Migration als existenzielle Krise in der Anfangsphase
In den 1990er und Anfang der 2000er Jahre migrierten zehntausende sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland. Denn als ethnisch und religiös unterdrückte Minderheit in der Interner Link: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde es Jüdinnen und Juden ermöglicht, nach dem sogenannten Kontingentflüchtlingsgesetz
Mit ihrer Ankunft mussten sie zunächst einmal neue soziale, psychologische, materielle und religiöse Ressourcen mobilisieren. Die einen, um die mit der Migration verbundenen Krisen zu bewältigen; die anderen, um den neuen Anforderungen im Aufnahmeland gerecht zu werden; wiederum jene, die ihre Stellung neu definierten und weiterentwickelten sowie andere, die ihre kulturellen Wahrnehmungen überdenken und neujustieren mussten. Der Migrationsprozess als Ganzes verursachte oft Schwierigkeiten im alltäglichen Leben: so z.B. existenzielle Unsicherheiten, Identitätsveränderungen, oder Diskrepanzen zwischen der Selbstwahrnehmung als Individuum/Gruppe und der Fremdwahrnehmung in der Aufnahmegesellschaft. Dabei wurden vor allem Normativitäten infrage gestellt. Auf der einen Seite wird Vielfalt in Deutschland, insbesondere in bestimmten Settings
Dessen "Nachteile“ wurden ihnen zwar stets in der Interner Link: Sowjetunion vorgetragen, aber von dessen Praxis hatten sie sich doch keine Vorstellung machen können. Ihr Alltag wurde nun von einem anderen politischen, ökonomischen und kulturellen System, mit ökonomischem Überfluss (der Ohnmacht und Überforderung auslöste) sowie anderen Sprach-, Denk- und Verhaltensmustern bestimmt. Exemplarisch dafür steht das Verhältnis der Arbeitswelt zur Alltagsorganisation und Lebensführung. In der Arbeitswelt gab es Phänomene wie Selbstvermarktung im Beruf, ein ganz anderes Arbeitsrecht oder gesetzlich geregelte Arbeitsverhältnisse, Teilzeitjobs, unterschiedliche Steuerklassen ("wir wussten nicht, was Brutto ist“
Sprachschwierigkeiten in Alltag und Kultur
Viele begleitet eine Sprachlosigkeit im weiteren Sinne: die Angst, Fragen zu stellen; die Angst, wenn das Telefon klingelt; die Angst, falsch zu reagieren. Oder die Angst als Jude oder Jüdin inadäquat auf z.B. folgende Frage (einer Deutschlehrerin im Sprachkurs) zu antworten: "Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? Wir freuen uns natürlich, aber ich kann es mir sehr schwer vorstellen. Fühlen Sie kein Mitleid gegenüber Ihren, im Holocaust umgekommenen Verwandten?“
"Die Russen sind da!“
Viele wurden, fast 50 Jahre nach dem Krieg, mit stigmatisierenden, auf den Krieg bezogenen Ausdrücken konfrontiert, wie z.B. "Die Russen sind da!“ oder "Polen ist offen“. Das erzeugte bei jüdischen Menschen aus der Sowjetunion als Siegermacht im Land der Shoah einen doppelten Konflikt: denn in vielen Familien hatten Soldaten gekämpft, die zum Teil gefallen waren, oder es wurden Familienmitglieder ermordet und Opfer der Shoah. Eine IP, die selbst Shoah-Überlebende ist und zur Gruppe der sogenannten jüdischen Kinderüberlebenden (Child Survivors) gehört, berichtet von einer Erfahrung aus ihrem Sprachunterricht: "Die Deutschlehrerin sagte uns, ihre Mutter sei ganz irritiert gewesen, als sie hörte, dass ihre Tochter ‚Russen‘ unterrichtet: ‚Das sind ja die, die Vergewaltiger!‘ Und dann war es still. Und ich sagte daraufhin: Wissen Sie, wenn ich in der Nacht schweißgebadet in Panik aufwache, weil auf der Straße jemand Deutsch redet und mein Fenster offen ist, brauche ich eine Weile, um zu begreifen, wo ich bin und, dass alles in Ordnung ist. Die Lehrerin hat dieses Thema nie wieder berührt.“
Vielleicht hatte man in der deutschen Bevölkerung Shoah-Überlebende einerseits und jüdische Genies andererseits erwartet – und stattdessen waren in der medialen Darstellung und Alltagswahrnehmung "Russen“ gekommen.
Der ursprüngliche Stolz, einen kulturell europäischen Habitus zu besitzen, war durchaus ein Grund gewesen nach Deutschland und nicht nach Israel auszuwandern. Doch wurde diese Entscheidung angesichts der Erfahrungen rund um die Wahrnehmung der osteuropäischen Herkunft und einer geschichtlich tief verwurzelten Ost-West-Dichotomie infrage gestellt. Gleichzeitig schien diese Entscheidung von Zugewanderten rechtfertigungs- und erklärungsbedürftig: nämlich als Juden und Jüdinnen ausgerechnet nach Deutschland ausgewandert zu sein, wie eine IP es formulierte: "Du brauchst tausende Begründungen, hierher zu kommen und dann tausende Rechtfertigungen, hier zu bleiben.“
Wiederum wurden ökonomische Auswanderungsgründe in das Land der Täter von machen nicht-Juden als unpassend und gefühllos bzw. als zu pragmatisch bewertet. In diesem Zusammenhang sagte ein IP: "Ich möchte mir nichts Ideologisches mehr in meinem Leben anhören müssen. Wir hatten genug ‚ismen‘ in unserem Leben in der Sowjetunion, man sollte auch ein Recht haben, für sich zu leben“.
Annäherung an die eigene Identität
Eine erste Annährung an und Auseinandersetzungen mit der eigenen jüdischen Tradition, Religion und Geschichte begann nach der Interner Link: Perestroika Mitte der 1980er Jahre und setzte sich dann in Deutschland fort. Hier gab es einen gewissen Spielraum für individuelle jüdische Identitäten. In der atheistischen Sowjetunion hingegen war jegliches Ausleben jüdischer Religion oder Tradition nicht gestattet. Gleichzeitig verstand man dort jüdische Zugehörigkeit als angeborene Nationalität, welche z.B. in offiziellen Formularen immer direkt nach dem Familiennamen und Geburtsdatum eingetragen wurde. Und dieser Eintrag hatte reale Nachteile angesichts eines institutionellen und alltäglichen Antisemitismus. Jüdische Zugehörigkeit wurde in erster Linie als historisch "schlechtes Schicksal“ interpretiert, oder "am falschen Ort in der falschen Haut“ geboren zu sein. Die absolute Mehrheit der russischsprachigen Juden und Jüdinnen konnte ihre jüdische Identität nur mit wenigen positiven Inhalten auffüllen und besaß kaum Kenntnisse bezüglich der Torah bzw. jüdischer Tradition. Neben die jahrzehntelange sowjetische Unterdrückung der jüdischen Religion, neben die alltäglichen Diskriminierungs- und Antisemitismuserfahrungen trat noch ein weiterer Aspekt: oft wurden ihnen ihre fehlenden Kenntnisse über jüdische Religion und Kultur sowie der verinnerlichte russisch-sowjetische Habitus in den Medien auch noch vorgehalten: als Beweis ihres Nicht-Wirklich-Jüdisch-Seins. Interessanterweise haben viele Menschen gerade durch die russischsprachige Renaissance des Judentums nach der Perestroika und über die russische Sprache einen Zugang zu ihren Wurzeln, der Torah und den Traditionen der Vorfahren (viele erst in Deutschland) gefunden – und pflegen diese bis heute intensiv auf Russisch.
Widersprüchlichkeiten russischsprachiger jüdischer Zuwanderung
Der Kennenlern- und Transformationsprozess in Deutschland hat sich alles andere als leicht erwiesen.
Auch berichten russischsprachige jüdische IP, dass von ihnen geradezu erwartet wird, Israel zu kritisieren. Vor dem Hintergrund, in ein demokratisches Land mit seiner kultivierten und hochgeschätzten Meinungsfreiheit eingewandert zu sein, wirkt diese Verpflichtung auf eine uniforme Position und der Anspruch dergestalt in einen gemeinsamen Dialog zu treten irritierend. Das potenziert sich, wenn Juden und Jüdinnen in Deutschland, die oft weder Hebräisch sprechen noch die israelische Staatsbürgerschaft haben, als Vertreter bzw. Vertreterin Israels wahrgenommen werden. Viele werden sowohl im Alltag als auch in Interner Link: Institutionen stellvertretend für israelische Politik verantwortlich gemacht und verbal angefeindet. In der Regel
"Besuchen Sie öfters Ihre Heimat?“ lautet eine weitere beklemmende Frage, die auch an russischsprachige Juden und Jüdinnen der zweiten Generation gestellt wird. Unabhängig davon, ob dabei Israel oder die Ukraine gemeint ist, werden im "Denken wie üblich“
Eine gewisse Kontinuität erleben viele im Vergleich zur ehemaligen Sowjetunion und Deutschland: so wurde der Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion von Vielen als Grund ihrer Auswanderung genannt.
Eine überraschende Erkenntnis für russischsprachige Juden und Jüdinnen wiederum war, dass sie selbst erst einmal im Deutschen lernen mussten, ohne Hemmungen und frei in der Öffentlichkeit das Wort "Jude“ auszusprechen, war dies doch im Russischen ("Yevrei“) ein stigmatisierendes Wort. Gleichzeitig bemerkten sie, dass viele Nichtjuden in Deutschland das Wort "Jude“ eher mit "jüdische Mitbürger“, "Menschen mosaischen Glaubens“, "Israeliten“ oder "Menschen anderer Religion“ zu umschreiben versuchten, oder aber das Wort "Jude“ nur vorsichtig über die Lippen brachten. Sie schienen eine Stigmatisierung dabei zu spüren oder fast Angst zu haben, sie damit beleidigen zu können. Dass das Wort "Jude“ sowohl im russischen als auch im deutschen Kontext als Schimpfwort wahrgenommen und verwendet werden kann, hatte Konsequenzen: Bei vielen führte es dazu, dass sie offen nach russischen, europäischen oder anderen Aspekten ihrer Identität lebten, die jüdische Zugehörigkeit aber wegen Bedenken vor unbequemen Konfrontationen oder vor Antisemitismus verbargen bzw. dies noch immer tun.
Ein weiterer, immer noch bestehender wichtiger Widerspruch ist die Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen deutschen Erbe und den eigenen jüdischen Familienbiografien in der Sowjetunion. Die immer wieder in die Gegenwart reichende deutsche NS-Vergangenheit – sich äußernd in latenten/manifesten antisemitischen Einstellungsmustern bis hin zu tätlichen Angriffen – stellt eine unveränderbare, schwer aushaltbare Kulisse dar. Denn solche Erfahrungen kollidierten mit der eigenen Erinnerungskultur: so wurde der aus der Sowjetunion mitgebrachte Wunsch, innerhalb der Gemeinden den Siegertag am 8. (in der SU am 9.) Mai zu zelebrieren und an diesem Tag mit sowjetischen Orden und Medaillen als Veteranen sichtbar in die Gemeinde zu kommen, zunächst mit großer Vorsicht und Befremdung wahrgenommen. Wie eine russischsprachige jüdische Sozialarbeiterin es darstellte: "Am Anfang hat man sie (jüdische Veteranen mit den Orden, J.B.) wie Clowns und gar nicht als tatsächliche Helden in der Gesellschaft gesehen. Die Orden waren in Deutschland mit Nazischam assoziiert und sie werden nicht mit Stolz, wie in der SU zum 9. Mai, in der Öffentlichkeit getragen. Es hat gedauert, bis man diese Menschen auch in den Gemeinden als wahre jüdische Helden und ihren jüdischen Beitrag zur Befreiung vom NS-Regime anerkannt hat.“ Mittlerweile ist die 9. Mai-Feier in den jüdischen Gemeinden ein fester Bestandteil des Jahreskalenders. Allerding wurde und wird diese Quelle des kollektiven Stolzes durch den sozioökonomischen Status der älteren Gemeindemitglieder (oft ehemaligen Soldaten in der Roten Armee) stark relativiert. Ein IP sagte hierzu: "Ich muss gestehen: Als wir angekommen sind und die Deutschen uns geholfen haben – sie brachten Kleider oder so – musste ich weinen. Die Deutschen! Haben uns geholfen! Unser ganzes Leben haben wir sie als Feinde gesehen und wir waren die Sieger! Und nun unterstützen sie uns mit Sozialhilfe, und wir kriegen nichts von unserem Russland – Mutterland-, von der Siegermacht!“
Viele äußern auch ein Gefühl der Ungerechtigkeit darüber, dass Abschlüsse der russischsprachigen deutschen Interner Link: Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern, die teilweise ihr Studium an denselben Universitäten in der SU absolviert hatten, anerkannt wurden; ebenso, dass die Dauer ihrer Erwerbstätigkeit in der SU auf ihre Rente angerechnet wurde und sie dadurch einen privilegierten Status erhielten. Den sogenannten Kontingentflüchtlingen stand im Gegensatz dazu nur die als Erniedrigung empfundene Grundsicherung zu. Viele IP sprechen bis heute von einer moralisch schwer auszuhaltenden Lage. Vor allem, da man sie trotz ihrer mehrjährigen Erfahrung in hochqualifizierten Bereichen mit Arbeitslosen oder anderen bedürftigen Gruppen gleichsetzte und ihnen somit ihren potenziellen gesellschaftlichen Beitrag verweigerte.
Wachstum und Entwicklung jüdischer Gemeinden
Nach unterschiedlichen Quellen sind zwischen 210.00 und 220.00 russischsprachige Juden nach Deutschland immigriert.
Zum einen ging es darum, die große Zahl an Zugewanderten bei den vielfältigen Migrationsproblemen in allen Lebensbereichen intensiv zu unterstützen. Zum anderen ging es darum, sich mit dem neuen Geflecht, der erweiterten Konstitution des Gemeindecharakters und den Auswirkungen der Zuwanderung auf die Zukunft jüdischer Gemeinden in Deutschland auseinanderzusetzen und entsprechend zu agieren. In vielen Städten und Bundesländern
Zugehörigkeit in den Gemeinden
Auch bezüglich der Frage "Wer zählt als jüdisch?“ entstanden neue Probleme. Denn entsprechend der sowjetischen Definition als Ethnie und Nationalität wurden Menschen mit einem jüdischen Vater als Juden und Jüdinnen eingeordnet. In Deutschland durften sie dann allerdings nicht zu Mitgliedern in den jüdischen Kultusgemeinden werden, da diese sich in ihrer traditionell religiösen Auslegung des Judentums und des halachischen Gesetzes ausschließlich an der mütterlichen jüdischen Abstammung orientieren und auf diese Weise das Jüdischsein definieren. Als Resultat distanzierten sich etliche mixed families sowie viele der jüdischen Männer, deren Kinder nicht als jüdisch anerkannt wurden, selbst von der jüdischen Gemeinde.
Die Frage nach der Bedeutung jüdischer Identität "erwischte“ viele Zugewanderte viel früher als sie dafür bereit waren. Kaum im neuen Land angekommen, mit unzähligen ungelösten existenziellen Fragen und Sprachschwierigkeiten konfrontiert, stand die Frage im Raum: Womit genau soll man die eigene "wirklich“ jüdische Identität beweisen? Oder die Entscheidung, ins Land der Täter ausgewandert zu sein, erklären? So berichtet ein IP über den Besuch eines Paares, welches bei der Gemeindeführung "komisch schaute“, nachdem es den russischen Akzent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde gehört hatte und dann direkt fragte: "Und wo sind die echten Juden, die ohne Akzent?“ Daraufhin sagte ein russischsprachiger Mitarbeiter: “Die ohne Akzent wurden in der Shoah ermordet. Jetzt sind wir mit dem Akzent da, aber wir können uns doch verstehen, oder?“ Die Besucherinnen und Besucher drehten sich um und verließen das Gemeindehaus. Eine andere russischsprachige Mitarbeiterin einer Gemeinde, die solche Führungen regelmäßig durchführt, weiß ähnliches zu berichten: "Viele Besucher kommen mit sehr wenig Wissen über Juden und Judentum und wir sind dann die ersten Juden, denen sie begegnen“.
Als weitere Besonderheit stellt sich der deutlich höhere Altersdurchschnitt der russischsprachigen Zuwanderinnen und Zuwandern im Unterschied zu anderen Migrantinnen und Migranten in Deutschland heraus. Heute sind 60 Prozent der Gemeindemitglieder über 51 Jahre alt und 48 Prozent (von denen die meisten russischsprachige Jüdinnen und Juden sind) über 61 Jahre alt.
Zur Entwicklung jüdischer Jugendlicher bzw. junger Erwachsener
Angesichts der Überalterung der Gemeinden gewinnen attraktive alternative Angebote und Programme für junge Erwachsene zunehmend an Bedeutung. Auch jüdische Erziehung und Bildung stehen im Fokus jüdischer Organisationen. Heute gibt es dreizehn jüdische Schulen in Deutschland (in sieben Großstädten).
Junge Menschen zweiter Generation, die sehr oft das Gymnasium beenden und Hochschulabschlüsse erwerben, weisen meist eine erfolgreiche sozioökonomische Teilhabe auf und haben gesicherte Arbeitsplätze als z.B. Lehrkräfte, Ärzte und Ärztinnen, Anwälte und Anwältinnen, selbstständige Unternehmer und Unternehmerinnen. Ihre Arbeitslosigkeitsraten sind niedriger als die der nicht jüdischen Bevölkerung.
Oft werden Verantwortliche an jüdischen Schulen gefragt, wie es ihnen gelungen sei, die russischsprachigen Kinder, die meist ihre größte Schulgruppe bilden, innerhalb weniger Jahre so erfolgreich einzugliedern. Eine der Erklärungen lässt sich in der traditionell hohen Bildungsmoral und in den ausgesprochen hohen Bildungsaspirationen ihrer Eltern (die meisten sind Akademiker und Akademikerinnen) finden.
Aktivitäten der Gemeinden
Durch die Zuwanderung russischer Jüdinnen und Juden ab den 1990er Jahren bekamen die Gemeinden nicht nur einen ganz neuen sprachlichen und habituellen Charakter, sondern auch einen neuen räumlichen Charakter in den jeweiligen Städten. Mit der Entstehung neuer jüdischer Gemeinden und der Eröffnung neuer Synagogen wurden sie mit der Zeit zum integralen (auch wenn von der Polizei geschützten) Teil einiger deutscher Städte, so wie eine Sozialarbeiterin in der Gemeinde es formuliert: "Früher wussten die Taxifahrer gar nicht, ob es eine Synagoge in der Stadt gibt, jetzt ist sie ein untrennbarer und respektierter Teil dieser Stadt“. Mindestens genauso wichtig ist die Tatsache, dass hier lebendige und offene Lernorte entstanden sind über jüdische Tradition und Religion sowie für antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Das bietet reale Möglichkeiten, durch einen persönlichen Kontakt Juden und Jüdinnen kennenzulernen und sich über alle möglichen Themen austauschen zu können.
Allerdings berichten auch hier einige IP, die sich bei Führungen in Synagogen oder anderen Angeboten engagieren, dass sie regelmäßig mit Ressentiments gegen Israel oder anderen antisemitischen Bildern konfrontiert werden. Für solche Situationen brauche es ihnen zufolge eine sehr feste und selbstbewusste eigene jüdische Identität, um dagegen entsprechend Aufklärung leisten zu können.
Besonders in den Bereichen der interkulturellen Öffnung und des interreligiösen Dialogs finden viele Veranstaltungen mit der Teilnahme russischsprachiger Akteure und Akteurinnen in den Gemeinden statt. Viele Kinder russischsprachiger Migranten und Migrantinnen engagieren sich aktiv in Dialogprojekten Interner Link: wie z.B. "Meet a Jew“ oder in Empowermentprojekten für andere jüdische Kinder und Jugendliche.
Zukunft
Die Herausforderungen für die russischsprachigen jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer waren und sind immer noch vielfältig. Mit diesem Artikel wurde ein Blick auf die Erfahrungen des Migrationsprozesses und des Lebens in Deutschland, auf den Umgang mit Stereotype über Jüdinnen und Juden, die Annäherung an die eigene, facettenreiche Identität und auf das Gemeindeleben geworfen. Auch für die Zukunft der jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und der ihrer Kinder bleiben sie prägend: Ältere russischsprachige Juden und Jüdinnen scheinen sich zunehmend als "integrierte Fremdkörper“ in Deutschland wahrzunehmen.
Herauszustellen sind in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Wunsch und eine Unsicherheit: Viele IP äußern den Wunsch nach einer Normalität jüdischen Lebens in Deutschland, danach, dass sie und ihre Kinder – nachdem sie mit der Migration verbundene Herausforderungen für sich zum Teil bewältigt haben und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte – gleichberechtigt und selbstverständlich am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilhaben können. Ein IP entwirft ein solches Normalitätsszenario, in dem es gängig wäre, "genauso wie die Weihnachtskarten auch Channuka- oder Rosch Haschana-Grußkarten“ zu finden. Gleichzeitig weist der IP darauf hin, dass dieses Normalitätsszenario für ihn aufgrund seines Erlebens der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus in weite Ferne gerückt sei. Das legt die Unsicherheit offen, die viele Juden und Jüdinnen teilen. Der Interner Link: Antisemitismus in Deutschland ist für sie kein abstraktes gesellschaftliches Problem, sondern ein alltägliches und überdies eine konkrete Gefahr. Das belegt nicht nur der Interner Link: rechtsterroristische Terroranschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) 2019, sondern auch die Tatsache etwa aus Sorge vor Angriffen jüdische Symbole nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tragen.