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Glaube und Legitimität in liberalen Demokratien | Religion und Moderne | bpb.de

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Glaube und Legitimität in liberalen Demokratien

Wilfried Hinsch

/ 17 Minuten zu lesen

Einem üblichen Verständnis zufolge sind liberale Demokratien säkulare Staaten, in denen die Bereiche des Religiösen und des Politischen voneinander getrennt sind. Häufig wird der Bereich des Politischen mit dem des Öffentlichen gleichgesetzt und das Religiöse der Privatsphäre zugerechnet. Unter dem Eindruck sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien wurde lange Zeit unter Säkularisierung ein historischer Prozess verstanden, in dessen Verlauf religiöse Glaubensüberzeugungen zusammen mit ihren symbolischen Repräsentationen und sozialen Praktiken zunehmend aus dem öffentlich wahrnehmbaren Leben verschwinden. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Das weltweite Erstarken des Islams, die zunehmende öffentliche Präsenz christlicher Bewegungen in den USA, aber auch in Europa und Deutschland, um nur zwei Tendenzen zu nennen, haben Religion und Religiosität unübersehbar wieder zu einer öffentlichen Angelegenheit und zu einem Politikum werden lassen. Die Debatten über Abtreibung und pränatale Diagnostik oder die wissenschaftliche Nutzung befruchteter Eizellen etwa haben religiösen Wertvorstellungen und theologischen Argumentationsfiguren ebenso eine neue öffentliche Bedeutung verliehen wie die Forderung evangelikaler Christen, die Schöpfungsgeschichte der Bibel gleichberechtigt neben der Evolutionslehre in die Lehrpläne staatlicher Schulen aufzunehmen.

Das Öffentliche, so denken wir, ist das, was alle angeht und über das deshalb auch alle gemeinsam beraten und entscheiden sollten; das Private ist demgegenüber das, was nur den Einzelnen und die ihm freiwillig oder familiär Verbundenen betrifft und deshalb auch von diesen nach eigenem Ermessen entschieden werden sollte. Die räumliche Metaphorik von "Sphären" des Öffentlichen und Privaten ist allerdings durchaus irreführend: Natürlich geht es alle an, ob jemand in seiner Privatwohnung Drogengeschäften nachgeht oder nicht. Dagegen geht es normalerweise niemanden etwas an, ob jemand nachmittags in öffentlichen Parks mit oder ohne Hut spazieren geht.

Ein präziseres Verständnis dessen, was Säkularisierung, säkulare Gesellschaft und säkularer Staat bedeuten, bezieht sich auf für liberale Demokratien charakteristische verfassungsrechtliche Bestimmungen. Ein säkularer Staat ist demnach ein Staat, dessen normative Grundordnung erstens allen Mitgliedern eine weitgehende individuelle Religionsfreiheit als subjektives Recht garantiert. Kein Bürger darf vom Staat gezwungen werden, eine bestimmte Glaubensüberzeugung anzunehmen respektive eine andere aufzugeben, dies ist die negative Religionsfreiheit; und jeder Bürger hat das Recht, seine eigene Religion (respektive Weltanschauung) im Rahmen der staatlichen Ordnung in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu praktizieren, dies ist die positive Religionsfreiheit.

Zweitens strebt ein säkularer Staat eine möglichst vollständige Neutralität gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen an und versucht, diese durch geeignete Vorkehrungen institutionell abzusichern. Soweit dies praktisch erreichbar ist, soll möglichst keine Religion oder Weltanschauung durch staatliches Handeln, das heißt durch die Ausübung staatlicher Zwangsgewalt – sei es in Form gesetzgeberischer Akte, sei es bei der Umsetzung politischer Programme –, bevorzugt oder benachteiligt werden.

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Religion nur partiell mit der Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zusammenfällt. Religionsfreiheit bedeutet die Freiheit des öffentlichen Bekenntnisses der eigenen Glaubensüberzeugungen, der öffentlichen Versammlung mit Gleichgesinnten und der öffentlichen Ausübung der zum eigenen Glauben gehörigen Rituale und Praktiken. Und sie schließt, mit gewissen Einschränkungen, auch die öffentliche politische Parteinahme im Namen und zugunsten der eigenen Glaubensvorstellungen ein. Der letzte Punkt bringt in liberalen Demokratien eine Reihe von Problemen mit sich. Es bedarf der Klärung, inwieweit kontroverse religiöse Glaubensinhalte und Wertvorstellungen grundrechtlich relevante staatliche Entscheidungen beeinflussen dürfen, die für alle Bürger bindend sind und die nötigenfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, welche Rolle kontroverse Glaubensinhalte spielen können, die zwar in keinem unmittelbaren Widerspruch zu den normativen Grundlagen liberaler Demokratien stehen, die aber mit dem für moderne Gesellschaften charakteristischen naturwissenschaftlichen Weltverständnis unvereinbar sind, wie etwa der Glaube an die wörtliche Wahrheit der Bibel und die Annahme, Gott habe – anders als die Evolutionstheorie lehrt – die Welt mit allen Geschöpfen in ihr erschaffen, wie es im ersten Buch Mose beschrieben wird.

Staatliche Neutralität in liberalen Demokratien

Mein Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass alle Bürger einer liberalen Demokratie freie und gleiche Personen sind mit gleichen Ansprüchen darauf, keinem Regime unterworfen zu werden, dem sie im Lichte vernünftiger Überzeugungen und Interessen nicht zustimmen könnten. Die für die politische Ordnung einer liberalen Gesellschaft konstitutiven Normen sollen keine bloßen "Zwangsgesetze" sein, denen die Beteiligten nur deshalb folgen, weil sie andernfalls Strafen und Zwangsmaßnahmen zu befürchten haben. In Deutschland, wo inzwischen etwa vier Millionen Muslime leben – also ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung – bedeutet dies: Die öffentliche politische und intellektuelle Auseinandersetzung über die normativen Grundlagen des Gemeinwesens muss so geführt werden, dass die Rechtfertigung dieser Grundlagen auch von einem islamisch geprägten Ausgangspunkt aus nachvollzogen werden kann. Und dazu müssen die Interpretation und Weiterentwicklung dieser Grundlagen systematisch die Lebensauffassungen und Wertvorstellungen muslimischer Mitbürger berücksichtigen. Dasselbe gilt selbstredend ebenso für alle anderen Religionsgemeinschaften und Konfessionen.

Die liberale Demokratie mit dem für sie charakteristischen religiösen und nicht-religiösen Pluralismus von Lebensformen bezieht ihre Stabilität, anders als es der Laizismus behauptet, nicht daraus, religiöse Überzeugungen und Praktiken aus dem öffentlichen Leben zurückzudrängen. (Dies zu tun, liefe im Übrigen auch dem staatlichen Neutralitätsgebot entgegen, denn es würde nicht-religiösen Weltanschauungen einen größeren Einfluss auf das öffentliche Leben einer Gesellschaft ermöglichen als religiösen Weltanschauungen.) Sie bezieht ihre Stabilität vielmehr aus der Zustimmung von Bürgerinnen und Bürgern, deren Wert- und Lebensvorstellungen sich nicht nur individuell häufig stark unterscheiden, sondern die darüber hinaus durch untereinander weitgehend inkompatible religiöse oder weltanschauliche Lehren bestimmt sind.

Gleichwohl stellt sich die Frage, wie viel staatliche Neutralität gegenüber divergierenden religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Bindungen möglich ist, ohne die egalitären freiheitsrechtlichen Garantien liberaler Demokratien aufzugeben und ebenso wenig die methodischen Errungenschaften und Erkenntnisse der modernen Wissenschaften. John Rawls und Jürgen Habermas haben auf diese Frage ähnliche Antworten gegeben.

Nach

Rawls

führt die auf der Möglichkeit eines "übergreifenden Konsenses" beruhende Vorstellung liberaler Legitimität zur Idee eines "öffentlichen Vernunftgebrauchs" (public reason). Politische Entscheidungen, die wesentliche Verfassungsinhalte (und vor allem die liberalen und politischen Grundrechte von Bürgern) berühren, dürfen demnach nur auf der Basis von Gründen getroffen werden, von denen vernünftigerweise angenommen werden kann, dass alle Bürger sie als gute Gründe anerkennen können. Da in pluralistischen Gesellschaften religiöse Argumente diese Bedingung nicht erfüllen, kommen sie als Rechtfertigungsgründe für legitime politische Entscheidungen nicht in Betracht. Das Problem ist, dass Bürger es sehr wohl ablehnen können, bestimmte Normen anzuerkennen, wenn diese mit ihren intern nicht unvernünftigen religiösen Überzeugungen im Widerspruch stehen. Dies gilt jedenfalls, solange wir daran festhalten, dass Bürger keinen Normen unterworfen werden sollten, von denen klar ist, dass sie ihnen vernünftigerweise nicht zustimmen können. Es erscheint dann unzulässig, religiöse Argumente aus der öffentlichen politischen Diskussion auszuschließen.

Mit Rücksicht auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, in der die grundrechtliche politische Gleichstellung von Schwarzen in den Vereinigten Staaten gerade auch mit religiösen Argumenten erstritten worden ist, gelangt Rawls in einer Überarbeitung zu einem weniger restriktiven Verständnis des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Die Berufung auf nicht allgemein geteilte religiöse Argumente ist dieser zufolge dann zulässig, wenn er der Rechtfertigung von politischen Entscheidungen dient, die zu einem späteren Zeitpunkt auch durch nicht-religiöse und allgemein zustimmungsfähige Gründe (public reasons) gerechtfertigt werden können. Auch diese offenere Konzeption vermag das eigentliche Problem jedoch nicht zu lösen. Es ist in der Regel nicht klar zu erkennen, welche politischen Entscheidungen zu einem späteren Zeitpunkt auch durch "öffentliche Gründe" gerechtfertigt werden können, wenn diese Gründe selbst noch nicht bekannt sind; und sobald sie bekannt sind, erscheinen religiöse Rechtfertigungsfiguren ohnehin weitgehend überflüssig. Darüber hinaus gilt nach wie vor, dass, gerade wenn man von einem liberalen Verständnis politischer Legitimität ausgeht, nicht unvernünftige religiöse Argumente eine Grundlage für berechtigte Einwände gegen bestimmte politische Entscheidungen bieten können und schon aus diesem Grund nicht aus der öffentlichen politischen Diskussion ausgeschlossen werden dürfen.

Habermas

hat in Auseinandersetzung mit Rawls eine verwandte Konzeption vorgestellt, die ebenfalls religiöse Argumente im Kontext politischer Entscheidungsprozesse zulässt, jedoch fordert, dass der Gehalt dieser Argumente "in eine allgemein zugängliche Sprache übersetzt wird". Durch eine solche Übersetzung werde das Ziel erreicht, dass alle staatlich sanktionierten Entscheidungen in einer allgemein nachvollziehbaren Sprache formuliert und gerechtfertigt werden können. Auch diese Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik respektive politischer Legitimität vermag nicht zu überzeugen. Die Qualität einer Übersetzung bemisst sich ja daran, dass das, was in einer Sprache mitgeteilt wird, zumindest im Wesentlichen auch in der anderen Sprache wiedergegeben wird. Wenn nun das Wesentliche an einem religiösen Argument – sowohl für sich genommen als auch in Bezug darauf, wofür es ein Argument ist – sein religiöser Inhalt ist, ergeben sich folgende Möglichkeiten: Entweder dieser Inhalt verliert im Prozess der "Übersetzung" in die Sprache einer säkularen Bürgergesellschaft seinen religiösen Charakter, dann liegt aber gar keine Übersetzung vor oder allenfalls eine sehr schlechte, denn das Wesentliche der ursprünglichen Mitteilung ist verloren gegangen. (Falls das Ergebnis der Übersetzung ein allgemein zustimmungsfähiges Argument für eine bestimmte politische Entscheidung sein sollte, wäre das zugrunde liegende religiöse Argument wiederum ohnehin überflüssig.) Oder aber der religiöse Gehalt bleibt bei der Übersetzung erhalten, dann liegt zwar eine Übersetzung vor, aber kein allgemein zustimmungsfähiges Argument, das seinen kontroversen religiösen Charakter abgestreift hätte. Es bleibt also – nicht anders als bei Rawls – allenfalls die vage Hoffnung, dass das, was sich zum gegebenen Zeitpunkt nur religiös begründen lässt, zu einem späteren Zeitpunkt auch ohne religiöse Argumente gerechtfertigt werden kann.

Im Ergebnis, so scheint es mir, müssen wir anerkennen, dass religiöse Argumente nicht im Namen liberaler Legitimität aus dem Bereich des Politischen auszuschließen sind, und am Ende bei mangelndem Konsens nur demokratische Abstimmungen oder andere nicht-argumentative Formen der Dissensbewältigung weiterhelfen.

Problem bekenntnisgebundener Wissenschaften

Ein für die Politische Philosophie und die Wissenschaftstheorie interessanter Sonderfall religiös begründeter Argumente liegt vor, wenn es sich um Argumente handelt, die sich nicht mit unserem Wissenschaftsverständnis respektive den konkreten Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften vereinbaren lassen. Der Katholizismus und die großen Kirchen des Protestantismus haben den Kampf gegen die Windmühlen der neuzeitlichen Naturwissenschaften seit Längerem aufgegeben. Die wichtigsten Vertreter der beiden christlichen Konfessionen bemühen sich um eine wissenschaftskompatible Auslegung schwieriger Bibelstellen, man denke etwa an die Frage der Jungfrauengeburt oder die für das Christentum grundlegende Vorstellung einer Wiederauferstehung im Fleische.

Evangelikale Vertreter des Protestantismus zeigen sich dagegen bereit, den Kampf gegen die Windmühlen wieder aufzunehmen. Nicht wenige unter ihnen vertreten die Auffassung, dass die irdische Tier- und Pflanzenwelt einschließlich des Menschen, wie es in der Bibel im ersten Buch Mose nachzulesen ist, in kurzer Zeit entstanden ist und nicht in Jahrmillionen, wie es die Paläontologie und Evolutionstheorie lehren. Unter dem Titel "Kreationismus" hat diese Glaubensüberzeugung öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, als ihre Vertreter in den Vereinigten Staaten forderten, im Biologieunterricht die Evolutionstheorie gegen die biblische Schöpfungsgeschichte auszutauschen oder jener zumindest gleichberechtigt an die Seite zu stellen.

In Deutschland wurde der "Kreationismus" zu einem wissenschaftspolitischen Thema, als sich vor einigen Jahren eine evangelikale theologische Ausbildungsstätte für Gemeindedienste als Prediger oder Diakone um die staatliche Anerkennung als wissenschaftliche Hochschule bemühte und der Wissenschaftsrat beauftragt wurde, zu überprüfen, ob die betreffenden Einrichtungen allgemeingültigen Standards der Wissenschaftlichkeit genügen. Die in Artikel 4 des Grundgesetzes als "unverletzlich" gewährleistete Freiheit des Glaubens (und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses) in Verbindung mit dem daraus abgeleiteten staatlichen Neutralitätsgebot verbietet es von vornherein, religiöse oder theologische Aussagen als "Glaubenswahrheiten" selbst zum Gegenstand einer staatlichen Prüfung und Anerkennung (in diesem Fall durch den Wissenschaftsrat und die zuständigen Landesregierungen) zu machen. Überprüft werden kann lediglich die Vereinbarkeit eines religiösen Bekenntnisses mit den allgemeinen Anforderungen der Wissenschaftlichkeit und der Freiheit von Forschung und Lehre.

Nun müssen alle Versuche, mit Bezug auf konkrete Methoden und Erkenntnisse eindeutige Abgrenzungen zwischen "vernünftiger Erkenntnis" und "bloßem Glauben", empirischen und nicht-empirischen Aussagen oder "Wissenschaft" und "Scheinwissenschaft" vorzunehmen, als gescheitert betrachtet werden. Die üblichen Wendungen zur Beschreibung wissenschaftlicher Einstellungen und Arbeitsweisen bieten keine brauchbaren Kriterien. Formeln wie "Bereitschaft zum Dialog", "Offenheit für Kritik" und "Rationalität der Methoden" sind als Abgrenzungskriterien zu unbestimmt. Entweder werden sie mit Blick auf die Notwendigkeit eines Konsenses so weit ausgelegt, dass im Ergebnis fast jede Form halbwegs geordneten menschlichen Nachdenkens und Argumentierens als Wissenschaft durchgeht, oder sie werden mit Blick auf die von ihnen erwartete Selektionsleistung so eng ausgelegt, dass die jeweiligen Anforderungen auch im Bereich der etablierten Wissenschaften nicht immer erfüllt werden. Auch die Charakterisierung wissenschaftlicher Tätigkeit als ein "nach Inhalt und Form (…) ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit" des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1979 bietet für sich genommen keine tragfähige Basis für Akkreditierungsentscheidungen.

Allgemeine Kriterien der Wissenschaftlichkeit können sich jedoch nicht nur auf "wissenschaftliche" Methoden und Inhalte beziehen, sondern auch auf den gesellschaftlich-institutionellen Charakter von Forschung und Lehre. Wissenschaft ist keine Angelegenheit isolierter, nach Erkenntnis strebender Individuen, sondern eine auf komplexen Regeln beruhende Form sozialer Kooperation. Als soziale Praxis setzt Wissenschaft die intersubjektive Verständlichkeit, Mitteilbarkeit und Nachprüfbarkeit ihrer Inhalte ebenso voraus wie die Auseinandersetzung mit tradierten oder vorherrschenden Lehrmeinungen und alternativen Auffassungen.

Dazu gehören auch institutionalisierte Formen der öffentlichen Rechtfertigung und Kritik von Erkenntnisansprüchen. Im Sinne eines ernsthaften und planmäßigen Erkenntnisstrebens müssen Wissenschaftler angeben können, welche Erkenntnisziele sie verfolgen, auf welche Erkenntnisquellen sie sich stützen und durch welche Methoden sie sich der Wahrheit ihrer (vermeintlichen oder tatsächlichen) Erkenntnisse vergewissern. Darüber hinaus setzt Wissenschaftlichkeit zweifellos ein Mindestmaß an methodischer Rationalität und Kohärenz der Ergebnisse voraus.

Die Anforderung einer institutionalisierten Auseinandersetzung mit alternativen Lehrmeinungen gewinnt für die Akkreditierung theologischer Einrichtungen als "Hochschulen" zusätzliches Gewicht, weil zu den Grundlagen einer liberalen Demokratie die Anerkennung der Möglichkeit eines "vernünftigen Pluralismus" in normativen Grundfragen gehört. Fundamentalistische religiöse Lehren, welche die Möglichkeit begründeter Meinungsverschiedenheiten über die für sie grundlegenden Wertvorstellungen und Normen (oder deren metaphysische Voraussetzungen) bestreiten und etwa der Devise "extra ecclesiam nulla salus" (in etwa: "Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil") folgen, geraten damit in Widerspruch zu den normativen Voraussetzungen einer liberalen Gesellschaft. Eine liberale Demokratie könnte keinen Bestand haben, wenn nicht die Mehrzahl ihrer Bürger die Möglichkeit begründeter Meinungsverschiedenheiten in religiösen und weltanschaulichen Fragen des letztlich Guten und Richtigen anerkennen würde. Die staatliche Anerkennung als "wissenschaftliche Hochschule" kann deshalb mit Recht davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Einrichtung die Möglichkeit eines vernünftigen Pluralismus von Lehrmeinungen ausdrücklich bejaht, und dass diese Bejahung in ihrer institutionellen Ausgestaltung (etwa in ihrem Leitbild im Curriculum und im Lehrangebot) klar zur Geltung gebracht wird.

Nun sind Judentum, Christentum und Islam zum einen mit Dingen befasst, die den Bereich des Erfahrbaren transzendieren, und zum anderen mit Regeln und Geboten für das menschliche Leben und Zusammenleben, die sich ebenfalls einer schlichten Widerlegung durch die Erfahrungswissenschaften entziehen (und natürlich auch einer Bestätigung durch diese). Dies ist die religionsphilosophische Botschaft von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft: "Ich musste dem Wissen Grenzen setzen, um dem Glauben Platz zu machen."

Wir müssen an diesem Punkt jedoch einen Schritt weitergehen. Zu den Ergebnissen der Wissenschaftstheorie des vergangenen Jahrhunderts gehört die Einsicht, dass alle wissenschaftlichen Theorien von theoretischen Annahmen ausgehen (wie etwa der Existenz von Elektronen), die durch Beobachtung weder verifiziert noch falsifiziert werden können. Die wissenschaftliche Berechtigung dieser Annahmen ergibt sich vielmehr daraus, dass die auf ihnen beruhenden Theorien Beobachtungen (wie von Spuren in Nebelkammern) in einen kohärenten Zusammenhang mit anderen Beobachtungen und Einsichten zu bringen vermögen. Dies lässt sich auch auf den Bereich normativer Theorien übertragen, bei denen es letztlich nicht darum geht, Beobachtungen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen – obwohl auch dies nötig ist –, sondern um Wert- und Normvorstellungen darüber, was gut und richtig ist. Wenn wir annehmen, dass der Streit über die Religion und zwischen den Religionen praktisch gesprochen im Wesentlichen ein Streit um die richtige Lebensführung ist, das heißt ein Streit über Werte und Normen, dann ist es in der Tat denkbar, dass die beste und kohärenteste Theorie über das richtige Leben eine Theorie ist, die von der Annahme der Existenz Gottes ausgeht, Gott bestimmte Eigenschaften zuschreibt und ähnliches mehr. Der Glaube an absolute Verbote – etwa des Folterverbots oder des Verbots der gezielten Tötung Unschuldiger zum Schutze Dritter – lässt sich nicht gut begründen, ohne auf religiöse Argumentationsfiguren zurückzugreifen.

Eine hinreichend konsistente Theologie unterschiede sich dann nicht auf einer grundsätzlichen methodischen Ebene von der Physik, welche die Existenz von nicht direkt beobachtbaren Elektronen annimmt, um Beobachtungen zu erklären. Und sie unterschiede sich auch nicht von anderen normativen Theorien mit umfassenden Ansprüchen der Lebensorientierung (der Aristotelischen Tugendlehre, der Kantischen Lehre vom Kategorischen Imperativ, dem Utilitarismus Benthams oder Sidgwicks), die ebenfalls durch Erfahrung und Logik allein weder begründet noch widerlegt werden können.

Im Lichte eines nach-positivistischen Wissenschaftsverständnisses stehen alle diese Theorien prima vista gleichberechtigt nebeneinander, und alles Weitere ist eine Frage der konkreten Argumentation und nicht eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Rationalität und Irrationalität respektive Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit.

Beispiel Kreationismus

Vertreter einer evangelikalen Theologie betrachten die Bibel nicht lediglich als ein Zeugnis der Offenbarung Gottes, sondern als diese Offenbarung selbst. Sie sind deshalb von der wörtlichen Wahrheit der Bibel überzeugt. Zeugnisse können bekanntlich das, was sie bezeugen, unvollständig und fehlerhaft darstellen und sich deshalb als korrekturbedürftig erweisen. Wenn der biblische Textbestand dagegen selbst der Offenbarungsgehalt ist – vermittelt über die unmittelbare göttliche Inspiration der Autoren –, dann sind solche Korrekturen nicht nötig und auch nicht möglich, ohne zugleich die religiöse Autorität des Textes zu zerstören. Wenn die Bibel selbst Offenbarung und nicht lediglich deren Zeugnis ist, bedeutet, sich im Widerspruch mit der Bibel zu befinden, sich in einem direkten Widerspruch mit Gott zu befinden. (So erklärt sich die systematische Bedeutung des "Kreationismus" für eine evangelikale Theologie.) Während der Beratungen des Wissenschaftsrates wurde deutlich, wie schwer sich katholische und evangelische Theologen an staatlichen Fakultäten damit tun, ein Bibelverständnis zu akzeptieren, dass den Bibeltext nicht primär als einen Gegenstand für entwicklungsgeschichtliche und quellenkritische Forschungen betrachtet, sondern als eine von Gott inspirierte Quelle wahrer Erkenntnisse und gültiger Handlungsanweisungen. Bemerkenswert war auch die unter ihnen bestehende Tendenz, die Wissenschaftlichkeit ihrer Disziplin im Wesentlichen auf die historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Bibeltext zu gründen.

Nun ist unbestritten, dass die historisch-kritische Bibelforschung strengen Anforderungen an eine historische Wissenschaft genügt und keinen Vergleich mit anderen historischen Disziplinen scheuen muss. Es ist ebenfalls gut nachzuvollziehen, dass theologische Reflexion nicht ohne empirische und historische religionswissenschaftliche Forschung auskommt. Wie könnte man den theologischen Gehalt eines Offenbarungstextes verstehen, ohne den historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu kennen, in denen die Wörter, Sätze und Satzfolgen des Textes zuerst ihre Bedeutung erlangt haben? Es sollte freilich ebenso unbestritten sein, das die historisch-kritische Methode für eine am Bibeltext ansetzende Theologie nicht die wesentliche Grundlage einer sich als Wissenschaft verstehenden Theologie sein kann. Bei aller Bewunderung für die Ergebnisse einer an der faktischen Entstehungsgeschichte des Textes ansetzenden Bibelforschung ist nicht zu übersehen, dass diese auf die Frage nach der Gültigkeit christlicher Wert- und Normvorstellungen keine Antwort zu geben vermag.

Christliche Theologie kommt, ebenso wie jüdische oder islamische Theologie, nicht umhin, etwas über Gott zu sagen und darüber, was er von uns erwartet; und dazu muss sie – zumindest aus Sicht eines theologisch womöglich naiven Atheisten – auch die Existenz Gottes annehmen. Darüber hinaus muss sie eine Erklärung dafür anbieten, warum Gottes Erwartungen an seine Geschöpfe die ihnen zugeschriebene Verbindlichkeit beanspruchen können. Über alle diese Dinge jedoch lässt sich durch historische oder empirische Forschung gar nichts ausmachen. Eben darin liegt die Pointe der evangelikalen Bewegung und ihre Provokation für die etablierten theologischen Fakultäten: Wenn es so etwas wie eine bibelgestützte christliche Theologie geben soll, dann muss sich ein wesentlicher Teil des Inhalts der Bibel – insofern sie nämlich eine autoritative Quelle wahrer Erkenntnisse und gültiger Handlungsanweisungen ist – bei aller Notwendigkeit einer kontextbezogenen Auslegung dem Zugriff der historisch-kritischen Methode entziehen.

So kommen wir zurück auf die Frage, ob in einer liberalen Demokratie Bürger mit Recht fordern können, dass mit wissenschaftlichen Erkenntnissen klarerweise inkompatible Glaubensinhalte – wie etwa der Kreationismus – an Schulen und Hochschulen gleichberechtigt berücksichtigt werden müssen. Wie stellt sich das Problem der bekenntnisgebundenen Wissenschaft im Lichte unserer Vorstellungen liberaler Legitimität dar?

Religiöse Glaubensüberzeugungen müssen zwei Kompatibilitätsbedingungen erfüllen, um in einer liberalen Demokratie einen begründeten Anspruch auf gleiche Berücksichtigung erheben zu können. Sie müssen erstens vereinbar sein mit den allgemeinen Bedingungen eines friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft auf der Basis gegenseitiger Achtung. Und insofern sie Aussagen über die empirische Wirklichkeit implizieren, müssen sie zweitens mit wohletablierten zeitgenössischen wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen vereinbar sein. Die erste Bedingung erscheint unter Voraussetzung liberaler Vorstellungen politischer Ordnung und Legitimität (womöglich) unmittelbar einleuchtend, die zweite Bedingung dagegen gewiss nicht. Wird durch sie nicht ein fallibler zeitgenössischer Erkenntnisstand absolut gesetzt und dies entgegen der wissenschaftstheoretischen Binsenweisheit, dass es keine absolut gewisse wissenschaftliche Erkenntnis gibt? Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist, aus folgendem Grund: Die Aufgabe von Schulen und Hochschulen besteht in der Bildung und Ausbildung von jungen Menschen, die unabhängig von ihren religiösen oder nicht-religiösen Wertvorstellungen und Lebensentwürfen auf ein eigenständiges und produktives Leben in einer Welt vorbereitet werden sollen, die umfassend und tief greifend von der modernen Wissenschaft und der für sie eigentümlichen Rationalität geprägt ist. Dies setzt ein vertieftes Verständnis und eine durch Kenntnis und Einübung erworbene Vertrautheit mit den methodischen Ansprüchen der modernen Wissenschaften und ihren Ergebnissen voraus. Ein solches Verständnis könnte aber nicht vermittelt werden, ohne aus wissenschaftlicher Sicht obsolete (oder sollen wir sagen absurde?) Glaubensvorstellungen über die Verfassung der empirischen Wirklichkeit als solche kenntlich zu machen und aus dem schulischen und akademischen Unterricht auszuschließen respektive als nur mehr historisch relevant vorzustellen.

Was es gerechtfertigt erscheinen lässt, den "Kreationismus" als unwissenschaftlich aus Schule und Hochschule auszuschließen, ist also nicht ein (abwegiger) Glaube an die absolute Gültigkeit des gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes, sondern die unabweisbare Aufgabe dieser Einrichtungen, auf ein Leben in einer von den modernen Wissenschaften geprägten Welt vorzubereiten. So ist zwar ein evangelikales Verständnis der Bibel, das diese selbst als Offenbarung und nicht lediglich deren Zeugnis betrachtet, zumindest im Prinzip mit liberaler Legitimität und Wissenschaftlichkeit kompatibel. (Entsprechendes gilt natürlich auch vom Koran als Offenbarungstext des Islams.) Die mit einem solchen Verständnis häufig verbundene kreationistische Auffassung von der Entstehung des Lebens und der Arten ist es dagegen nicht.

Und weil dieses Argument, so meine Annahme, von allen unangesehen ihrer besonderen religiösen oder nicht-religiösen Überzeugungen nachvollzogen werden kann, widerspricht es auch nicht liberalen Legitimitätsvorstellungen, im Schulunterricht die biblische Schöpfungsgeschichte lediglich als einen Teil der Religions- und Kulturgeschichte und nicht als eine ernsthafte Alternative zur modernen Paläontologie und Evolutionstheorie vorzustellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zum Folgenden: Horst Dreier, Säkularisierung des Staates am Beispiel der Religionsfreiheit, in: Rechtsgeschichte, (2011) 19, S. 72–86.

  2. Vgl. John Rawls, Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs, in: Wilfried Hinsch (Hrsg.), Die Idee des Politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1997, S. 116–141; ders., Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998.

  3. Vgl. ders., Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft, in: ders., Das Recht der Völker, Frankfurt/M. 2002, S. 165–212.

  4. Jürgen Habermas, "Das Politische" – Der vernünftige Sinn eines zweifelhaften Erbstücks der Politischen Theologie, in: Eduardo Mendieta/Jonathan VanAntwerpern (Hrsg.), Religion und Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2012, S. 43.

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Dr. phil., geb. 1956; Professor für Praktische Philosophie, Philosophisches Seminar, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz 1, 50923 Köln. E-Mail Link: wilfried.hinsch@uni-koeln.de