weltweiten Interner Link: Handels- und Währungskrieg ausweiten, wäre die offene deutsche Volkswirtschaft besonders stark betroffen. Auch eine Zuspitzung im militärischen Konflikt mit Russland könnte für erhebliche Verunsicherung sorgen: Angesichts einer unsicheren Zukunft könnten Unternehmen weniger investieren und die Bürger lieber sparen.
Hier gibt's Antworten auf eure Fragen zur letzten Ausgabe:
Wie erpressbar wären die USA, z. B. durch China, wenn „man“ die hohen Devisenvorräte abbauen würden – oder würde das genau die Aufwertung anderer Länder Währungen einschließlich Chinas und damit den von Trump erwünschten Abwertungseffekt für die USA bringen?
China hält tatsächlich US-Staatsanleihen in großem Stil – laut Externer Link: Reuters über 780 Milliarden US-Dollar. In den vergangenen Jahren hat die chinesische Notenbank nach und nach Dollars verkauft und insbesondere Gold gekauft. Du hast Recht: Prinzipiell verfügt Peking mit den nach wie vor großen Dollar-Reserven über ein mächtiges Drohpotenzial. Theoretisch wäre es möglich, dass China auf einen Schlag große Mengen an US-Staatsanleihen auf den Markt wirft. Es wäre eine radikale Maßnahme, die die USA in eine Finanzkrise stürzen könnte. Auf jeden Fall wäre es ein enormer Stress für den Markt für US-Staatsanleihen („Treasuries“). Es würde zu immensen Turbulenzen in der Weltwirtschaft kommen und die Rolle des Dollars als Weltwährung weiter beschädigen. China, das stark vom Export abhängig ist, würde sich damit selbst schädigen. Dieses Szenario ist also zum jetzigen Stand extrem unwahrscheinlich.
Wie wirkt sich die Währungskrise auf den Immobilienmarkt aus? Neben Gold ist das doch auch ein (sicherer) Hafen, oder?
Ich würde sagen: Prinzipiell gibt es keine sicheren Häfen. Alle Vermögenswerte sind mit Risiken behaftet, auch Immobilien. Immobilien waren bis zum Ende der Corona-Pandemie sehr teuer (und werden es gerade wieder), gemessen an den Mieten und den Einkommen vermutlich so teuer wie noch nie – eine Folge der langen Niedrigzinspolitik der Notenbanken. Wenn du aber eine teure Eigentumswohnung kaufst und überwiegend auf Kredit finanzierst, wie das die meisten Käufer tun, hast du ein Problem, wenn die Preise genau dann fallen, wenn du die Wohnung wieder verkaufen willst oder musst. Dann kannst Du den Kredit mit dem Verkaufserlös nicht ablösen.“ Wenn du die Immobilie verkaufst, kannst du deinen Kredit mit dem Erlös nicht ablösen. Noch etwas: Wenn du in einer Gegend ein Haus hast, wo die Bevölkerungszahl abnimmt, dann ist es möglich, dass dein Haus nur mit Verlust oder sogar völlig unverkäuflich ist. Das ist heute in manchen Regionen Deutschlands schon so. In den kommenden Jahrzehnten wird zum Beispiel erwartet, dass die Zahl der Haushalte in vielen ländlichen Gegenden stark sinken wird.
Wie können Volkswirtschaften auf nationaler Ebene Wohlstand schaffen, ohne mit anderen Ländern ausgiebigen Handel zu betreiben? Und wie könnte Deutschland seinen Wohlstand erhalten, wenn der bisher starke Export (Außenhandel), in Zukunft nur noch eine Nebenrolle spielt?
Zur ersten Frage: Gar nicht. Geschlossene Volkswirtschaften stehen eindeutig schlechter da. Internationale Arbeitsteilung ist prinzipiell vorteilhaft. Wenn sich Länder auf Fähigkeiten spezialisieren, bei denen sie Vorteile haben, dann steigert das die Produktivität und die erhöht den Wohlstand. Interner Link: Autarkie ist keine Lösung, sondern ein Verarmungsprogramm. Beispiele dafür gibt es zuhauf in der jüngeren und älteren Wirtschaftsgeschichte. Eine andere Frage sind einseitige Abhängigkeiten, die Volkswirtschaften erpressbar machen – etwa, wenn China die gesamte Wertschöpfungskette der Batterieproduktion beherrscht. Sich dagegen strategisch zu wappnen, ist richtig. Was du bezüglich Deutschlands ansprichst, ist aber noch ein anderes Thema: nämlich das der außenwirtschaftlichen Überschüsse. Wenn ein Land sehr viel mehr exportiert als es im importiert, leidet darunter der Wohlstand der Nation. Denn ein dauerhafter Exportüberschuss bedeutet, dass ein Land stets mehr herstellt, als es konsumiert. Gewinne, die im Außenhandel eingefahren werden, fließen nicht in höhere Löhne und Investitionen im Inland, sondern werden im Ausland investiert. Genau das ist in Deutschland durchgängig seit mehr als 20 Jahren der Fall. Der Zustand des Landes und der Wirtschaft ist entsprechend. Wir sitzen auf einem veralteten Kapitalstock, während die Produktivität im Schnitt sinkt. Dieser Zustand spricht nicht gegen Außenhandel, sondern gegen übermäßige Überschüsse.
Henrik Müller, Boris Blagov, Torsten Schmidt, Jonas Rieger, Carsten Jentsch, Externer Link: The macroeconomic impact of asymmetric uncertainty shocks, The Journal of Economic Asymmetries, 1/2025. Für Leute, die tiefer einsteigen möchten: Gemeinsam mit Forscherkollegen haben wir einen Unsicherheitsindikator für die deutsche Wirtschaft entwickelt und zeigen, wie unterschiedlich sich verschiedene Arten von Unsicherheit auf die Konjunktur auswirken.
Die Konjunktur schwankt naturgemäß, gerade bleibt die Wirtschaftsleistung in Deutschland aber klar unter ihren Möglichkeiten. Trotz allem erwarten die Wirtschaftsinstitute eine allmähliche Erholung.
Um die Industrie zurück in die USA zu holen, braucht Präsident Trump einen schwächeren Dollar. Doch der Welthandel fußt auf dem US-Dollar. Und wenn der schwankt, hat das Folgen für die Weltwirtschaft.
US-Präsident Trump könnte mit seinen Zöllen den Welthandel schwächen. Aber wann sind Zölle schädlich und wann können sie sinnvoll sein? Außerdem: wie US-Zölle 1930 schon einmal den Welthandel trafen.
Andrei Yakovlev erklärt wie resilient die rusische Wirtschaft nach drei Jahren Krieg ist und welche Reserven in Wirtschaft und Staatsbudget vorhanden sind.
Kann Wirtschaftspolitik überhaupt etwas ausrichten? Muss Wachstum sein? Warum steigt der DAX, wenn die Wirtschaft schrumpft? In dieser Ausgabe beantworten wir eure Fragen zu Wirtschaft und Politik.