Die Geschichte von AMCHA – der Selbsthilfeorganisation von Shoah-Überlebenden – ist die einer Auseinandersetzung mit Erinnern und Vergessen sowie Verantwortung und Selbstbestimmung im Umgang mit der traumatisierenden Vergangenheit der Interner Link: Shoah. Diese Ambivalenz ist zumeist Teil eines Verarbeitungsprozesses von direkt Betroffenen mit ihren eigenen traumatisierenden Erfahrungen. Erinnern und Vergessen ist aber auch Teil des Umgangs einer Gesellschaft damit. In diesem Kontext ist die Gründung der Organisation AMCHA in Israel und Deutschland zu verorten.
Genug behandelt? Der Bedarf an Hilfe steigt 75 Jahre nach der Befreiung
Schon zur Zeit der Interner Link: Verfolgung durch die Nationalsozialisten war amcha, aus dem Hebräischen Dein Volk, sinngemäß für Du bist von uns, ein Erkennungszeichen unter jüdisch Verfolgten. Der Name steht heute für eine Organisation, in der Menschen zusammenkommen, die das Schicksal teilen, im Interner Link: Nationalsozialismus als Jüdinnen und Juden verfolgt worden zu sein. Über 75 Jahre nach der Befreiung der Überlebenden der Shoah ist die Zahl derjenigen, die psychologische und psychosoziale Unterstützung bei AMCHA suchen, etwa doppelt so hoch, wie noch zehn Jahre zuvor. Doch es dauerte bis in die 1980er Jahre hinein, bis sowohl in Israel als auch in Deutschland die langfristigen Folgen der Verfolgung anerkannt wurden und das Schicksal vieler Überlebender in Form von materieller Entschädigung oder therapeutischer Unterstützung gewürdigt wurde.
Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hatten diejenigen, die sich für die Gründung von AMCHA in beiden Ländern und einen neuen Umgang mit der traumatisierenden Vergangenheit engagierten. In Israel waren es Psycholog:innen, die oft selbst als Überlebende die besonderen Bedürfnisse ihrer Leidensgenoss:innen erkannten. In Deutschland waren es Persönlichkeiten des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die erkannten, dass es mit der Zahlung sogenannter Entschädigungsleistungen nicht getan ist und denjenigen geholfen werden muss, die unter den langfristigen Folgen der Verfolgung leiden.
Keines der Kibbuzmitglieder merkte, was hinter dem jugendlichen Enthusiasmus und der Lebensfreude versteckt war. Niemand spürte, was sich hinter den Kulissen unserer Seelen abspielte, wo sich die Wunden schrecklicher Kriegsjahre verbargen. Wunden, die niemals heilen würden.“
Zwi Steinitz sel. A.
Schweigen, Vergessen und Verdrängen sind Möglichkeiten, mit einer traumatischen Vergangenheit umzugehen, indem man versucht, sie abzuschließen. Viele Überlebende der Shoah, die nach ihrer Befreiung in Interner Link: Israel eine Zukunft sahen und auswanderten, haben sich nach außen, zumindest in den Anfangsjahrzehnten, in Schweigen gehüllt. Zum Teil, weil ihnen kein Glauben über das Erlebte geschenkt wurde, teilweise, weil die Gegenwart herausfordernd genug war. Zum Teil aber auch, weil sie selbst nach vorne schauen wollten – oft auf sich allein gestellt, da Verwandte ermordet wurden. Doch auch wenn viele nach außen hin schwiegen, blieben sie nicht stumm, denn untereinander sprachen sie über das Erlebte. Erst in den 1980er Jahren rückten zunehmend die langfristigen, psychologischen Folgen der NS-Verfolgung in den Blick. Dieses damals neue Feld der Traumaforschung und der psychosozialen Praxis wurde wesentlich von Gründungsakteuren von AMCHA in Israel – 1987 in Jerusalem gegründet – geprägt, die oft selbst Überlebende der Shoah waren und eine Selbsthilfe organisieren wollten, die den besonderen Bedürfnissen der Überlebenden gerecht wurde.
Das Trauma kann nicht geheilt werden
Haim Dasberg, der lange Vorsitzender von AMCHA Israel war, prägte den psychosozialen Ansatz von AMCHA. Zentral für diesen Ansatz ist die Annahme, dass die Hilfe nicht nur in psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung erfolgen könne, sondern erst durch soziale Aktivitäten und Solidarität der Gemeinschaft ihre Wirkung entfaltet. Neben den Betroffenen und ihren Nachkommen müsste auch die gesamte Gesellschaft in den Blick genommen werden. Diese Solidarität und Gemeinschaft finden viele Überlebende heute in den mittlerweile 15 AMCHA-Zentren in Israel, die für sie zum "zweiten Zuhause“ geworden sind. Hier werden die Betroffenen aus der Einsamkeit und Isolation geholt und über gemeinschaftliche Aktivitäten wird eine therapeutische Wirkung erzielt. Durch das Kochen von Gerichten der Kindheit beispielsweise werden Erinnerungen an eine Zeit vor der Verfolgung ausgelöst und eine Erzählung vom Leben angeeignet, die die NS-Verfolgung nicht ausklammert, aber um viele andere Lebensmomente bereichert.
Die Begegnung mit traumatisierender Vergangenheit wird so nicht pathologisiert. Sie ist vielmehr integraler Teil des Lebens und ein Prozess, der nicht abgeschlossen sein kann – so wenig, wie die Vergangenheit vergessen gemacht werden kann. Die Shoah wird in den AMCHA-Zentren nicht verschwiegen, schon gar nicht vergessen. Aber sie ist in den therapeutischen Aktivitäten in dieser Schicksalsgemeinschaft nicht vordergründig präsent, da sie bei den Betroffenen ohnehin unweigerlich allgegenwärtig ist. In den Zentren müssen sie nicht über die Vergangenheit sprechen und teilen sie doch mit- und untereinander.
Vom Opfer zum Überlebenden: Therapeutische Hilfe als Selbstermächtigung
Vor dem Hintergrund der fehlenden Anerkennung erwuchs zunehmend eine Diskrepanz zu den immer augenscheinlicheren Hilfsbedürfnissen der Überlebenden. Zu denjenigen, die seit nun mittlerweile über dreißig Jahre lang Hilfe durch AMCHA erfuhren, gehört der oben zitierte Zwi Helmut Steinitz sel. A., der unter anderem Auschwitz und Buchenwald überlebte. Schon an seinem Namen lässt sich der Prozess der individuellen Bearbeitung der traumatisierenden Vergangenheit ablesen. In Israel legte er seinen europäischen Namen Helmut ab und nannte sich fortan Zwi. Nach einem Zusammenbruch suchte er Hilfe bei AMCHA in Tel Aviv. Durch die therapeutische Arbeit knüpfte er an seine Jugend an und nannte sich Zwi Helmut Steinitz. Die psychosoziale Hilfe von AMCHA ermächtigte ihn, sich selbst zu einem aktiven Interner Link: Zeitzeugen zu entwickeln, der sogar die Kraft aufbringen konnte, mehrmals im Jahr vor deutschen Schulklassen zu sprechen.
Genug entschädigt? Neue Dynamik durch bürgerschaftliches Engagement
Auch aus deutscher Perspektive kam erst Ende der 1980er Jahre eine neue Dynamik in den als abgeschlossen geltenden Entschädigungs- und "Wiedergutmachungs“-Komplex. Nur ein Jahr nach der Gründung von AMCHA in Israel organisierten sich Unterstützungskreise sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR. Auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze wurde die fehlende Einsicht für eine fortlaufende humanitäre Unterstützung der Überlebenden beklagt. In der Bundesrepublik wurde im Zuge der Diskussionen um die "vergessenen Opfer“ des NS auch verstärkt das Schicksal der Kinderüberlebenden thematisiert, deren leidvolle Erfahrungen bis dahin weder materiell gewürdigt noch anerkannt wurden. Grundsätzlich rückten die langfristigen Folgen der Verfolgung und die psychologischen Auswirkungen zunehmend in den Blick. Damit wurde klar, dass es mit einer materiellen Entschädigung nicht getan war und ist. Die bayerische SPD-Politikerin Renate Schmidt tat sich in den Bundestagsdebatten Ende der 1980er Jahre in diesem Zusammenhang hervor und zählte später zu den Initiator:innen der Freunde und Förderer von AMCHA in der Bundesrepublik Deutschland. In einer Bundestagsdebatte im November 1986 sagte sie: "Einmalig waren nur die Verbrechen, die verübt wurden. Vor dieser Einmaligkeit werden die Leistungen zu erschreckender bürokratischer Normalität. Es wird mit Gesamtsummen operiert und darüber vergessen, wie bescheiden sich Abfindungen und Rentenzahlungen für schlimmes erlittenes Unrecht, das ein ganzes Leben beeinflusst und zerstört haben kann, im Einzelfall ausnehmen.“
Im Selbstverständnis der DDR als Interner Link: antifaschistischem Staat wurde eine Verantwortung für die Shoah und daraus abzuleitende Leistungen für jüdische Verfolgte zunächst gänzlich zurückgewiesen. So unterschiedlich die Ausgangsbedingungen für beide Unterstützungskreise in den deutschen Staaten waren, so einte beide der Gedanke, dass bürgerschaftliches Engagement notwendig ist, um staatliches Handeln zu ändern. So gelang es den vorwiegend jüdischen Gründungsakteuren von AMCHA in der DDR um Dr. Peter Fischer, der als Sekretär des Verbandes der jüdischen Gemeinden mit der Wahrnehmung jüdischer Interessen betraut wurde, schließlich kurz vor der deutschen Einheit, dass die letzte SED-Regierung der DDR unter Hans Modrow noch 6,2 Millionen Mark für AMCHA Israel zur Verfügung stellte und damit das einzige materielle Bekenntnis zur Verantwortung für die jüdischen Opfer des NS außerhalb der DDR ablegte.
Gegenwartsbewältigung: Die Schicksalsgemeinschaft der Überlebenden braucht eine Gemeinschaft der Solidarität
Nach wie vor reichen staatliche Verpflichtungserklärungen zur Erinnerung an die Shoah und zur Unterstützung der Überlebenden nicht aus. Organisationen wie AMCHA Deutschland leben weiterhin und weithin von bürgerschaftlichem Engagement. Daraus lässt sich nicht nur eine Verantwortung für ein vergangenheitsbewusstes Denken und Handeln in der Gegenwart herauslesen. Darüber hinaus heißt, aus der Vergangenheit zu lernen, Verantwortung zu übernehmen, auch im Hier und Heute gegen Benachteiligung, Diskriminierung und Verfolgung einzutreten. Diese Verantwortung sollte im besten Falle aber auch die menschliche Verpflichtung mit einbeziehen, die seelischen und nicht selten existenziellen Nöte der Überlebenden der Shoah lindern zu helfen. Als die Überlebenden in einem Vermächtnis von 2009
Seit vielen Jahren ist von den letzten Zeitzeug:innen die Rede. Dieses Mantra verstellt den Blick auf die immer noch notwendige Unterstützung der weltweit über 400.000 Überlebenden. Auch in zehn Jahren wird es noch Menschen geben, die als Kinder verfolgt und lebendige Erinnerungen an die NS-Zeit haben können. Oder Nachkommen von Überlebenden, die zum Teil aus dem Holocaust-Trauma ihrer Eltern oder Großeltern selbst mit psychologischen Herausforderungen zu kämpfen haben und Unterstützung benötigen. Ihr Leben ist unmittelbar mit der Shoah verbunden und sie haben einen Anspruch darauf, gehört zu werden und Hilfe zu erfahren.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, braucht es eine solidarische, aufgeklärte Gesellschaft. Denn eine solche bietet Betroffenen den Raum, den sie brauchen, um selbstbestimmt und selbstermächtigt zu leben. So wie in Israel erkannt wurde, dass eine klinische Behandlung dieser im gesellschaftlichen Rahmen entstandenen Traumata nicht ausreicht, so entstand auch in Deutschland das Bedürfnis, das offizielle Gedenken und die staatliche Unterstützung kritisch zu hinterfragen und selbst aktiv zu werden.