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Ungleichheit Editorial Gleichheit als normatives Prinzip Gleichheit – ein Missverständnis Illusion der Gleichheit. Über die Perzeption sozialer Ungleichheit und ihre Folgen Ungleichheit, Demokratie und Autokratisierung Wie ungleich ist die Welt? Ergebnisse des World Inequality Report 2022 Ungleichheit in der Klassengesellschaft

Gleichheit als normatives Prinzip

Stefan Gosepath

/ 17 Minuten zu lesen

Soziale Ungleichheit steht häufig im Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Dabei ist, normativ betrachtet, gar nicht von vornherein klar, welche Formen der Ungleichheit moralisch schlecht und welche zu rechtfertigen sind.

Glaubt man den einschlägigen empirischen Indikatoren, dann herrscht in Deutschland eine zunehmende soziale und finanzielle Ungleichheit. Diese betrifft zum einen die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen zwischen Personen und Haushalten, wobei die weltweite wirtschaftliche Ungleichheit noch weitaus gravierender erscheint. Monetäre Ungleichheit manifestiert sich allerdings nicht nur in einer finanziellen Streuung von Armut bis Reichtum, sondern umfasst als Folgewirkung zum anderen oft auch eine soziale Stratifikation der Gesellschaft in soziale Lagen oder Klassen, verbunden mit mangelnden Aufstiegschancen, fehlender Chancengleichheit und geringer sozialer Mobilität. Soziale Ungleichheit umfasst daher neben finanzieller Ungleichheit auch die ungleiche Art des sozialen Umgangs der Gesellschaftsmitglieder untereinander. Bei dieser Art sozialer Ungleichheit, oft genauer "relationale Ungleichheit" genannt, wird den anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht der gleiche soziale Status zuerkannt; sie werden im sozialen Umgang nicht als Gleiche anerkannt.

So weit die empirisch feststellbare Lage. Warum ist das normativ betrachtet ein Problem? Intuitiv mögen viele diese Ungleichheiten als schlecht empfinden, andere hingegen nicht, was die immer wieder aufkommenden gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen über diese Thematik erklärt. Nicht beantwortet ist damit aber die normative Frage, ob finanzielle und soziale Ungleichheit denn tatsächlich, moralisch betrachtet, schlecht sind oder nicht – und was genau an Ungleichheit schlecht ist. Wer (deskriptiv) empirische Ungleichheit beklagt, fordert (präskriptiv) mehr Gleichheit. Daher setzt eine Antwort auf die vorhergehenden Fragen einen präskriptiven Maßstab, eine Norm oder eine Regel, voraus: Unter welchen Bedingungen sind Forderungen, Menschen finanziell und sozial gleich(er) zu behandeln, sie also in gleicher Weise mit Gütern oder Einkommen oder Vermögen auszustatten und sozial als Gleiche anzuerkennen, Forderungen der Gerechtigkeit? Die folgenden Ausführungen wollen aus philosophischer Perspektive klären helfen, warum genau welche Art von Ungleichheit aus Gründen der Gerechtigkeit als moralisch schlecht angesehen und deshalb erfolgreicher als bisher bekämpft werden sollte.

Keine strikte "einfache" Gleichheit

Um einen typischen – oft polemischen – Einwand gleich aus dem Weg zu räumen: Es geht nicht um Gleichmacherei. Natürlich sind nicht alle Menschen gleich, im Gegenteil, und natürlich sollen sie nicht alle gleich gemacht werden. Im Unterschied zu numerischer Identität setzt eine Forderung nach Gleichheit die Verschiedenheit des Verglichenen voraus. "Gleichheit" bedeutet Übereinstimmung einer Mehrzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen. "Gleichheit" beziehungsweise "gleich" ist somit ein unvollständiges Prädikat und muss immer die Frage nach sich ziehen: gleich in welcher Hinsicht? Wer die Gleichbehandlung von Personen in einer Hinsicht fordert, unterstellt nicht, dass diese Personen in allen Hinsichten vergleichbar sind, sondern dass sie – trotz ansonsten bestehender Unterschiede – in dieser einen relevanten Hinsicht gleichbehandelt werden sollten. Um Personen gerecht zu werden, impliziert Gleichheit als Forderung der Moral immer auch eine Anerkennung der Besonderheit, der Individualität und damit der Verschiedenheit der Personen.

Strikte Gleichheit als Maximalposition, die allen Personen ein gleiches materielles Level an Gütern und Leistungen gewähren will, wird gemeinhin als unplausibel verworfen. Sie scheitert an Problemen, die auch allgemein gegen Gleichheit eingewandt werden und die jede plausible Gleichheitsauffassung lösen muss: Erstens müssen angemessene Indizes für die Messung der Gleichheit der zu verteilenden Güter angegeben werden. In welchen Begriffen oder Konzepten soll Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit verstanden werden? Die Gleichheit materieller Güter beispielsweise kann zu ungleicher Zufriedenheit führen. Als üblicher, wenn auch bekanntermaßen unzulänglicher Index wird das Geld benutzt, wobei offensichtlich ist, dass zum Beispiel das Konzept der Chancengleichheit anders erfasst werden muss. Zweitens muss angeben werden, in welchem Zeitraum das angestrebte gleiche Verteilungsmuster realisiert sein muss. Strikte Gleichheit fordert Gleichheit innerhalb kürzerer Zeitabstände. Dies scheint jedoch die Verfügungsgewalt von Personen über ihren Anteil unzulässig einzuschränken. Drittens verzerrt Gleichheit ökonomische Leistungsanreize und führt zu einem Mangel an Effizienz, weil bei der Umverteilung durch administrative Kosten ein Schwund an Gütern auftritt. Gleichheit und Effizienz müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden. Oft wird, hauptsächlich von Ökonomen, diesbezüglich eine sogenannte Pareto-Optimalität verlangt. Ein Zustand ist Pareto-optimal oder Pareto-effizient, wenn es nicht möglich ist, in einen anderen sozialen Zustand überzugehen, der mindestens von einer Person als besser und von keiner als schlechter beurteilt wird. Diese Beurteilung ist jedoch immer relativ zu einem gegebenen Ausgangszustand, der ungleich und ungerecht sein kann. Deshalb mag es zur Herstellung von Gerechtigkeit nötig sein, Pareto-Optimalität zu verletzen. Zumindest darf Gleichheit in den Augen der Kritikerinnen und Kritiker nicht dazu führen, dass manche auf Güter verzichten müssen, wenn dadurch kein "Schlechtergestellter" bessergestellt wird. Viertens gibt es moralische Einwände: Strikte und mechanische Gleichbehandlung aller Beteiligten nimmt die Unterschiede zwischen den Individuen und ihren Situationen nicht ernst. Eine Kranke hat intuitiv andere Ansprüche als ein Gesunder; ihr das Gleiche zuzuteilen wäre falsch. Bei einfacher Gleichheit wird die Freiheit der Individuen unzulässig beschränkt und die je individuelle Besonderheit der Person nicht hinreichend berücksichtigt; insofern wird sie eben nicht "gleich" berücksichtigt. Moralisch besteht nicht nur ein Recht auf die Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse, sondern auch ein Recht auf die Früchte der eigenen Arbeit, darauf, dass die eigene Leistung, das Verdienst, auch zählt. Fünftens schließlich besteht die Gefahr, dass Gleichheit zu Gleichmacherei, Uniformität und Einebnung führt, statt Differenz und Pluralität zu respektieren.

Postulate der Gleichheit

Wenn schon Gleichheit, dann bedarf es also statt einfacher Gleichheit einer Konzeption komplexerer Gleichheit, der es durch die Unterscheidung von verschiedenen Güterklassen, Sphären und differenzierteren Kriterien gelingt, auf diese Problemlagen zu antworten. Aber warum überhaupt Gleichheit? Weil bestimmte Formen der Gleichheit konstitutive Elemente der Gerechtigkeit sind. Diese für Gerechtigkeit notwendigen Formen der Gleichheit lassen sich mittels der folgenden fünf moralisch begründeten Postulate der Gleichheit explizieren.

Formale Gleichheit

Wenn zwei Personen in mindestens einer relevanten Hinsicht als gleich gelten, müssen sie in dieser Hinsicht auch gleichbehandelt werden; andernfalls wird eine ungerecht behandelt. Dies ist das allgemein akzeptierte formale Gleichheitsprinzip, das Aristoteles im Rückgriff auf Platon so formulierte: Gleiche(s) gleichbehandeln. Damit sind wichtige – empirisch aber leider immer noch vorkommende – Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen prinzipiell ausgeschlossen, wie etwa die ungleiche Behandlung vor dem Gesetz. Strittig sind jedoch nach wie vor Fälle, in denen zum Beispiel Frauen für gleiche Arbeit weniger Lohn beziehen als Männer. Eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter ist gesetzlich in Deutschland zulässig, wenn der Grund der Ungleichbehandlung wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Das formale Postulat der Gleichheit bleibt also solange leer, wie unklar ist, was hier "gleiche Fälle" und was "gleichbehandeln" meint. Alle Debatten über die richtige Auffassung von Gerechtigkeit, also darüber, wem was zukommt, können, wie schon Aristoteles bemerkte, als Kontroversen über die Frage aufgefasst werden, welche Fälle gleich und welche ungleich sind.

Proportionale Gleichheit

Oft scheint Gerechtigkeit eine Ungleichbehandlung von Menschen zu fordern. Alle anti-egalitären Theorien haben ihren Ursprung in der Überlegung, dass es keinen allgemeinen Anspruch auf Gleichheit unter allen Menschen und keinen gleichen Anspruch aller Menschen auf etwas geben könne. Deshalb hatten Platon und Aristoteles bereits die Forderung einer proportionalen Gerechtigkeit beziehungsweise Gleichheit erhoben, nach der ungleiche Ansprüche verhältnismäßig oder verhältnisgerecht zu berücksichtigen sind. Wenn Faktoren für eine Ungleichverteilung sprechen, weil Personen in relevanten Hinsichten ungleich sind, ist diejenige Verteilung gerecht, die proportional zu diesen Faktoren ist. Ungleiche Verteilungsansprüche müssen proportional berücksichtigt werden; das ist die Voraussetzung dafür, dass die Personen gleich berücksichtigt werden.

Wenn sich Unterschiede (jenseits des gleichen Wertes aller Menschen, siehe nächsten Abschnitt) als behandlungs- oder verteilungsrelevant allgemein und reziprok rechtfertigen lassen, müssen die jeweiligen Menschen proportional gleichbehandelt werden. So sollten zum Beispiel Erwachsene und Kinder üblicherweise unterschiedliche Kalorienmengen bekommen, um ihren gleichen Anspruch auf Ernährung oder Sättigung zu befriedigen. Die angemessene Zuteilung von Kalorien ist ein Fall proportionaler Gleichheit: Erwachsene und Kinder werden hier mit Blick auf die Kalorien ergebnisungleich behandelt, da sie nicht die gleiche Menge an Kalorien erhalten. Bezüglich ihres Anspruchs auf Ernährung werden sie jedoch gleich berücksichtigt, also in dieser Hinsicht gleichbehandelt. Gleiche Berücksichtigung – oder in der Formulierung des Philosophen Ronald Dworkin: "als Gleiche behandelt zu werden" – erfordert demnach nicht ergebnisgleiche, sondern proportional gleiche Behandlung.

Moralische Gleichheit

Neben formaler und proportionaler Gleichheit ist für die Moderne die Forderung moralischer Gleichheit zentral. Alle Personen sollen trotz deskriptiver Unterschiede in bestimmten relevanten Hinsichten als moralisch gleich betrachtet und als Gleiche behandelt werden, sodass ihnen im Wesentlichen gleiche moralische Rechte und Pflichten zustehen und jeder und jede auf dieselbe Weise mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt wird. Jeder Person gebührt die gleiche Würde (Menschenwürde) und gleiche Achtung. Das bedeutet aber nicht notwendig, dass eine Person genau gleich wie eine andere zu behandeln ist. Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte drückt es so aus: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Dieser Grundsatz beinhaltet mindestens dreierlei: erstens einen Anspruch auf gleiche Anerkennung und Sicherung der individuellen Autonomie. Kant hat dies mit der "Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjects, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein" auf den Begriff gebracht. Er beinhaltet zweitens einen Anspruch auf gleiche Würde, auch wenn das substanziell wenig konkret ist. Drittens schließlich beinhaltet er ein Verbot primärer Diskriminierung. Darunter ist eine Ungleichbehandlung unter der Annahme gegebener Wertunterschiede zwischen Menschen zu verstehen, die angeblich unterschiedliche (oft proportionale) Ansprüche rechtfertigen.

Dieses Prinzip der gleichen Würde und Achtung wird heute von allen Hauptströmungen der modernen westlichen Kultur als moralischer Minimalstandard akzeptiert. Aber auch wenn sich in der Philosophie diese Einsicht durchgesetzt zu haben scheint, ist das in der alltäglichen Praxis keineswegs der Fall. Der Kampf gegen primäre Diskriminierungen aller Art ist und bleibt ein klassisch egalitäres Anliegen, das trotz allgemeiner philosophischer Akzeptanz nach wie vor nichts von seiner politischen Bedeutung verloren hat. Denn weder werden alle Menschen tatsächlich weltweit gleich berücksichtigt, noch mangelt es an immer wiederkehrenden, meist ideologischen Versuchen einer Verteidigung inegalitaristischen Gedankenguts, denen es von egalitaristischer Seite entgegenzutreten gilt. Primäre Diskriminierungen und ihre Folgen sind fundamental ungerecht und oft schlimmer zu ertragen als zum Beispiel ökonomische Ungleichheiten, die nicht auf primären Diskriminierungen beruhen. Im Laufe der Zeit ist – meist durch politische Bewegungen und Anerkennungskämpfe, erinnert sei nur an die jüngeren Bewegungen für die Gleichstellung der Geschlechter, von Schwulen und Lesben oder der Körperbehinderten – unsere Sensibilität mühsam dafür geschärft worden, dass es über das schon Anerkannte hinaus weitere Dinge gibt, die als primäre Diskriminierung anzusehen sind. Es bedarf deshalb auch heute der steten Aufmerksamkeit, ob nicht unter dem Deckmantel einer vermeintlichen (kulturellen) Normalität weitere, sich letztlich als unbegründbar herausstellende Ausschlüsse und Normierungen vonstattengehen – sei es wegen Unterschieden im Geschlecht, der sozialen Herkunft, der Ethnie, der Sprache, der Kultur, der Religion oder aufgrund von sozialen Hierarchien –, die dafür sorgen, dass Menschen das Recht, als Gleiche behandelt zu werden, versagt wird. Nach dem Prinzip moralischer Gleichheit dürfen keine Unterschiede zwischen Menschen bezüglich ihrer Würde oder ihrem basalen Wert gemacht werden.

Präsumtion der Gleichheit

Welche Art von Gleichheit oder Gleichbehandlung ist nun normativ gefordert, wenn wir uns wechselseitig als Personen betrachten? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich durch das Verfahrensprinzip der "Präsumtion der Gleichheit" strukturieren. Die Regel lautet: Allen Betroffenen sind ungeachtet ihrer deskriptiven Unterschiede strikt gleiche Anteile der zu verteilenden Güter zu geben – es sei denn, bestimmte (Typen von) Unterschiede(n) sind für die Verteilung relevant und rechtfertigen durch allgemein annehmbare Gründe erfolgreich eine ungleiche Verteilung. Die Präsumtion der Gleichheit stellt ein Prima-facie-Gleichverteilungsprinzip für alle politisch zur Verteilung anstehenden Güter dar. Sie spezifiziert, was es heißt, alle Personen als Gleiche und Freie zu behandeln, sofern es um die Verteilung von Rechten und Pflichten sowie von Gütern und Lasten geht. Die Präsumtion gesteht der Gleichverteilung gewissermaßen einen argumentativ-formalen Vorrang zu: Ungleichverteilungen sind rechtfertigungsbedürftig, Gleichverteilungen dagegen nicht. Im Prinzip ist dies mit jeder Form von Ungleichheit zu vereinbaren, sofern diese sich begründen lässt. Gleichwohl bewirkt die formale Auszeichnung einen Vorrang der Gleichverteilung; durch die Beweislastverschiebung wird es erfahrungsgemäß viel schwerer, Ungleichheiten zu rechtfertigen.

Wie naheliegend dies ist, zeigt das häufig in diesem Zusammenhang erwähnte "Tortenbeispiel": Eine Mutter will einen Kuchen unter ihren Kindern verteilen. Angenommen, alle Kinder wollen ein möglichst großes Stück des Kuchens – wie soll die Mutter den Kuchen verteilen? Wenn keines der Kinder einen überzeugenden Grund dafür nennen kann, warum es ein größeres Stück bekommen soll als andere, muss der Kuchen in gleich große Stücke geteilt werden. Ein anderes in Diskussionen um Verteilungsgerechtigkeit ebenfalls oft benutztes Beispiel zeigt, was solche relevanten Gründe sein können: Die Besatzung eines Schiffes ist auf einer unbewohnten Insel gelandet und steht nun vor der Frage, wie sie die dortigen Ressourcen verteilen soll. Relevante Gründe für eine Ungleichverteilung der Ressourcen könnten zum Beispiel sein: spezifische Bedürfnisse, erworbene Rechte, Verdienst oder größerer Nutzen.

Warum gilt die Präsumtion der Gleichheit? Jede Person muss alle Vorteile, vor allem Güter, die sich in ihrem Besitz befinden, aus reziproken und allgemeinen Gründen für sich reklamieren können. Die gleiche Berücksichtigung aller subjektiven Rechtsansprüche zusammen mit diesem Rechtfertigungsprinzip erlegen uns einen Rechtfertigungszwang für alle im Prinzip veränderbaren Situationen auf. Die gleiche, angemessene Berücksichtigung aller subjektiven Rechtsansprüche verlangt, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Das ist der Anspruch der Gerechtigkeit. Eine unterschiedliche Güterzuteilung kann nur gerechtfertigt werden mit Bezug auf verteilungsrelevante Unterschiede der Personen. Nur diese können eine Ungleichbehandlung als jeder Person angemessen rechtfertigen. Eine Ungleichverteilung ohne solche rechtfertigenden Gründe wäre willkürlich. Gerechtigkeit verlangt hingegen den Ausschluss jeglicher moralischer Willkür. Wenn also keine verteilungsrelevanten Unterschiede bestehen – weil von vornherein niemand berechtigte Ansprüche auf bestimmte Güter stellen kann oder weil alle Ansprüche bereits erfüllt wurden –, müssen alle Personen dieselbe Güterzuweisung erhalten. So begründet sich die Präsumtion der Gleichheit.

Hält man sich die verschiedenen Formen finanzieller Ungleichheit vor Augen, wie wir sie gegenwärtig empirisch vorfinden, dann bestehen doch erhebliche Zweifel, ob sich diese nach den genannten Kriterien rechtfertigen lassen. Ohne die in der Diskussion vorgeschlagenen Gründe für eine Ungleichverteilung hier im Einzelnen diskutieren zu können, lehnt man sich wohl mit der an anderer Stelle überprüften Hypothese nicht zu weit aus dem Fenster, dass in unserer Gesellschaft zu viele und zu große finanzielle Ungleichheiten herrschen, die sich nach den hier genannten Gleichheitsprinzipien nicht rechtfertigen lassen.

Schaut man sich insbesondere das immer wieder zur Rechtfertigung von ungleichen Einkommen vorgebrachte Argument der "Leistungsgerechtigkeit" des Marktes an, erkennt man schnell, wie ungerecht dieser ist. Erstens belohnt der Markt nicht Leistung, sondern funktioniert nach Angebot und Nachfrage. Wer zuerst einen Impfstoff auf den Markt bringt, der macht enorme Profite, auch wenn er möglicherweise nicht mehr leistet als ein anderes Unternehmen, das einfach Pech bei der Entwicklung hatte. Zweitens ist das, was unter Leistung verstanden wird, häufig in der sozialen Herkunft, der natürlichen Ausstattung oder in angeborenen Talenten begründet. Wer aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt kommt und deshalb besonders gut in der Schule ist, der leistet nicht mehr, sondern reproduziert das, was er von Zuhause mitbringt. Ebenso verhält es sich mit dem Basketballspieler, der 2,10 Meter groß ist und deshalb viele Körbe wirft. Niemand kann etwas für solche Zufälle, und deshalb dürfen diese auch kein Kriterium für eine Verteilung sein. Der Markt kann nicht für Gerechtigkeit sorgen.

Gleichwohl brauchen wir den Markt aus instrumentellen Gründen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sollten bestimmte Tätigkeiten von denjenigen mit den besten Fähigkeiten und Talenten ausgeübt werden. Wer möchte schon von einem inkompetenten Herzchirurgen operiert werden statt von dem besten, den es gibt? Diese Auswahl nach bestimmten Fähigkeiten gewährleistet der Markt. Aber daraus, dass jemand die fähigste Herzchirurgin ist, folgt eben noch nicht zwingend, dass sie mehr leistet als andere und dementsprechend mehr verdienen sollte. Wer heute de facto viel Geld verdient, verdient das häufig nicht in einem moralischen Sinne, denn er oder sie leistet moralisch gesehen nicht mehr als andere. Dies verlangt nach Umverteilung zugunsten der Schlechtergestellten; die Zufälle der Natur müssen kompensiert werden. Ein gerechtes Steuersystem müsste die negativen Folgen der Marktwirtschaft ausgleichen, und zwar vor allem durch eine höhere Einkommens- und Vermögenssteuer. Dann ist eine gerechte Verteilung auch für diejenigen möglich, die aufgrund von Zufällen nicht die Chance hatten, Herzchirurgin oder Spitzensportler zu werden. Auch bräuchte es eine deutlich wirkungsvollere Erbschaftssteuer, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Denn auch Erben ist ein historischer Zufall.

Relationale Gleichheit

Finanzielle Ungleichheit führt oft zu einer sozialen Hierarchisierung der Gesellschaft, in der die finanziell Bessergestellten nicht mehr auf dem gleichen gesellschaftlichen Level agieren wie die finanziell Schlechtergestellten. Im schlimmsten Fall führt das zu einer sozialen Stratifikation der Gesellschaft, in der "die da Oben" und "die da Unten" kaum noch oder gar nicht mehr miteinander interagieren. Die Beseitigung bestimmter schädlicher sozialer Hierarchien, wie etwa Herrschafts-, Status- und Kastenhierarchien, stellt eine zentrale Forderung der Gerechtigkeit dar. Relationale Gleichheit verlangt daher, Ungerechtigkeiten wie Marginalisierung (keinen Zugang zu nützlicher sozialer Teilhabe zu haben), Machtlosigkeit (nur Zugang zu sozialen Rollen zu haben, die die Autonomie übermäßig einschränken), Kulturimperialismus (Kulturen unsichtbar zu machen oder durch abwertende Stereotype zu repräsentieren) oder illegitime Herrschaft (Unterwerfung unter willkürliche Macht) zu vermeiden. So kann es beispielsweise unsere Pflicht sein, systemischen Rassismus durch eine Umstrukturierung unserer Kultur und unserer Institutionen zu bekämpfen oder sogar die soziale Klasse zu beseitigen, indem wir die intergenerationale Weitergabe von wirtschaftlicher Ungleichheit und Bildungsvorteilen stark einschränken. Dazu müssen auch bestimmte soziale Bedingungen und persönliche Fähigkeiten herausgebildet werden, die es den Menschen ermöglichen, eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft einzunehmen. So benötigen Bürgerinnen und Bürger etwa angemessene Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Bildung und medizinische Versorgung. Obwohl relationale Gleichheit den Schwerpunkt auf gerechte soziale Beziehungen und nicht auf die Verteilung von Gütern an sich legt, liefert sie somit auch intrinsische und instrumentelle Gerechtigkeitsgründe, um sich um mehr Verteilungsgleichheit bei gesellschaftlich produzierten Gütern zu kümmern.

Gleichheit ist als normatives Prinzip unverzichtbar

Ist Gleichheit ein Wert an sich? Viele Egalitaristen sind heute bereit zuzugestehen, dass Gleichheit im Sinne von Gleichheit der Lebensumstände keinen starken Wert an sich hat, sondern ihre Bedeutung im Rahmen liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen im Zuge der Verfolgung anderer Ideale erhält – wie Freiheit für alle, der vollen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und der Persönlichkeit, der Beseitigung von Leid, Dominanz und Stigmatisierung oder einem stabilen Zusammenhalt freiheitlich verfasster Gesellschaften. Dies öffnet die Tür für die kritische Nachfrage, ob nicht vielleicht ein anderer Gesichtspunkt als die Gleichheit der Lebensumstände (auch für Egalitaristen) das Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit ist. Alternativen wären etwa die Sicherung eines hinreichend guten Auskommens für jeden und jede oder die vorrangige Verbesserung der Situation der Schlechtergestellten.

Beides ist in der Tat dringlich, doch ist und bleibt Gleichheit ein wichtiger Wert. Denn auch wenn Gleichheit keinen intrinsischen Wert an sich darstellt, ist sie konstitutiv für (das Erreichen von) Gerechtigkeit. Jede Bestimmung moralischer Ansprüche muss vergleichend vorgenommen werden, geht es bei (distributiver) Gerechtigkeit doch gerade darum, welche Ansprüche auf welche Güter gegenüber wem mit welchen Gründen zu rechtfertigen sind. Gebote der Gerechtigkeit haben es stets mit der Frage nach dem "fairen Anteil" zu tun, der nur im Rechtfertigungsverfahren ermittelt werden kann. Dieses Rechtfertigungsverfahren muss für jedes zu verteilende Gut separat angewandt werden, sodass bei manchen Gütern (zum Beispiel Nahrung) weniger komparative, bei anderen (zum Beispiel Ansehen oder Missachtung) stärker sozial-relative Gründe zum Tragen kommen. Von einem Bekannten beispielsweise nicht gegrüßt zu werden, ist in unserer Gesellschaft eine Missachtung, die aber nur vor dem Hintergrund, dass andere Personen zum Zeichen der Höflichkeit gegrüßt werden, verständlich und berechtigt ist. Ein Missachtungsgefühl ist immer relativ zu den Anerkennungen, die andere Personen genießen.

Gerechtigkeit ist also schon insofern vergleichend, als es keine "absoluten" Argumente gibt, sondern nur solche, denen Freie und Gleiche im Prinzip zustimmen könnten. Um zu wissen, was dem jeweils individuellen Anderen geschuldet wird, muss eine in dem Sinn komparative beziehungsweise vergleichende Gerechtigkeitsperspektive eingenommen werden, dass die Handlung oder der Anspruch aus der unparteiischen Perspektive aller beurteilt wird. Zudem muss sichergestellt werden, dass gleiche Fälle auch gleich behandelt werden. Moralische Ansprüche auf Hilfe in Notlagen müssen darüber hinaus vergleichend zu den sonstigen gesellschaftlichen Verpflichtungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen beurteilt werden können. Was wir einer einzelnen Person schulden, hängt wesentlich davon ab, was wir anderen Personen in vergleichbaren oder schlimmeren Lagen schulden und wie wir angesichts dieser Verpflichtungen unsere knappen Ressourcen – Geld, Güter, Zeit, Anstrengungen – moralisch einsetzen müssen. Menschen haben moralische Ansprüche auf Unterstützung nur in dem Maße, wie es nach allgemein gerechtfertigter Überzeugung den Umständen entsprechend angemessen und effizient ist, also relativ zur Menge der zur Verfügung stehenden Ressourcen und zu den möglichen Ansprüchen anderer darauf. Gleichheit ist als komparativer Maßstab für die Gerechtigkeit also unverzichtbar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z.B. Thilo N.H. Albers/Charlotte Bartels/Moritz Schularick, The Distribution of Wealth in Germany 1895–2018, ECONtribute Policy Brief 1/2020; Carsten Schröder et al., Millionaires Under the Microscope: Data Gap on Top Wealth Holders Closed, Wealth Concentration Higher than Presumed, DIW Weekly Report 30–31/2020, S. 313–332.

  2. Vgl. z.B. die Länderdaten für Deutschland der World Inequality Database unter Externer Link: https://wid.world/country/germany; Markus M. Grabka, Löhne, Renten und Haushaltseinkommen sind in den vergangenen 25 Jahren real gestiegen, DIW Wochenbericht 23/2022, S. 329–337; Hans Böckler Stiftung, Auf einen Blick: Soziale Ungleichheit in Deutschland, Externer Link: http://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-20845.htm.

  3. Die globale Ungleichheit hat neue Extreme angenommen. Die reichsten 1 Prozent haben mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Vgl. Oxfam International, Time to Care: Unpaid and Underpaid Care Work and the Global Inequality Crisis, Oxford 2020, S. 20–27; Word Inequality Report 2022, Externer Link: https://wid.world/document/world-inequality-report-2022; Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge, MA 2014; Florencia Torche, Analyses of Intergenerational Mobility: An Interdisciplinary Review, in: The ANNALS of the American Academy of Political and Social Science 1/2015, S. 37–62.

  4. Die soziale Mobilität, also die Aufstiegschancen, sind in Deutschland extrem an die Herkunft geknüpft, was die allseits geforderte Chancengleichheit verletzt. Vgl. OECD, A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility, Paris 2018, S. 27.

  5. Vgl. zur Definition von Gleichheit und zur Form von Gleichheitsurteilen Stefan Gosepath, Gleichheit/Ungleichheit, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie der Philosophie, Hamburg 2010, Band 1, S. 919–924.

  6. Vgl. Arthur M. Okun, Equality and Efficiency: The Big Tradeoff, Washington 1975.

  7. Vgl. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1992; Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990.

  8. Vgl. Walzer (Anm. 7).

  9. Das Folgende habe ich ausführlicher ausgeführt in Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M. 2004, Kap. II; ders., Equality, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Externer Link: https://plato.stanford.edu/entries/equality; ders. (Anm. 5).

  10. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Zürich–München 1967, V.3. 1131a10-b15; ders., Politik, Zürich–München 1971, III.9.1280 a8-15, III. 12. 182b18-23.

  11. Vgl. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), §8 Abs. 1.

  12. Vgl. Aristoteles, Politik (Anm. 10), 1282b 22.

  13. Vgl. Platon, Nomos, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, Hamburg 1958, 757b-c; Aristoteles, Nikomachische Ethik (Anm. 10), 1130b-1132b.

  14. Vgl. Ronald Dworkin, Was ist Gleichheit?, Berlin 2011.

  15. Vgl. ders., Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M. 1977, S. 370.

  16. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Berlin 1968 (1785), S. 439.

  17. Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S. 375–378.

  18. Vgl. Will Kymlicka, Politische Philosophie heute, Frankfurt/M. 1996.

  19. Dies betonen auch jene Kritikerinnen und Kritiker, die die weitreichenderen distributiven Prinzipien des modernen Egalitarismus ablehnen, weil dieser so seinem zentralen Anliegen nicht mehr entspreche. Vgl. z.B. Young (Anm. 7); Elizabeth S. Anderson, What Is the Point of Equality?, in: Ethics 2/1999, S. 287–337.

  20. Vgl. Stefan Gosepath, The Principles and the Presumption of Equality, in: Carina Fourie/Fabian Schuppert/Ivo Wallimann-Helmer (Hrsg.), Social Equality: On What It Means to Be Equals, Oxford 2015, S. 167–185.

  21. Vgl. Tugendhat (Anm. 17), S. 373f.

  22. Vgl. Ronald Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, Cambridge, MA 2000; Bruce Ackerman, Social Justice in the Liberal State, New Haven 1980.

  23. Vgl. Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2007.

  24. Vgl. Stefan Gosepath, "Gerechtigkeit", in: ders./Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch für Politische Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin–New York 2008, S. 394–401.

  25. Dazu ausführlich ders. (Anm. 9).

  26. Vgl. Anderson (Anm. 19); Fourie/Schuppert/Wallimann-Helmer (Anm. 20); Christian Schemmel, Justice and Egalitarian Relations, New York 2021.

  27. Vgl. Young (Anm. 7). Zur Nicht-Beherrschung vgl. Philip Pettit, Gerechte Freiheit, Berlin 2017.

  28. Vgl. Schemmel (Anm. 26).

  29. Vgl. die Aufsätze in Angelika Krebs (Hrsg.), Gerechtigkeit oder Gleichheit, Frankfurt/M. 2000; Thomas Scanlon, Why Does Inequality Matter?, New York 2018.

  30. Vgl. für das Erste Harry Frankfurt, Equality as a Moral Ideal, in: Ethics 1/1987, S. 21–42, für das Zweite Derek Parfit, Equality and Priority, in: Ratio 3/1997, S. 202–221.

  31. Vgl. Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit (Anm. 9), Kap. VI.

  32. Vgl. ders., Verteidigung egalitärer Gerechtigkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2/2003, S. 275–297.

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ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin.
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