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Eine optische Provokation | Jüdisches Leben in Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart | bpb.de

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Eine optische Provokation Tallit-tragende Rabbinerinnen und Mädchen, die aus der Tora vorlesen

Rabbinerin Elisa Klapheck

/ 13 Minuten zu lesen

Wird mit Rabbinerinnen mit Kippa und Tallit in der allgemeinen Selbstdarstellung des jüdischen Lebens in Deutschland immer noch zurückhaltend umgegangen? Das ist sicherlich nicht ganz falsch – und dennoch hat es in den vergangenen Jahren beträchtliche Veränderungen gegeben.

Schon im Talmud wird gesagt, dass Michal, die Tochter von König Saul (in der Hebräischen Bibel der erste König Israels), Tefillin, das heißt Gebetsriemen, legte und damit verbunden wahrscheinlich auch einen Tallit trug. (© David Bachar)

Zum 70-jährigen Bestehen des Interner Link: Zentralrats der Juden in Deutschland veröffentlichte die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine eine Jubiläumsausgabe, die auch einen Artikel über religiöse Vielfalt in der Gegenwart enthielt und auf die Rabbinerkonferenzen des orthodoxen und liberalen Judentums verwies. Mittlerweile gibt es acht Rabbinerinnen in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK). Sie tragen, genau wie ihre männlichen Kollegen im Gottesdienst einen Gebetsschal, den Tallit, sowie zumeist auch eine Kippa. Aber davon konnte man in der Jubiläumsausgabe nichts sehen. Die Fotoauswahl zeigte ausschließlich männliche Rabbiner – und selbst von den liberal eingestellten nur solche, die optisch als orthodox durchgehen könnten. Es scheint, als seien Rabbinerinnen mit Kippa und Tallit eine optische Provokation, mit der in der allgemeinen Selbstdarstellung des jüdischen Lebens in Deutschland immer noch zurückhaltend umgegangen wird.

Trotzdem hat sich sehr viel in den vergangenen Jahren getan.

In meiner Kindheit in den 1970er und 1980er Jahren war beispielsweise eine Bat Mizwa (hebr. "Tochter der Gebote“), die religiöse Feier für das Erwachsenwerden der Mädchen, unüblich. An starken jüdischen Frauen mangelte es nicht. Ganz im Gegenteil. Die israelische Premierministerin Golda Meir (von 1969 bis 1974) war ein leuchtendes Vorbild. Auch in Deutschland mischten bereits Frauen wie Charlotte Knobloch, die später Zentralratspräsidentin werden würde, in den Gemeindeführungen mit. Heute sind Frauen in der Position der Gemeindevorsitzenden keine Seltenheit. Von uns Mädchen wurde damals ausnahmslos erwartet, gut in der Schule zu sein – mindestens so gut wie die Jungen. Doch wenn es um die jüdische Religion ging, nahmen wir ganz selbstverständlich hin, dass im Synagogengottesdienst eine Geschlechtertrennung herrschte, nur Männer für die Mindestzahl der Gottesdienst-Teilnehmer, dem Minjan, gezählt wurden und nur die Jungen, wenn sie 13 Jahre alt wurden, mit einer Bar Mizwa ihr Erwachsenwerden feierten.

Heute hingegen ist eine Bat Mizwa für Mädchen in allen jüdischen Gemeinden selbstverständlich. Und nicht nur das: Die Mädchen haben Wahlmöglichkeiten, wie sie ihre Bat Mizwa gestalten. Sie reichen von der Mindestanforderung in einem traditionellen Setting, z.B. einer Rede außerhalb des Synagogengottesdienstes in Kombination mit einer Feier am Samstagabend – bis hin zur Maximalanforderung in einem liberal-jüdischen Setting, wo von den Mädchen bei der Bat Mizwa dasselbe erwartet wird wie von den Jungen bei ihrer Bar Mizwa. In letzterem Fall wird das Mädchen während des großen Gottesdienstes am Samstagmorgen offiziell mit ihrem jüdischen Namen zur Tora-Lesung aufgerufen und fortan zum Minjan, dem Quorum, gezählt. Auf diesen Moment wurde sie etwa ein Jahr lang mit entsprechendem Unterricht vorbereitet. Sie trägt dann, genau wie auch die Jungen, erstmals öffentlich einen Tallit, einen Gebetsschal. Sie geht nach vorn zur Bima, dem Podest, und trägt aus der aufgerollten Tora-Rolle eine längere Passage in Hebräisch vor. Im Anschluss an die Lesung hält das Mädchen eine Rede, in der sie nach der rabbinischen Auslegungskunst das Gelesene selbständig interpretiert und sich dabei als selbstbewusstes Mitglied der jüdischen Gemeinschaft präsentiert. Während bei einer Bar Mizwa auch der Vater und der Großvater zur Tora aufgerufen werden, erhalten bei einer Bat Mizwa in einem liberal-jüdischen Setting ebenso die Mutter und die Großmutter diese Ehre. Und wenn das Mädchen im Anschluss vom Rabbiner oder der Rabbinerin gesegnet wird, regnet es genauso wie bei einem Jungen von allen Seiten Bonbons, singt die Gemeinde das mitreißende Lied "Siman tow u-Masal tow“ (Gutes Zeichen, gutes Glück!), klatscht und jubelt darüber, dass das jüdische Volk in dieser kleinen, nunmehr erwachsen werdenden Persönlichkeit weiterlebt.

Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland hält allerdings das modern-orthodoxe Judentum für das normative Judentum (wenngleich nur eine kleine Minderheit die orthodoxen Regeln für den Alltag praktiziert). Das zeigt sich auch bei der Ausgestaltung der meisten Bat Mizwa-Feiern. Zwar können Mädchen auf unzähligen Websites, YouTube-Videos und Blogs von Influencerinnen Anregungen für die Gestaltung ihres Fests finden. Doch die Möglichkeit einen Tallit zu tragen, mit dem sie sich als religiös gleichberechtigt zeigt, kommt kaum vor.

Grundsätzlich ist es nicht verboten. Schon im Talmud wird gesagt, dass Michal, die Tochter von König Saul (in der Hebräischen Bibel (=Altes Testament) der erste König Israels), Tefillin, das heißt Gebetsriemen, legte und damit verbunden wahrscheinlich auch einen Tallit trug. Ebenso heißt es im Talmud, dass Frauen aus der Tora lesen dürfen. "Alle sind zu den sieben [zur Tora-Lesung Aufgerufenen] geeignet, … selbst eine Frau.“ Aus der Zeit des Mittelalters gibt es Nachweise von Frauen, die öffentlich den Tallit trugen und Frauengottesdienste leiteten. Erst in der Neuzeit wurde im "Schulchan Aruch“, einem bis heute autoritativen Gesetzeskompendium aus dem 16. Jahrhundert klargestellt, dass die zehn Personen des Minjan in jedem Fall Männer sein müssen. Dass es zu dieser Feststellung gekommen ist, dürfte ein Hinweis dafür sein, dass bis dahin Frauen ebenfalls Teil der Minjan sein konnten, wenn z.B. ein zehnter Mann fehlte. Der Gebetsschal der Männer hat zumeist schwarze oder blaue Streifen. Wer ihn über die Schultern legt, spürt die Würde einer Gemeinschaftszugehörigkeit, bei der jeder einzelne zählt. Tallit-tragende Frauen bringen zusätzliche Farben in die optische Synagogenwirklichkeit, was ein Statement für pluralistische Vielfalt birgt. Seit den 1990er Jahren haben sich in vielen Städten Deutschlands liberal-jüdische Gottesdienste etabliert. In Berlin und Frankfurt sind sie Teil der großen jüdischen Gemeinde; in anderen Städten wurden sie als unabhängige Gemeinden unter dem Dach der Externer Link: Union progressiver Juden gegründet. Angesichts der damit einhergehenden Zahl liberal-jüdischer Synagogen-Gottesdienste bietet beispielsweise das jüdische Versandunternehmen "Doronia“ inzwischen auch "Gebetsschale für Frauen“ an. Sie haben Streifen aus kunstvoll zusammengestellten Farben oder Motive wie Granatäpfel, Vögel und Anklänge an Jerusalem. Trotzdem wählt die übergroße Mehrheit der Mädchen zumeist ein traditionelles Setting für ihre Bat Mizwa. Sie akzeptieren weiterhin die Geschlechtertrennung und die althergebrachten Geschlechterrollen im Synagogengottesdienst (zumal sie ja auch nur dort gelten). Sie streben keine Tora-Lesung an und verlangen keine gleiche Rolle wie die Jungen.

Dass dies so ist, ist wahrscheinlich immer noch eine Spätfolge der Interner Link: Schoa. Das Interner Link: liberale Reformjudentum, das im 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden und bis zur Schoa von der Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden befürwortet wurde, ist in der Schoa untergegangen. Deutsche Reformrabbiner hatten bereits 1846 bei einer Versammlung in Breslau ein Sechs-Punkte-Konzept für die vollständige religiöse Gleichberechtigung der Frau vorgestellt. Bald, nachdem 1872 in Berlin die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gegründet worden war, konnten dort auch Frauen, zunächst als Gasthörerinnen, studieren. Eine von ihnen war Rabbinerin Regina Jonas (1902-1944). Aber all das spielte nach 1945 keine Rolle mehr. Die jüdischen Gemeinden wurden von Überlebenden der Schoa wiederaufgebaut. Sie hatten die deutschen Vernichtungslager überlebt, stammten überwiegend aus Mittel- und Osteuropa und hatten wenig Verständnis für die optimistischen liberalen Vorstellungen des dereinstigen deutschen Judentums. Halt gaben ihnen die Erinnerungen an die untergegangene traditionelle Welt. Vor diesem Hintergrund war die Gleichberechtigung der Frau in Bezug auf das religiöse Leben vorerst lange kein Thema mehr.

Wie weit damit zugleich ein systematisches Vergessen einherging, wurde mir erst klar, als ich als junge Frau in den 1990er Jahren erfuhr, dass es eine Rabbinerin in Deutschland gegeben hatte – sogar die erste Rabbinerin der Welt. Damals lebten noch eine Reihe von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Rabbinerin Regina Jonas in den 1930er und 40er Jahren in Berlin und später im KZ Theresienstadt erlebt hatten. Ich bin enttäuscht, dass mir niemand von ihnen etwas über sie erzählt hatte. Als 1972 am amerikanischen Hebrew Union College (Cincinnati) Sally Priesand zur Rabbinerin ordiniert wurde, dachte die überwiegende jüdische Bevölkerung weltweit, sie sei die erste Rabbinerin. Diejenigen, die es besser wussten, taten so gut wie nichts, um den falschen Eindruck zu korrigieren. Als ich dann in den späten 1990er Jahren anfing, eine Biographie über Regina Jonas zu schreiben, begannen die Zeitzeugen doch noch zu sprechen. Damit kamen zugleich die alten Debatten, ob Frauen nach den jüdischen Gesetzen, der Halacha, Rabbinerin sein dürfen, wieder hoch. Ich war erstaunt, wie umstritten Regina Jonas immer noch war, nicht zuletzt unter den Frauen, die sie erlebt hatten.

Regina Jonas wurde 1902 in Berlin geboren und 1944 in Auschwitz ermordet. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Schon im frühen Alter war es ihr Wunsch, Rabbinerin zu werden. Später studierte sie an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Dort reichte sie 1930 eine halachische, d.h. eine religionsgesetzliche Abschlussarbeit ein mit dem Titel "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Darin setzte sie sich mit den jüdischen Gesetzen und rabbinischen Bestimmungen im Lichte der modernen Frauengleichberechtigung auseinander. Sie kam zu der Feststellung: "Ausser Vorurteil und Ungewohntsein steht hal.[achisch] fast nichts dem Bekleiden des rabbinischen Amtes seitens der Frau entgegen.“ Für diese Arbeit bekam sie das Prädikat "gut“. Doch die Hochschule fürchtete einen Skandal und wollte sie daher nicht als Rabbinerin ordinieren. Erst 1935, fünf Jahre später, machte der für seine mutigen Überzeugungen bekannte liberale Rabbiner Max Dienemann in Offenbach den bahnbrechenden Schritt. Im Auftrag des Allgemeinen Rabbinerverbandes nahm er von Regina Jonas die Rabbinatsprüfung ab und stellte ihr die Smicha, das Rabbinatsdiplom, aus. Das Dokument liegt heute zusammen mit ihrer Abschlussarbeit und vielen anderen Zeugnissen ihres Lebenswegs im Archiv des Centrum Judaicum in Berlin. Zu diesen Zeugnissen gehört auch ein Interview, in dem Regina Jonas sagte: "Fähigkeiten und Berufungen hat Gott in unsere Brust gesenkt und nicht nach dem Geschlecht gefragt. So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen.“

Gegen viele Widerstände gelang es Regina Jonas trotzdem, in Berlin als Rabbinerin tätig zu sein. In der jüdischen Gemeinde Berlin war sie insbesondere für die seelsorgerische Betreuung sowie Predigten in jüdischen Gottesdiensten zuständig. Es blieben Regina Jonas jedoch nur wenige Jahre. Sie verwirklichte ihre Berufung in einer Zeit, in der Deutschland unter der NS-Herrschaft das europäische Judentum vernichtete. 1942 wurde sie von Berlin ins Interner Link: KZ Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später nach Interner Link: Auschwitz, wo sie im Oktober 1944 bei ihrer Ankunft mit den anderen Insassen des Transports ermordet wurde.

Erst Jahrzehnte später hatte Regina Jonas in Deutschland eine Nachfolgerin. 1995 wagten die jüdischen Gemeinden Oldenburg und Braunschweig einen großen Schritt, als sie die gerade am Jewish Theological Seminary in New York ordinierte Schweizerin Bea Wyler als Rabbinerin anstellten. Die Entscheidung sorgte für große Furore unter der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Erwartungsgemäß musste auch Bea Wyler mit vielen Widerständen kämpfen. So machte der damalige Präsident des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, keinen Hehl daraus, dass er eine Frau als Rabbiner ablehne und keinen von einer Frau geleiteten Gottesdienst besuchen würde. Diese Haltung ist im Zentralrat der Juden in Deutschland heute überwunden. Längst haben sich weitere Gemeinden für eine Rabbinerin entschieden und es ist normal geworden, wenn Repräsentanten des Zentralrates die Feierlichkeiten zur Amtseinführung besuchen. Mit Barbara Traub ist Externer Link: seit 2013 sogar eine Frau Mitglied im Präsidium des Zentralrates, die aktiv die liberale Gruppe in der Israelitischen Religionsgemeinde Württembergs in Stuttgart ermöglicht hat.

Die heutige Situation ist in jedem Fall auch dem großen Neuaufbruch Ende der 1990er Jahre zu verdanken. In dieser Zeit entstand unter anderem die jüdisch-feministische Initiative Externer Link: "Bet Debora – Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen, rabbinisch gelehrter Jüdinnen und Juden“. Sie veranstaltete in Berlin europaweite Tagungen, bei denen angesichts der Frage, ob ein neu entstehendes europäisches Judentum möglich sei, an die Errungenschaften der jüdischen Frauenbewegung vor der Schoa angeknüpft wurde. Seitdem entschieden sich mehr und mehr Frauen, in die Fußstapfen des von Regina Jonas begonnen Weges zu treten. 2002 wurde die heute in Berlin tätige Rabbinerin Gesa Shira Ederberg in Jerusalem ordiniert, 2004 folgte ich mit meiner Ordination in den USA und bin seit 2009 Rabbinerin des Egalitären Minjan, des liberalen Flügels in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Die einstige jüdische Vielfalt in Deutschland, die in der Schoa unterging, jedoch in den USA und Großbritannien weiterlebte, beginnt sich in Deutschland ganz allmählich zu regenerieren. . Mittlerweile gibt es hierzulande verschiedene Rabbinerseminare. So wurde 1999 das liberale Abraham Geiger Kolleg in Potsdam gegründet. Hier studierte Alina Treiger, die 2010 als erste Rabbinerin nach der Schoa in Deutschland ordiniert wurde. Seit 2013 gibt es in Potsdam zusätzlich ein Zacharias Frankel Kolleg, das der Masorti-Richung angehört und an dem sich ebenfalls Frauen zur Rabbinerin ausbilden lassen können. Soeben ist das Buch "Reginas Erbinnen. Rabbinerinnen in Deutschland“ erschienen – eine bemerkenswerte Anthologie verschiedener Rabbinerinnen-Porträts, darunter der Mitherausgeberin Rabbinerin Dr. Antje Yael Deusel, die auch Vorstandsmitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz ist.

Ein Vergleich im Weltmaßstab: In den Rabbinerseminaren der verschiedenen jüdischen Richtungen wurden seit den 1970er Jahren etwa 1.000 Frauen ordiniert. Sie stellen ein Viertel des nicht-orthodoxen Rabbinats weltweit. In der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland sind von 30 Rabbinern acht Frauen – also etwas mehr als ein Fünftel, Tendenz langsam steigend. Und selbst im orthodoxen Judentum ist die Rabbinerin kein Tabu mehr. An der Yeshivat Maharat in New York, die sich selbst als "open orthodox“ bezeichnet, wurden inzwischen rund 50 orthodoxe Rabbinerinnen ordiniert. Für das Mainstream-orthodoxe Judentum in Deutschland ist das zwar (immer noch) nicht Realität. Trotzdem: Eine dieser orthodoxen Rabbinerinnen – Rabbinerin Rebecca Blady – lebt und wirkt in Berlin.

Im Gegensatz zu meiner Generation ist es den heutigen jungen Frauen ein Leichtes, die Geschichte der Vorgängerinnen sowie die Vielfalt der Möglichkeiten in der Gegenwart zu kennen. Auch wenn der Lehr- und Studienplan des jüdischen Religionsunterrichts zumeist vom orthodoxen Standpunkt her konzipiert wird, sind so gut wie alle anderen jüdischen Anschauungen und Anlaufstellen über das Internet frei zugänglich. In den meisten großen Städten gibt es sowohl eine orthodoxe als auch eine liberale Option. Bei entsprechenden Jugendaktivitäten, zum Beispiel den Ferienlagern der Interner Link: Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden (ZWST), treffen sich Kinder und Jugendliche aller Richtungen. Darüber hinaus ist die jüngere Generation bestens vernetzt. Auch wenn man von der jüdischen Gemeinde, in der man aufgewachsen ist, nachhaltig geprägt wird, lernt man in den heutigen jüdischen Foren Gleichaltrige kennen, die in anderen jüdischen Settings groß geworden sind. Im Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) für jüdische Begabtenförderung werden regelmäßig Chancen und Ambitionen junger Frauen thematisiert. Überhaupt haben jüdische Studierende viele Möglichkeiten, eine pluralistische Einstellung zu gewinnen, die auf das jüdische Leben in Deutschland zurückwirkt. So bringt beispielsweise die European Union of Jewish Students, die ein Büro bei der Europäischen Union in Brüssel unterhält, jüdische Studierende mit vielfältigsten jüdischen Sozialisationen zusammen und erzeugt damit ein Verständnis für die ganz unterschiedlichen Strukturen jüdischen Lebens in den jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten.

Die jungen jüdischen Frauen in Deutschland haben also viele Wahlmöglichkeiten, wie sie ihr Judentum verstehen und leben wollen. Doch von den religiösen Inhalten des Judentums scheinen sich die Meisten nur wenig zu versprechen. Wenige Monate vor der Jubiläumsausgabe zum 70-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden erschien in der Jüdischen Allgemeinen eine Beilage zum 8. März, dem internationalen Frauentag. Sie widmete sich der Wirklichkeit der vielen selbstbewussten jüdischen Frauen in der Gegenwart. Die Artikel porträtierten Frauen verschiedener Generationen, beginnend mit der Bat Mizwa. Zwar wurde ausführlich gewürdigt, wie Mädchen das Fest zu ihrer Bat Mizwa gestalten. Doch eine hierzulande tätige Rabbinerin kam auch in dieser Zeitschrift nicht vor – und ebenso spielten religiöse Inhalte keine mitgestaltende Rolle.

Rabbinerinnen müssen offenkundig auch unter Frauen für ihre Sichtbarkeit kämpfen. Aber vielleicht liegt das Problem gar nicht so sehr in der Gleichberechtigung der Frau, sondern in der Religion an sich – insofern als das Religiöse ganz allgemein einen schweren Stand im heutigen jüdischen Leben hat. So steht die Tallit-tragende Rabbinerin in Deutschland für mehr als lediglich eine Frau in einem vermeintlichen Männerjob. Sie steht womöglich für nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, in dem erneut nach der Bedeutung des Religiösen für das moderne Leben gefragt wird. Auch deshalb sind Rabbinerinnen eine optische Provokation. Sie zurückzudrängen ist möglicherweise nicht als Unterdrückung der Frau intendiert, sondern als das Verdrängen einer viel größeren Herausforderung – die Neuverhandlung des Religiösen in einer durch und durch säkularen Zeit. Die Tallit-tragende Rabbinerin scheint dies zu repräsentieren. Auch wenn sie immer noch oft aus dem offiziellen Gesichtsfeld verdrängt wird, berührt ihre Erscheinung den neuralgischen Nerv der Zeit.

Wo stehen wir damit heute? An den jüdischen Frauen erleben wir die Spannung, einerseits gleichberechtigt und darin auch formell anerkannt zu sein, aber als Repräsentantinnen einer religiösen Gleichberechtigung dennoch in eine zweite Reihe gewiesen zu werden. Umso wichtiger wäre es, wenn immer mehr Familien ihre Töchter auch in religiöser Hinsicht beim Anspruch auf volle Gleichberechtigung unterstützten. Dann würden sich sicherlich auch die äußeren Darstellungsweisen des jüdischen Lebens in Deutschland ändern – würden Tallit-tragende Rabbinerinnen und aus der Tora vortragende Bat Mizwa Mädchen das Bild von vornherein mitbestimmen. Und wichtiger noch: Wenn das geschieht, wäre noch sehr viel mehr vom jüdischen Leben als Kraft in einer größeren pluralistischen Welt zu erwarten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Alle unter einem Dach. Ein bewährtes Konzept: Der Zentralrat vertritt orthodoxe, traditionelle, liberale und säkulare Juden“ von Ayala Goldmann, in "Jüdische Allgemeine“, Sonderheft "70 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland“, Berlin, 10.09.2020, 75. Jg., Nr. 37, S. 24-27.

  2. Siehe Externer Link: www.a-r-k.de, "Rabbiner & Rabbinerinnen“.

  3. Eine Ausnahme bildete die Jüdische Gemeinde zu Berlin, in der auch nach der Schoa liberal-jüdische Rabbiner wirkten. – Siehe auch Elisa Klapheck, "Tallit“, in "So einfach war das. Jüdische Kindheit und Jugend in Deutschland seit 1945“, hrsg. v. Cilly Kugelmann u. Hanno Loewy, Dumont, Berlin 2002.

  4. Elisa Klapheck, "Der Tallit als Symbol für jüdische Frauenemanzipation - Religiöse Dress Codes und der Kampf um innerreligiöse Religionsfreiheit“, in "Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter“, hrsg. v. Juliane Kokott und Ute Mager, Mohr Siebeck, Tübingen 2014.

  5. Bab. Talmud, "Eruwin“ 96a.

  6. Bab. Talmud, "Megilla“ 23a

  7. Die bekannteste Tallit-tragende Frau war Brune in Mainz.

  8. Schulchan Aruch, "Orach Chajim“ 55:1.

  9. Elisa Klapheck, "Die Stellung der Frau - eine Sichtweise aus dem Reformjudentum“, in: "‘Lehre mich, Ewiger, Deinen Weg‘. Ethik im Judentum“, Grundlagenbuch für Lehrer und Schüler der Oberstufe, hrsg. v. Zentralrat der Juden in Deutschland und Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Hentrich & Hentrich, Berlin 2015.

  10. Elisa Klapheck, "Regina Jonas. Die weltweit erste Rabbinerin“, Hentrich & Hentrich (Miniaturen Bd. 4), Berlin 2003.

  11. "Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“, ediert, kommentiert u. eingeleitet v. Elisa Klapheck, Hentrich&Hentrich, Teetz 2000.

  12. "Bea Wyler. Die Pionierin. Vor 25 Jahren stellten die Gemeinden Oldenburg und Braunschweig erstmals einen weiblichen Rabbiner ein“, in Jüdische Allgemeine, 31.07.2020.

  13. Externer Link: https://www.bet-debora.net/de/

  14. "Reginas Erbinnen. Rabbinerinnen in Deutschland“, hg. v. Rabbinerin Antje Yael Deusel u. Rocco Thiede, Hentrich & Hentrich, Leipzig, 2020.

  15. Themenheft "FRAUEN“, Jüdische Illustrierte, Beilage der Jüdischen Allgemeinen, Berlin 5. März 2020.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Rabbinerin Elisa Klapheck für bpb.de

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Elisa Klapheck (Jahrgang 1962) ist Rabbinerin in Frankfurt a. M und lehrt Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Sie tritt für eine Erneuerung der jüdischen Religion im Lichte gesellschaftspolitischer und wirtschaftsethischer Fragestellungen ein. In diesem Zusammenhang gibt sie die Schriftenreihe "Machloket / Streitschriften“ heraus. Außerdem gehört sie zu den Mitbegründerinnen der jüdisch-feministischen Fraueninitiative "Bet Debora“ und publizierte ein Buch über die erste Rabbinerin der Welt "Fräulein Rabbiner Jonas - Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“.