Was ist ein "Jüdisches Museum"? Und "wie jüdisch" soll es, muss es, kann es sein?
Manche Museumsgründerinnen und Museumsgründer haben versucht, diese Fragen zu entschärfen, indem sie komplizierte Namen erfanden. Ein Museum in Laupheim nennt sich "Museum zur Geschichte von Christen und Juden". Das zweitgrößte Jüdische Museum Europas firmiert in Warschau unter dem Namen "Polin Museum der Geschichte der polnischen Juden" und in Paris gibt es das "Museum für jüdische Kunst und Geschichte". In Köln hat man sich auf "MiQua" geeignet, was kurz "Museum im Quartier" und lang "Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier" heißen soll. Am Ende wird aber wohl jeder potentielle Besucher und jede potentielle Besucherin den nächstbesten Passanten nach dem Weg zum "Jüdischen Museum" fragen.
Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen über die Frage, wie "jüdisch" ein "Jüdisches Museum" zu sein hat und wer dessen Gegenstand definiert, über die Legitimität von Sprecherpositionen und über das Verhältnis von Institution, Trägerschaft und Community. Und nicht zuletzt über die Definition der Öffentlichkeit, der ein Museum gegenüber verantwortlich ist.
Ganze Museen können darüber ins Wanken geraten. So wurde 2008 das gerade neu eröffnete Spertus Museum in Chicago Ziel massiver Angriffe aus jüdischen Organisationen, die es unerhört fanden, dass das Museum in seiner Ausstellung "Imaginary Coordinates" historische Landkarten des "Heiligen Landes" (dem heutigen Israel und Palästina) mit künstlerischen Arbeiten von israelischen und palästinensischen Künstler*innen konfrontierte, die die Grenzziehungen im Nahen Osten kritisch reflektierten. Das Museum, Teil eines großen jüdischen Bildungszentrums (dem Spertus Institute for Jewish Learning and Leadership) und zugleich dessen öffentliche Bühne für die Stadtgesellschaft, verlor einen guten Teil seiner Sponsoren, musste schließen, und hat sich bis heute davon nicht erholt.
2019 entbrannte, nicht zuletzt ausgelöst durch eine Ausstellung über Jerusalem, ein Streit um die Definitionsmacht des "jüdischen" rund um das Jüdische Museum Berlin. Eine Intervention des israelischen Ministerpräsidenten bei der deutschen Bundeskanzlerin zielte darauf, dem Museum mit der Streichung der Mittel zu drohen. Nun ging es um ein Museum, dass sich keineswegs in einer "jüdischen Trägerschaft" befindet, sondern als Stiftung der Bundesrepublik Deutschland einem dezidiert öffentlichen Auftrag im Interesse der gesamten Gesellschaft nachkommen soll. Bevor näher auf diesen Fall eingegangen werden kann, lohnt ein Blick auf die Geschichte "Jüdischer Museen", um zu begreifen, wieviel dabei auf dem Spiel steht.
Begonnen hat diese Geschichte im 19. Jahrhundert mit sowohl einer Krise als auch Erneuerung des jüdischen Selbstverständnisses, mit der Auflösung traditioneller jüdischer Lebenswelten, der Säkularisierung auch des jüdischen Alltags, mit dem Niedergang von Landgemeinden und der Aufgabe von Synagogen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten überall in Europa die neu entstehenden Nationen und Länder nach ihrer kulturellen "Identität", die Grabung nach Artefakten, oder auch ihre Fälschungen befriedigte dabei den Markt für die neu entstehenden National- und Landesmuseen. Vor diesem Hintergrund verwandelten sich auch jüdisch-religiöse Gebrauchsobjekte in Zeugnisse "kultureller Identität" jenseits ihrer religiösen Funktion – und damit auch zur potentiellen Ware auf einem zunehmend beliebigen Markt.
Jüdische Sammlerinnen und Sammler wie Isaac Strauss reagierten auf diese Krise, indem sie tatsächliche und vermeintliche jüdische Ritualobjekte zusammentrugen und in ersten Ausstellungen, wie im Rahmen der Pariser Weltausstellung 1878, präsentierten. 1887 folgte mit der Anglo-Jewish Historical Exhibition in London die womöglich erste eigenständige Schau "Jüdischen Kulturguts".
Die ersten Jüdischen Museen entstanden schließlich aus dem Anliegen, diese jüdischen Zeugnisse zu bewahren, zu beforschen und zu präsentieren – auch aus der Einsicht, dass die materielle Kultur des europäischen Judentums kaum Eingang in die sich mehr und mehr etablierenden Volkskundemuseen finden würde. Jüdische Museen standen in der Trägerschaft jüdischer Gemeinden, ihnen nahestehender Kulturvereine oder religiöser Institutionen, und wurden 1895 in Wien, 1904 in New York, 1906 in Prag, 1909 in Budapest, 1912 in Worms, 1922 in Frankfurt am Main, 1927 in Breslau, 1932 in London, 1933 in Berlin und 1938 in Nikolsburg eröffnet. Es waren "Community Museen", denen der Versuch gemeinsam war, eine partikulare Tradition in die europäische einzuschreiben. Heimat- und funktionslos gewordene Objekte sollten zu Trägern einer neu konstruierten kulturellen Überlieferung und einer besonderen historischen Identität umgedeutet werden. Schließlich begannen sich diese Museen auch in der Tradition der im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen Wissenschaft des Judentums zu verstehen – welche durch wissenschaftliche Studien die jüdische Geschichte und Kultur als integralen Bestandteil der allgemeinen Menschheitsgeschichte zu etablieren suchte – und entsprechend historisch-kritisch zu arbeiten.
Und dann war alles anders.
Mit der
Die Jüdischen Museen in Europa nach 1945 entstanden unter gänzlich veränderten Vorzeichen. Jüdische Museen waren nun, bis auf wenige Ausnahmen, nicht länger säkulare Schreine jüdischer Selbstvergewisserung. Nicht zuletzt in Deutschland oder Österreich, aber auch in anderen Ländern, sind die meisten jüdischen Museen in öffentlicher Trägerschaft entstanden und werden durch die öffentliche Hand finanziert. Das heißt, in ihren Ausrichtungen orientieren sie sich weniger an den jüdischen Gemeinden selbst als am öffentlichen Interesse und an allem, was als "jüdisch" bezeichnet werden kann. Dabei repräsentierten sie auch in der materiellen Überlieferung, die sie nun ausstellten, keineswegs eine Kontinuität kulturgeschichtlichen Sammelns, sondern den politischen Willen, etwas sichtbar zu machen, was "verloren“ wurde, genauer gesagt: enteignet, vertrieben, zerstört und vernichtet. Die Neugründungen jüdischer Museen sammelten nun unter gänzlich anderen Vorzeichen.
In dieser doppelten Ausrichtung – am öffentlichen Interesse der Gegenwart, und im Versuch einer empathischen Annäherung an "vergangenem" jüdischen Leben – kann der Raum der Jüdischen Museen als zweideutig verstanden werden. Und genau das mag das "Jüdische“ an ihnen sein – auch und gerade, wenn sich Jüdische Museen nun auch der jüdischen Gegenwart anzunähern beginnen. Denn das "Jüdische" ist in seiner rund 2.600 jährigen Geschichte – alles davor ist bekanntlich eher ins Reich mythischer Erzählungen einzuordnen – zu einem überwiegenden Teil Diasporageschichte und damit eine Beziehungsgeschichte zwischen jüdischen Minderheiten und den unterschiedlichsten sozialen, kulturellen, religiösen und schließlich nationalen Umwelten. Und dies auch in Palästina, das in seiner Geschichte immer Einflusssphäre, oder eben besetztes Territorium der die Region umgebenden Mächte gewesen war – vom Römischen Imperium, bis hin zur osmanischen oder britischen Herrschaft.
Eine Beziehungsgeschichte war dies insofern, als dass jüdisches Leben, jüdische Kulturen und Geschichten in ihrer Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit vor allem von außen als etwas hermetisch-einheitliches imaginiert wurden – während Juden und Jüdinnen zurecht auf einem Pluralismus beharrten, auf einen stetig anhaltenden Dialog, in dem Denkverbote eigentlich das einzige Tabu sind. Es ist aber auch eine Beziehungsgeschichte, die – wo immer sie als Minderheit unter Christinnen und Christen oder Musliminnen und Muslimen lebten und leben – davon geprägt ist, dass Juden und Jüdinnen eben nicht nur eine Minderheit "für sich" darstellen, die ihre Eigenheiten mehr oder minder bewahren will. Jüdische Geschichte wird von innen heraus eben stets auch als ein bedeutsamer Teil der Geschichte (und eben auch reklamierten, vereinnahmten Vorgeschichte) dieser in Europa christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft verstanden.
So ist der Gegenstand "Jüdische Museen" in seiner Zweideutigkeit der Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten ein Spiegelkabinett, in dem sich beide Seiten betrachten und dabei sich selbst immer auch als Andere erkennen müssen. Ein Ort, an dem Identitäten produktiv in Frage gestellt werden können.
Man sollte sich davor hüten, immer gleich einen bösen Willen erkennen zu wollen, wenn sich Christen oder Muslime mit ihren ganz eigenen Vorstellungen "vom Judentum" mit jüdischen Selbstäußerungen beschäftigen, es ist einfach naheliegend. Und nicht immer hat es mit politisch "doppelten Maßstäben" zu tun, wenn sich Christen und Muslime mehr mit dem beschäftigen, was in Interner Link: Jerusalem passiert, als in Tibet oder Ruanda. Ob uns das gefällt oder nicht: Es gehört zu den wesentlichen Glaubensinhalten der beiden größten Weltreligionen. Denn mit der Geburt von Christentum und Islam ist aus dem geographischen und ökonomischen Kreuzungspunkt (mit seinen ihn wechselnd kontrollierenden Mächten) eben auch der Ort geworden, an dem drei Monotheismen ihre Konflikte um die Deutung der Welt austragen. Das kann als unverhältnismäßig empfunden werden. Aber es ist am Ende müßig, darüber zu klagen, solange man nicht bereit ist, ideologische Besitzansprüche grundsätzlich in Frage zu stellen. Wenn irgendetwas an unseren eigenen, ältesten jüdischen Mythen dran ist, dann doch wohl, dass auch die Israeliten zu den vielen gehörten, die dieses Land irgendwann, von außen kommend, für eine Zeit lang erobert haben. Es sei denn wir glauben an ein göttliches Privileg – doch das hat im Museum nichts verloren.
"Jüdische Museen" handeln im öffentlichen und nicht im göttlichen Auftrag. Sie sind wissenschaftliche Einrichtungen, folgen einem Bildungsauftrag und haben sich nicht zuletzt mit der ganzen Pluralität jüdischer Stimmen und Lebensäußerungen zu beschäftigen, genauso wie mit jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen, und dies unabhängig von politischer Einflussnahme. Zu ihren Gegenständen gehört jüdisches Leben gleich wo, ob in Berlin, New York oder Teheran genauso, wie das, was die Öffentlichkeit in Deutschland eben auch interessiert: Antisemitismus z.B., oder die vielschichtige Realität des Staates
Wenn ein Jüdisches Museum, so wie es das Berliner Jüdische Museum tat, eine Ausstellung über Jerusalem zeigt, dann ist es nur natürlich, diese Stadt, die so vielen Menschen und Gemeinschaften als "heilig" – und manch anderen aufgrund gerade dieser von Deutungsrivalitäten und gewaltsamen Konflikten geprägten Realität als besonders "unheilig" – gilt, aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Allein dies empfanden manche wiederum als Provokation und verlangten vom Berliner Jüdischen Museum eine "jüdische Perspektive".
Museen als wissenschaftliche Einrichtungen haben sich vor der Verwechslung von Gegenstand und Perspektive zu hüten. Das fällt freilich auch anderen Museen oft genug schwer. Die Entwicklung von nationalen Kultstätten angefangen im 19. Jahrhundert, hin zu Orten kritischer Praxis am Ende des 20. Jahrhunderts, ist zwar an den meisten kulturgeschichtlichen Museen nicht spurlos vorbeigegangen. Aber die Auseinandersetzung darüber, wie weit Museen auch Orte der streitbaren Auseinandersetzung mit kultureller und politischer Gegenwart sein sollen und können, ist vielerorts noch keineswegs entschieden. Und dies nicht zuletzt in einem gesellschaftlichen Klima, in dem Politik in Europa – getrieben von populistischen Identitätsverlangen – sich wieder verstärkt in künstlerische und wissenschaftliche Praxis einzumischen beginnt. Dies nicht zuletzt in Osteuropa, aber zusehends auch in Deutschland. Als Test-Case für diese Versuche kristallisiert sich ausgerechnet der Streit darüber heraus, was
Indem das Museum, genauer gesagt eine Mitarbeiterin im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit, das Publikum darüber informierte, dass 240 jüdische Wissenschaftler*innen aus Israel und dem Rest der Welt (darunter vier Israel-Preisträger) in einem offenen Brief eine andere Auffassung von "Antisemitismus“ artikulierten als der Deutsche Bundestag, kam das Museum im Grunde nur seiner Aufgabe nach – wenn man zugrunde legt, das Museen (eben auch) Orte kritischer Praxis sein können. Dass ausgerechnet jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Befürchtung äußerten, die pauschale Gleichsetzung von BDS mit "Antisemitismus" – also der palästinensischen Boykottbewegung mit Judenhass – würde dem Kampf gegen tatsächlichen Antisemitismus mehr schaden als nutzen, war offenbar so skandalös, dass schon die Leseempfehlung eines Zeitungsartikels über diesen offenen Brief einen Shitstorm auslöste.
Auch das Programm der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums geriet nun ins Schussfeld. Dabei handelt es sich um einen der wenigen Orte in Deutschland, an dem jüdische und muslimische Intellektuelle kontinuierlich und auf Augenhöhe über alle Facetten des Verhältnisses von Judentum und Islam diskutierten, stritten und Berührungspunkte ausloteten – und damit der um sich greifenden (vor allem politisch von rechts beschworenen) Kampfparole vom
In diesem Klima von Unterstellungen überlegen es sich Jüdische Museen inzwischen dreimal, ob sie das mittlerweile als "sicher" geltende Terrain einer jüdischen Nostalgie überschreiten.
Dabei zählt zu den Aufgaben jüdischer Museen nicht zuletzt, die Pluralität jüdischer Stimmen, Traditionen, kultureller Aufbrüche und politischer Kontroversen zu thematisieren. Das scheint in der gegenwärtig erhitzten Debattenkultur immer schwieriger. So wird etwa schon die Frage, ob Israels Zukunft in ethnischer Exklusivität (man denke an das 2018 verabschiedete Externer Link: Nationalstaatsgesetzes, welches Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes definiert) oder in einem gemeinsamen Staat seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürger bestehen sollte, in einer Art und Weise diskutiert, in der sich scheinbar miteinander unvereinbare Positionen schnell unversöhnlich gegenüberstehen. Auch haben sich jüngst verschiedene Kulturveranstalter und Museen in einer Initiative kritisch zur BDS-Resolution des Deutschen Bundestages geäußert und ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, dass "unter Berufung auf diese Resolution […] durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt" würden. Dieser Vorstoß hat seinerseits wiederum zu einer sehr kontroversen und breiten medialen Debatte geführt. In genau einer solchen Gemengelage kommt es dann zu paradoxen Nebenwirkungen, die auch Juden und Jüdinnen selbst treffen können. So löste ein Projekt israelischer Künstlerinnen und Künstler an der Kunsthochschule Weißensee, das sich kritisch mit der Erziehung zum Zionismus auseinandersetzte, im Oktober 2020 eine regelrechte Kampagne gegen "staatlich geförderten Antisemitismus" aus, die zuerst auf Twitter, dann auch schnell in Teilen der Presse um sich griff. Dabei schien es keine Rolle zu spielen, dass das Projekt von jüdischen Israelis betrieben wurde. Die verunsicherte Hochschule sperrte die Website des Projekts und strich die Förderung.
Angesichts derartiger Verunsicherungen können, ja vielleicht sollten es gerade Jüdische Museen sein, die der Pluralität jüdischer Stimmen, der Vielfalt und auch den politischen Kontroversen eine Bühne bieten. Vielleicht haben solch unversöhnliche Zeiten Jüdische Museen in genau dieser Rolle nötiger denn je. Oder man braucht sie andernfalls vielleicht gar nicht.
Sind Jüdische Museen "jüdisch"? Essay
/ 11 Minuten zu lesen
Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen über die Frage, wie "jüdisch" ein "Jüdisches Museum" zu sein hat – und was seine genuine Aufgabe sein sollte. Angesichts der Pluralität und Vielfalt jüdischer Stimmen könnte sie eigentlich der ideale Ort sein, diesen politischen Kontroversen eine Bühne zu bieten.
Hanno Loewy ist Literatur- und Medienwissenschaftler sowie Publizist und seit 2004 Direktor des Jüdischen Museums Hohenems.
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