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Illusion der Gleichheit | Ungleichheit | bpb.de

Ungleichheit Editorial Gleichheit als normatives Prinzip Gleichheit – ein Missverständnis Illusion der Gleichheit. Über die Perzeption sozialer Ungleichheit und ihre Folgen Ungleichheit, Demokratie und Autokratisierung Wie ungleich ist die Welt? Ergebnisse des World Inequality Report 2022 Ungleichheit in der Klassengesellschaft

Illusion der Gleichheit Über die Perzeption sozialer Ungleichheit und ihre Folgen

Simone M. Schneider

/ 14 Minuten zu lesen

Die empirische Analyse von Perzeptionen sozialer Ungleichheiten zeigt, wie schwer es uns fällt, Verteilungsergebnisse und -prozesse angemessen einzuschätzen oder uns selbst korrekt in Verteilungsmustern zu verorten. Das hat auch Folgen für die Demokratie.

Die zunehmende Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse gibt Anlass zur Sorge – auch und gerade dann, wenn die daraus resultierenden Folgen für die Gesellschaft in den Blick genommen werden. So stehen sozioökonomische Ungleichheiten beispielsweise im Verdacht, die Gesundheit und das subjektive Wohlbefinden zu beeinträchtigen und das soziale Miteinander zu schwächen. Und nicht nur sozial schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen scheinen hiervon betroffen zu sein, sondern auch jene, die tendenziell zu den Gewinnern ökonomischer Verteilungsprozesse zählen. Dieser Sachverhalt gibt Rätsel auf. Es stellt sich die Frage, wann Ungleichheiten krank, unzufrieden und unsolidarisch machen – und warum alle Bevölkerungsschichten davon betroffen zu sein scheinen, obwohl sich doch gerade die sozial Bessergestellten über ihre Vorteile besonders freuen könnten. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler unterschiedlicher Teildisziplinen haben in diesem Zusammenhang wiederholt auf die Bedeutung von Wahrnehmungsprozessen verwiesen – der viel zitierten Aussage der Soziologen William und Dorothy Thomas folgend: "If men define situations as real, they are real in their consequences." Demzufolge sollten sich soziale Ungleichheiten vornehmlich dann auf das Wohlbefinden und Verhalten der Bürgerinnen und Bürger auswirken – und damit auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt –, wenn Ungleichheiten als solche wahrgenommen und entsprechend bewertet werden. Es ist also nicht unbedingt das faktische Ausmaß an Ungleichheit, das zu emotionalen, einstellungs- und verhaltensbezogenen Reaktionen führt, sondern vor allem seine individuelle Wahrnehmung und Bewertung.

Vor diesem Hintergrund erscheint ein Perspektivenwechsel erforderlich: die Betrachtung von Ungleichheiten aus dem Blickwinkel der Bevölkerung. Aber wie nehmen wir Bürgerinnen und Bürger eigentlich soziale Ungleichheit wahr? Wie kommt es, dass wir nur über ein sehr ungenaues Bild von den Einkommensverhältnissen anderer verfügen und nicht besser über unsere eigenen Positionen in der sozialen Hierarchie Bescheid wissen? Gibt es systematische Perzeptionsunterschiede – beispielsweise zwischen armen und reichen Menschen oder zwischen jenen, die in gleicheren oder ungleicheren Gesellschaften leben? Und was folgt eigentlich aus der vielleicht fehlerhaften Perzeption für die Bewertung und Akzeptanz von Ungleichheiten und die Forderung nach staatlicher Umverteilung?

Konzepte und Messinstrumente

Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit beziehen sich auf subjektive Repräsentationen eines gesellschaftlichen Sachverhalts (den "Status quo") und zielen entweder auf das faktische Verteilungsergebnis oder den vorgeschalteten Verteilungsprozess ab. Sie geben Aufschluss darüber, wie – aus Sicht der Bevölkerung – knappe Güter in der Gesellschaft verteilt werden und warum (gesellschaftsbezogene Ungleichheitswahrnehmungen) und wie die Betrachterin oder der Betrachter ihre oder seine persönlichen Verhältnisse relativ zu den Verhältnissen anderer wahrnimmt (selbstbezogene Ungleichheitswahrnehmungen). Indem sie üblicherweise ein wertneutrales – wenn auch subjektives und dadurch verzerrtes – Abbild real existierender Verhältnisse wiedergeben, grenzen sich Perzeptionen klar von anderen Kognitionen wie beispielsweise Präferenzen und Einstellungen zu sozialen Verteilungsfragen ab. Im Gegensatz zu Perzeptionen geben Letztere darüber Aufschluss, wie knappe Güter in der Gesellschaft am besten verteilt werden sollten und warum. Werden normative Aussagen zum Soll-Zustand ins Verhältnis gesetzt zur Wahrnehmung der aktuellen Verteilungssituation (dem Ist-Zustand), können daraus Rückschlüsse gezogen werden, wie die sozialen Verhältnisse – wiederum aus Sicht der Bevölkerung – bewertet und inwieweit soziale Ungleichheiten gesellschaftlich als legitim erachtet werden.

In der länderübergreifenden Umfrageforschung haben sich vornehmlich zwei Messinstrumente zur empirischen Erfassung von gesellschaftsbezogenen Ungleichheitswahrnehmungen in Bezug auf das Verteilungsergebnis etabliert: Zum einen werden Personen Pyramidendiagramme vorgelegt, die verschiedene Gesellschaftsformen abbilden. Die Befragten werden aufgefordert, jene Abbildung zu bestimmen, die am besten ihrer Wahrnehmung von Ungleichheit in ihrem Land entspricht. Ein anderes verbreitetes Messinstrument befasst sich mit der Polarisierung von Einkommen. Befragte werden aufgefordert, die Höhe der durchschnittlichen Einkommen verschiedener Berufsgruppen zu schätzen. Die Höhe der wahrgenommenen Einkommensspreizung wird im Anschluss daran indirekt, meist über die Diskrepanz in den angegebenen Durchschnittsgehältern von Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen und ungelernten Fabrikarbeitern, ermittelt. Informationen zum Verteilungsprozess und damit zur wahrgenommenen sozialen Mobilität beziehungsweise der sozialen Durchlässigkeit des Gesellschaftssystems werden üblicherweise mittels Fragen zu den Hintergründen für das Vorankommen in der Gesellschaft erfasst. Dabei wird zwischen personenbezogenen Begründungen, wie harter Arbeit und Bildung, und strukturellen Begründungen, wie der Bevorteilung aufgrund der familiären Herkunft oder Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts oder der Religionszugehörigkeit, unterschieden. Die Wahrnehmung gesellschaftsbezogener Ungleichheiten (insbesondere zu Verteilungsergebnissen) ist auch für selbstbezogene Ungleichheitswahrnehmungen relevant, da sie einen Referenzrahmen zur Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Position bietet. Dazu werden Befragte üblicherweise gebeten, sich selbst auf einer 10-stufigen Skala zu verorten, die die hierarchische Gesellschaftsstruktur widerspiegelt.

Fehlwahrnehmungen sozialer Ungleichheit

Wahrnehmungen geben immer "nur" ein subjektives Abbild eines sozialen und hoch komplexen Sachverhaltes wieder. Daher stellt sich die Frage, wie sehr unsere Wahrnehmungen von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen und ob sich systematische Unterschiede zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen und Ländern feststellen lassen.

Es gibt Anzeichen dafür, dass wir Bürgerinnen und Bürger die Gesellschaft gleicher wahrnehmen als sie in Wirklichkeit ist. Gerade die Schätzung von Einkommen am oberen Ende des Einkommensspektrums fällt uns besonders schwer. Da obere Einkommen häufig als geringer wahrgenommen werden als sie sind, wird auch die Einkommensspreizung tendenziell unterschätzt, das heißt, sie wird als kleiner wahrgenommen als sie tatsächlich ist. Eine empirische Studie aus den USA bestätigt diese Vermutung auch für Ungleichheiten in der Vermögensverteilung und zeigt dazu mittels eigens erarbeiteter Erhebungsinstrumente, dass Personen – unabhängig von ihrem sozialen Status und ihrer politischen Einstellung – die realen Unterschiede im Vermögen tendenziell unterschätzen.

Aber auch wenn das eigentliche Ausmaß an Ungleichheit oftmals unterschätzt wird, so sind Perzeptionen meist nicht zufällig. Personen nehmen zum Beispiel im Durchschnitt größere Ungleichheiten wahr, wenn sie in Ländern mit höheren Ungleichheiten leben. Auch wenn der statistische Zusammenhang nicht besonders stark ist, so ist er doch positiv. Werden Veränderungen von Ungleichheiten über die Zeit in den Blick genommen, dann zeigt sich, dass Perzeptionen sich nicht immer synchron zu den realen Bedingungen verändern.

Markante Unterschiede in der Wahrnehmung von Einkommensungleichheiten sind auch zwischen sozialen Gruppen zu beobachten. Beispielsweise nehmen Personen aus einkommensstarken Haushalten größere Lohndivergenzen zwischen Vorstandsvorsitzenden und ungelernten Fabrikarbeitern wahr als Personen einkommensschwacher Haushalte. Stellt man dieser Betrachtung gegenüber, was Vorstandsvorsitzende und Fabrikarbeiter aus Sicht der Befragten gerechterweise verdienen sollten, so zeigt sich, dass Personen mit hohem Einkommen gleichzeitig auch dazu tendieren, größere Lohndivergenzen zu akzeptieren. Einkommensschwache Personengruppen hingegen nehmen zwar geringere Lohndiskrepanzen wahr, empfinden diese aber eher als ungerecht. Demnach bestimmen unsere sozialen Verhältnisse auch darüber, wie wir die sozialen Verhältnisse um uns herum wahrnehmen.

Auch mit der Wahrnehmung unserer eigenen Position in der sozialen Hierarchie haben wir Bürgerinnen und Bürger unsere Probleme. Hier zeigt sich eine klare "Tendenz zur Mitte" – eine systematische Wahrnehmungsverzerrung, die sich in allen bislang untersuchten Ländern beobachten lässt. Demzufolge tendieren Bürgerinnen und Bürger dazu, sich in der Mitte der Gesellschaft zu verorten: Menschen mit höherem Einkommen verorten sich selbst eher weiter unten in der Gesellschaft, Menschen mit geringerem Einkommen verorten sich dagegen eher weiter oben als es ihrer objektiven Lage entspricht. Trotz dieser Verzerrung finden sich deutliche Anzeichen dafür, dass sozialstrukturelle Merkmale – allen voran Bildung und Einkommen – für die eigene Positionierung in der Gesellschaft von Bedeutung sind, dem Motto folgend: Je mehr Einkommen und Bildung ich habe, desto höher ist meine Position in der Gesellschaft. Auch im Ländervergleich lassen sich interessante systematische Unterschiede identifizieren: Beispielsweise sortieren sich Menschen durchschnittlich eher weiter oben ein, wenn sie in gleicheren Gesellschaften Europas leben, wie zum Beispiel in Dänemark oder Schweden. Ist ein Land besonders ungleich, dann tendieren Menschen – unabhängig von ihrem eigenen Einkommen – eher dazu, sich weiter unten in der sozialen Hierarchie einzuordnen.

Diese Ergebnisse unterstreichen, dass Wahrnehmungen zum Ausmaß der Ungleichheit und die Selbstpositionierung in der sozialen Hierarchie nicht zufällig sind, sondern bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Ursachen für diese Fehlwahrnehmungen vielschichtig sind. Das direkte soziale Umfeld, Werte und Glaubenssätze, aber auch Heuristiken und soziale Vergleiche können unsere Wahrnehmung entscheidend beeinflussen.

Ursachenanalyse

Dass sich real existierende Ungleichheiten nicht eins zu eins in der Wahrnehmung der Bevölkerung widerspiegeln, ist angesichts der Komplexität des Sachverhalts nicht weiter verwunderlich. Auch wenn Informationen zu bestehenden Ungleichheiten öffentlich zur Verfügung stehen und in regelmäßigen Abständen über die Medien ins Blickfeld geraten, so sind diese oftmals für den Einzelnen zu abstrakt und fernab der individuellen Lebenswelt. Denn Menschen bewegen sich tendenziell in eher homogenen Umfeldern. Wir ziehen in Viertel, in denen andere ähnlich viel verdienen wie wir selbst. Wir umgeben uns mit Freunden und Bekannten, die ähnliche Berufe ausüben und ähnliche Bildungsbiografien haben. Gesellschaftliche Gruppen, die sehr viel reicher oder sehr viel ärmer sind, kommen in unserem Alltag in der Regel kaum vor. Diese persönlichen Erfahrungen – insbesondere die Häufigkeit und die Enge von Kontakten zu sozial Gleichgestellen – haben vermutlich einen besonders starken Einfluss auf unsere Wahrnehmung und dienen uns als wichtige Referenz. Dies dürfte zumindest teilweise erklären, warum wir uns tendenziell als gleicher wahrnehmen als wir es in Wirklichkeit sind und warum wir uns selbst tendenziell eher in der Mitte der Gesellschaft verorten – auch wenn wir gar nicht zur Mittelschicht gehören.

Diese Grundhypothese wird durch die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik unterstützt – eine einfache kognitive Faustregel, um Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten auch dann zu beurteilen, wenn die Zeit oder die Möglichkeit fehlt, dafür auf präzise Daten zurückzugreifen. Demnach werden Häufigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen überschätzt, wenn sie kognitiv schneller zugänglich sind und leichter abgerufen werden können. Für die Ungleichheitswahrnehmung heißt dies, dass unser Bild von sozialer Ungleichheit eine Verallgemeinerung dessen ist, was wir in unserem direkten Umfeld erfahren und was uns vertraut ist.

Dass gerade Personen unterer Einkommensgruppen ein geringeres Ausmaß an Ungleichheit wahrnehmen, kann auf die oben beschriebenen Mechanismen zurückgeführt werden. Zudem wird hier – neben dem fehlenden Wissen über die Einkommen von sozial Höhergestellten und einer mangelnden Vorstellungskraft – auch eine geringere Fähigkeit zur sozialen Differenzierung vermutet. Dies bedarf allerdings weiterer Forschung.

Für selbstbezogene Ungleichheitswahrnehmungen – wie beispielsweise die soziale Positionswahrnehmung – sei auf die Relevanz von sozialen Vergleichsprozessen hingewiesen. Es ist eine generelle Eigenschaft des Menschen, sich zu vergleichen. Allerdings unterscheiden wir uns nicht nur darin, dass wir uns unterschiedlich häufig vergleichen, sondern auch in der Wahl der Referenzgruppe. Vergleiche mit sozial Höhergestellten können leicht zu einem Gefühl der sozialen Deprivation führen und somit zu einer geringeren Selbstpositionierung im sozialen Gefüge und einer größeren Ungleichheitswahrnehmung. Dies würde erklären, warum gerade Personen in sozial ungleichen Gesellschaften sich selbst als niedriger positioniert wahrnehmen als Personen in sozial gleicheren Gesellschaften.

Auch Ideologien und allgemeine Glaubenssätze zu gesellschaftlichen Verteilungsfragen scheinen die Perzeption von Ungleichheiten in der Gesellschaft – vor allem aber deren Bewertung – zu beeinflussen. So scheint beispielsweise uneingeschränkte Einigkeit darüber zu herrschen, dass harte Arbeit und eine gute Ausbildung für das Vorankommen in der Gesellschaft wichtig sind. Diese individuellen Zuschreibungen erfahren gerade in westlichen Gesellschaften eine hohe Zustimmung und sind über alle Bevölkerungsgruppen hinweg zu beobachten. Dies lässt vermuten, dass es sich hierbei um einen kulturell verankerten Glaubenssatz handelt, der zur Legitimierung wahrgenommener Ungleichheiten in der Gesellschaft beiträgt.

Bewertung von Ungleichheit und die Forderung nach staatlicher Umverteilung

Es überrascht auf den ersten Blick nur wenig, dass die Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten in einem engen Zusammenhang mit der politischen Forderung nach staatlicher Umverteilung steht. Dies trifft auf die gesellschaftsbezogene Ungleichheitsperzeption ebenso zu wie auf die Wahrnehmung der eigenen Position in der sozialen Hierarchie: Je größer die sozialen Unterschiede und je geringer der eigene soziale Status wahrgenommen werden, desto höher ist die Zustimmung zu staatlichen Interventionen. Bei genauerem Hinsehen ist es allerdings nicht so sehr die wahrgenommene Ungleichheit, sondern vielmehr ihre normative Bewertung, die staatliche Umverteilungsprogramme in ein positives oder negatives Licht rücken. Denn das Ausmaß der wahrgenommenen Ungleichheit allein entscheidet noch nicht über ihre Legitimität. Erst wenn die wahrgenommene Ungleichheit als ungerecht hoch bewertet wird, liegt die Forderung nach mehr staatlicher Intervention nahe. Dies verdeutlicht einmal mehr die Relevanz des Zusammenspiels von Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen für die gesellschaftspolitische Debatte und die Umverteilung knapper Güter.

Aber wie genau hängen Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse zusammen? Die psychologische Forschung verweist darauf, dass Wahrnehmungen einen direkten Einfluss auf die Präferenzbildung haben und somit unsere Bewertung von sozialer Ungleichheit stark beeinflussen. Der Soziologe George Homans hat dies prägnant so zusammengefasst: "What is, is always becoming what ought to be." Das Ausmaß wahrgenommener Ungleichheit schafft demnach einen faktischen Referenzrahmen für den weiteren Bewertungsprozess. Denn auch wenn Ungleichheiten tendenziell als "ungerecht" oder "zu hoch" bewertet werden, so kommt doch eine vollständige Gleichverteilung nur für die wenigsten in Frage. Möglicherweise liegt eine zu große Abweichung vom Status quo außerhalb unserer Vorstellungskraft und gilt nur aufgrund fehlender Erfahrungswerte als unrealistisch. Für die Umfrageforschung bedeutet dies, dass das Ausmaß der Ungerechtigkeit nur mit Blick auf die ihr zugrunde liegende, wahrgenommene Ungleichheit interpretierbar ist. Oder in den Worten der Politikwissenschaftlerin Jennifer L. Hochschild: "Where you stand depends on what you see."

Des Weiteren zeigt sich, dass Wahrnehmungen von Verteilungsprozessen für die Akzeptanz von Ungleichheiten erheblich sind. Wird zum Beispiel individuelles Fehlverhalten als Ursache für Armut angesehen, tendieren Bürgerinnen und Bürger dazu, die von ihnen wahrgenommene Ungleichheit eher zu akzeptieren. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen Studien zur sozialen Mobilität, die eine größere gesellschaftliche Akzeptanz von Ungleichheiten beobachten, wenn Ungleichheiten individuellen Faktoren zugeschrieben werden.

Ausblick

Die Erforschung von Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit hat ihre ganz eigene Berechtigung. Als ein separater, interdisziplinär angelegter Forschungszweig innerhalb der Sozialwissenschaften leistet sie einen eigenständigen und vielversprechenden Beitrag zur gesellschaftspolitischen Debatte hinsichtlich der Legitimität, Stabilität und Kontinuität von sozialen Ungleichheiten in demokratisch verfassten Gesellschaften. Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse sind auch für die Erklärung von individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Einkommensungleichheiten von zentraler Bedeutung. Denn Einschränkungen in der Lebensqualität, in der Gesundheit und im Wohlbefinden von Individuen sind primär dann zu erwarten, wenn Ungleichheiten von diesen als zu hoch wahrgenommen werden und als ungerecht oder illegitim bewertet werden. Daher ist es wichtig, auch künftig der Analyse von Ungleichheitswahrnehmungen einen zentralen Platz in der sozialwissenschaftlichen Forschung einzuräumen.

Grundsätzlich ist die empirische Analyse von Perzeptionen sozialer Ungleichheiten ein komplexes Unterfangen. Es ist unstrittig, dass Perzeptionen mittels standardisierter Umfrageinstrumente nur ungenau erhoben und Kausalitäten zwischen einzelnen kognitiven Teilaspekten nur unzureichend bestimmt werden können. Eine theoriegeleitete Vorgehensweise ist daher umso wichtiger, genauso wie die Entwicklung und Implementierung neuer Erhebungsinstrumente, die es erlauben, verschiedene Ungleichheitsdimensionen zu erfassen und mit realen Verhältnissen zu vergleichen. Denn nicht nur Unterschiede im Einkommen und Vermögen, sondern beispielsweise auch im sozialen Status sind für die Ungleichheitsforschung relevant. Auch die Entwicklung von sensitiven Messinstrumenten zur vergleichenden Erfassung von subjektiven und objektiven Ungleichheiten – so komplex und abenteuerreich dieses Unterfangen auch sein mag – sollte ein weiterer Schwerpunkt künftiger Forschung sein.

Zudem ist bislang nur wenig über den Einfluss der Medien und des politischen Diskurses bekannt. So ist zum Beispiel weitgehend unklar, ob Ungleichheitswahrnehmungen politisch beeinflussbar sind und an welche ethisch-moralischen Grenzen eine gezielte Beeinflussung stößt. Pikant sind diese Fragen insbesondere vor dem Hintergrund, dass Wahrnehmungen eine besondere Rolle für die Legitimierung und Stabilität von Ungleichheiten spielen und damit auch politische Forderungen nach staatlicher Umverteilung beeinflussen.

Abschließend sei angemerkt, dass Ungleichheiten natürlich auch dann existieren können, wenn sie von der Bevölkerung nicht als solche wahrgenommen werden. Gerade dann ist politischer Wille gefragt und eine neutrale Sozialberichterstattung, die über die bestehenden Verhältnisse aufklärt und eine gesellschaftliche Debatte darüber anregt, welches Ausmaß an Ungleichheit für jeden einzelnen und für die Gesellschaft als solche vertretbar ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2009.

  2. William I. Thomas/Dorothy S. Thomas, The Child in America: Behavior Problems and Programs, New York 1928, S. 572.

  3. Vgl. Simone M. Schneider, Income Inequality and Subjective Wellbeing: Trends, Challenges, and Research Directions, in: Journal of Happiness Studies 4/2016, S. 1719–1739.

  4. Vgl. Galen van Bodenhausen/Kurt Hugenbert, Social Cognition. The Basis of Human Interaction, New York 2009.

  5. Vgl. Jan Germen Janmaat, Subjective Inequality: A Review of International Comparative Studies on People’s Views About Inequality, in: European Journal of Sociology 3/2013, S. 357–389.

  6. Vgl. Bernd Wegener, Belohnungs- und Prinzipiengerechtigkeit: Die zwei Welten der empirischen Gerechtigkeitsforschung, in: Ulrich Druwe/Volker Kunz (Hrsg.), Politische Gerechtigkeit, Opladen 1999, S. 167–214.

  7. Vgl. GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Internationale Sozialwissenschaftliche Umfrage (ISSP), Soziale Gerechtigkeit in Deutschland, Mannheim 2019.

  8. Vgl. Lars Osberg/Timothy Smeeding, "Fair" Inequality? Attitudes toward Pay Differentials: The United States in Comparative Perspective, in: American Sociological Review 3/2006, S. 450–473.

  9. Vgl. Michael I. Norton/Dan Ariely, Building a Better America – One Wealth Quintile at a Time, in: Perspectives on Psychological Science 1/2011, S. 9–12. Siehe auch Oliver P. Hauser/Michael I. Norton, (Mis)perceptions of Inequality, in: Current Opinion in Psychology 18/2017, S. 21–25.

  10. Vgl. Andreas Kuhn, The Individual (Mis-)Perception of Wage Inequality: Measurement, Correlates and Implications, in: Empirical Economics 59/2020, S. 2039–2069.

  11. Vgl. Lane Kenworthy/Leslie McCall, Inequality, Public Opinion, and Redistribution, in: Socio-Economic Review 6/2018, S. 35–68.

  12. Vgl. Simone M. Schneider, Income Inequality and Its Consequences for Life Satisfaction: What Role Do Social Cognitions Play?, in: Social Indicators Research 3/2012, S. 419–438.

  13. Vgl. M.D.R. Evans/Jonathan Kelley, Subjective Social Location: Data From 21 Nations, in: International Journal of Public Opinion Research 1/2004, S. 3–38.

  14. Vgl. Carina Engelhardt/Andreas Wagener, What Do Germans Think and Know about Income Inequality? A Survey Experiment, in: Socio-Economic Review 4/2018, S. 743–767.

  15. Vgl. Simone M. Schneider, Why Income Inequality Is Dissatisfying – Perceptions of Social Status and the Inequality-Satisfaction Link in Europe, in: European Sociological Review 3/2019, S. 409–430.

  16. Siehe hierzu auch "Wir ahnen oft gar nicht, wie reich manche sind", 25.2.2022, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/1.5535257.

  17. Vgl. M.D.R. Evans/Jonathan Kelley, Communism, Capitalism, and Images of Class: Effects of Reference Groups, Reality, and Regime in 43 Nations and 110000 Individuals, 1987–2009, in: Cross-Cultural Research 4/2017, S. 315–359.

  18. Vgl. Amos Tversky/Daniel Kahneman, Judgment Under Uncertainty: Heuristics and Biases, in: Science 185/1974, S. 1124–1131.

  19. Vgl. Bernd Wegener, Equity, Relative Deprivation, and the Value Consensus Paradox, in: Social Justice Research 1/1990, S. 65–86.

  20. Vgl. Meghan Condon/Amber Wichowsky, Inequality in the Social Mind: Social Comparison and Support for Redistribution, in: The Journal of Politics 1/2020, S. 149–161.

  21. Vgl. Juan Carlos Castillo/Juan-Diego García-Castro/Martín Venegas, Perception of Economic Inequality: Concepts, Associated Factors and Prospects of a Burgeoning Research Agenda, in: International Journal of Social Psychology 1/2022, S. 180–207.

  22. Vgl. Simone M. Schneider/Juan Carlos Castillo, Poverty Attributions and the Perceived Justice of Income Inequality: A Comparison of East and West Germany, in: Social Psychology Quarterly 3/2015, S. 263–282.

  23. Vgl. Licia Bobzien, Polarized Perceptions, Polarized Preferences? Understanding the Relationship Between Inequality and Preferences for Redistribution, in: Journal of European Social Policy 2/2020, S. 206–224. Siehe auch Andreas Kuhn, The Subversive Nature of Inequality: Subjective Inequality Perceptions and Attitudes to Social Inequality, in: European Journal of Political Economy 59/2019, S. 331–344; Matthias Fatke, Inequality Perceptions, Preferences Conducive to Redistribution, and the Conditioning Role of Social Position, in: Societies 4/2018, Externer Link: https://doi.org/10.3390/soc8040099.

  24. Vgl. Andreas Kuhn, International Evidence on the Perception and Normative Valuation of Executive Compensation, in: British Journal of Industrial Relations 1/2017, S. 112–136.

  25. Die sozialpsychologische Forschung geht davon aus, dass die Bewertung eines Sachverhalts auf dessen Wahrnehmung folgt. Erst die Bewertung löst emotionale und Verhaltensreaktionen aus; vgl. dazu Angus Campbell/Philip E. Converse/Willard L. Rodgers, The Quality of American Life. Perceptions, Evaluations, and Satisfactions, New York 1976.

  26. Vgl. George C. Homans, Commentary, in: Leonard Berkowitz/Elaine Walster (Hrsg.), Equity Theory: Toward a General Theory of Social Interaction, New York 1976, S. 231–244, hier S. 244.

  27. Jennifer L. Hochschild, Where You Stand Depends on What You See: Connections Among Values, Perceptions of Fact, and Political Prescriptions, in: James H. Kuklinski (Hrsg.), Citizens and Politics. Perspectives from Political Psychology, Cambridge 2001, S. 313–340.

  28. Vgl. Schneider/Castillo (Anm. 22).

  29. Vgl. Jonathan J.B. Mijs, The Paradox of Inequality: Income Inequality and Belief in Meritocracy Go Hand in Hand, in: Socio-Economic Review 1/2021, S. 7–35.

  30. Vgl. Simone M. Schneider, Wie Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse unsere materielle Zufriedenheit beeinflussen. Ein Erklärungsversuch der materiellen Wohlfahrtsdivergenz zwischen Ost- und Westdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2/2016, S. 341–367.

  31. Vgl. Kimmo Eriksson/Bent Simpson, What Do Americans Know About Inequality? It Depends on How You Ask Them, in: Judgment and Decision Making 6/2012, S. 741–745. Siehe auch dies., The Available Evidence Suggests the Percent Measure Should Not Be Used to Study Inequality: Reply to Norton and Ariely, in: Judgment and Decision Making 3/2013, S. 395–396.

  32. Vgl. Ellen M. Immergut/Simone M. Schneider, Is It Unfair for the Affluent to Be Able to Purchase "Better" Healthcare? Existential Standards and Institutional Norms in Healthcare Attitudes across 28 Countries, in: Social Science and Medicine 267/2020, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2020.113146.

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ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und forscht am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München zu Themen der sozialen Ungleichheit. Ihre Forschung zu Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit wird künftig durch den Europäischen Forschungsrat gefördert.
E-Mail Link: s.schneider@mpisoc.mpg.de