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Neue Rollen der Religion in modernen Gesellschaften

Rolf Schieder Hendrik Meyer-Magister

/ 17 Minuten zu lesen

Noch sind sich Zeitdiagnostiker darüber uneins, welche Bedeutung sie Religionen in einer sich globalisierenden Welt zubilligen wollen. Einigkeit herrscht aber darüber, dass Religionen in den vergangenen Jahrzehnten tief greifenden Transformationsprozessen ausgesetzt waren. Als einflussreich erwiesen sich hierbei insbesondere die funktionale Ausdifferenzierung der sozialen Systeme und der Prozess der Individualisierung. So ist die rapide wachsende Zahl der Menschen, die sich nicht mehr ein Leben lang an eine Religionsgemeinschaft binden wollen, ein Anzeichen dafür, dass es immer weniger nicht-religiöse Gründe dafür gibt, religiös zu sein – mithin der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess voranschreitet. Auch ist Religionszugehörigkeit eine Frage der individuellen Wahl geworden – und keine Frage mehr der Herkunft, der Tradition, des sozialen Status oder eines Karrierekalküls. Individualisierung und Ausdifferenzierung befreien die Individuen von klerikaler Bevormundung, aber auch die Religionen von systemfremder Instrumentalisierung.

Will man freilich weiter von "Religion in der Gesellschaft" – also nicht nur von einer unübersichtlichen Vielzahl von Religionen oder gar nur von einer privaten, sozial unerheblichen Religiosität – sprechen, dann stellt sich die Frage, ob nicht auch das ausdifferenzierte, pluralisierte, entmonopolisierte Religionssystem doch noch Funktionen erfüllt, die gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit verdienen. Der Botschaft jener Zeitdiagnostiker, die den Niedergang, das Verlöschen oder zumindest die Erschöpfung des Religiösen vorhersagen, ist aufgrund der weltweiten Datenlage jedenfalls nicht zu trauen.

Wer sich für die gesellschaftliche Bedeutung von Religion interessiert, der wird vom "Pew Forum on Religion and Public Life" regelmäßig und zuverlässig informiert. Von den im Jahr 2010 gezählten 6,9 Milliarden Menschen weltweit gehörten 5,8 Milliarden einer Religionsgemeinschaft an. Das sind 84 Prozent der Weltbevölkerung. Zum Christentum bekennen sich 32 Prozent, zum Islam 23 Prozent, zum Hinduismus 15 Prozent, zum Buddhismus 7 Prozent, zum Judentum 0,2 Prozent – es gibt also nur noch 14 Millionen Juden weltweit. Es überrascht wenig, dass sich 99 Prozent der Hindus und 99 Prozent der Buddhisten im asiatischen Raum finden. Der asiatisch-pazifische Raum ist mit 62 Prozent auch die Heimat der Mehrheit der Muslime. Global am weitesten verbreitet ist das Christentum. Schwerpunkte sind der nord-, mittel- und südamerikanische Kontinent, das südliche Afrika und Europa.

Während weltweit Religionen wachsen, müssen die Volkskirchen in Deutschland herbe Mitgliederverluste hinnehmen. Die römisch-katholische Kirche hat zwischen 1990 und heute mehr als 3,5 Millionen Mitglieder verloren, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) organisierten evangelischen Kirchen mehr als 5 Millionen. Allerdings übersteigt die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Austritte um das Doppelte. Bemerkenswert ist besonders, dass die Zahl der Taufen und der Wiedereintritte die Zahl der Kirchenaustritte sogar um etwa ein Drittel übertrifft: So standen zwischen 1991 und 2008 in der EKD 5,2 Millionen Taufen 3,7 Millionen Kirchenaustritten gegenüber und in der römisch-katholischen Kirche 4,4 Millionen Taufen 2,3 Millionen Austritten. Das demografische Problem der Überalterung ist also drängender als das Austrittsproblem. Nichtsdestotrotz müssen die durchschnittlich 250.000 Menschen pro Jahr, welche die beiden Kirchen verlassen, diesen zu denken geben – einstweilen können sich Kirchenleitungen aber auch mit folgenden Zahlen trösten: Noch gehören immerhin 60 Prozent der Deutschen einer der beiden großen Kirchen an. Die Quote wird aber in den nächsten 20 Jahren auf 50 Prozent gesunken sein.

Finanzielle Verluste erleiden die Kirchen in Deutschland durch die Austritte im Übrigen nicht. Das Kirchensteuereinkommen der beiden großen Kirchen lag im Jahr 2001 bei 8,5 Milliarden Euro. 2010 lag es bei 9,2 Milliarden Euro. Die Kirchensteuereinnahmen sind also trotz der Austritte und der hohen Sterberate gestiegen. Auch die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen scheint unter den schrumpfenden Mitgliederzahlen nicht zu leiden. Kirchenmitglieder sind gerade im Osten der Republik – gemessen an der Kirchenmitgliedschaftsquote in der dortigen Bevölkerung – überdurchschnittlich oft in den Parlamenten vertreten. Der amtierende Bundespräsident war früher protestantischer Pfarrer in Rostock und die amtierende Bundeskanzlerin ist eine Pfarrerstochter. Die Rolle der Kirchen im Bereich von Bildung und Diakonie ist nach wie vor bedeutend. Der Zulauf zu kirchlichen Privatschulen in und um Berlin beispielsweise ist enorm. Aber auch die Theologischen Fakultäten und der konfessionelle Religionsunterricht erfreuen sich stabiler Zustimmung.

Die Zahl der Menschen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, wird vom "Pew Forum on Religion and Public Life" mit 1,1 Milliarden angegeben. 850 Millionen finden sich in Asien, davon allein 700 Millionen in China, 135 Millionen in Europa, 60 Millionen in den USA, 45 Millionen in Südamerika, 26 Millionen im südlichen Afrika und 2 Millionen im Mittleren Osten und nördlichen Afrika. Bei diesen Zahlen muss man sich aber vor Augen halten, dass beispielsweise 68 Prozent der "Nones" in den USA durchaus an einen Gott als eine wie auch immer geartete höhere Macht glauben. Auch 30 Prozent der konfessionslosen Europäer glauben trotz ihrer Distanz zur Kirche an ein höheres Wesen. Bei näherer Betrachtung der Einstellungen der 700 Millionen religiös nicht Gebundenen in China kommt man ebenfalls zum Nachdenken: So gehen mit größter Selbstverständlichkeit 44 Prozent dieser Chinesen am nationalen Grabpflegetag an das Grab ihrer Ahnen und bringen diesen Essen, Getränke und selbst eigens dafür hergestelltes Geld fürs Jenseits mit.

Der traditionelle Ahnenkult wird ebenso wenig als "Religion" wahrgenommen wie konfuzianische Traditionen der Organisation des Gemeinwesens. Aber auch die Religionsforschung in Japan steht vor dem Problem, dass bereits der Begriff der Religion von Japanern als ein durch und durch westliches Konzept verstanden wird, sodass vertraute, traditionelle Riten – wie etwa das Waschen von Geldscheinen in magischen Quellen mit dem Ziel der Geldvermehrung – gar nicht als Religion identifiziert werden. So wird an diesen Zahlen vor allem deutlich, dass der Begriff der Religion als einer aparten, auf einer bewussten Entscheidung beruhenden, eine bestimmte Lebensführung erzwingenden Praxis ein westliches Konzept ist, das in anderen kulturellen Kontexten nur wenig Erkenntniswert besitzt.

Religionsbegriff

Es kommt also entscheidend auf die Klärung des Religionsbegriffs an, wenn man die Rolle von Religion in der Moderne angemessen bestimmen will. Zunächst ist es notwendig, zwischen Religion und der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu unterscheiden. Einerseits ist es möglich, dass jemand zwar formal einer Religionsgemeinschaft angehört, sich seine persönlichen Überzeugungen aber weit von dieser entfernt haben. Von Kirchenzugehörigkeit kann nicht auf Glaubensintensität geschlossen werden. Andererseits kann jemand strikte Distanz zur Kirche halten und doch Religionsaffinität an den Tag legen. Dazu nur ein Beispiel: In den vergangenen 20 Jahren sind in Deutschland mehr Kirchenglocken gegossen worden als in den 100 Jahren zuvor. Diese Glocken fanden fast ausnahmslos ihren Bestimmungsort in den Glockenstühlen von Dorfkirchen in den östlichen Bundesländern. Das muss überraschen, denn nach wie vor gehören 75 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung keiner Kirche an. Dennoch kümmern sich die Menschen in Vereinen zur Dorfkirchenerneuerung landauf landab darum, dass die in der DDR dem Verfall preisgegebenen Kirchen wiederaufgebaut werden – Kirchenmitglieder zu werden, liegt ihnen dabei aber fern. Auf Nachfrage liegen die Motive eher im zivil- und familienreligiösen Bereich: Die Kirche sei ein weithin sichtbares Symbol für das Ansehen des Dorfes. Sie repräsentiere ferner die Geschichte der ansässigen Familien: Hier seien die Großeltern und Urgroßeltern getauft worden, auf dem Friedhof seien sie bestattet. Das Kirchengebäude symbolisiert nicht mehr die Kirche als konfessionelle Organisation, sondern die Familie, das Dorf und seine Tradition.

Die Frage nach der Zukunft der Religion wird man also nicht auf die Frage nach der Zukunft der Kirche reduzieren dürfen. Der Soziologe Thomas Luckmann hat mit seiner These einer "unsichtbaren Religion" eine Fülle von Forschungen angeregt, die sich auf die Suche nach Religionsformen machten, die unabhängig von der in den Kirchen gepflegten Frömmigkeit praktiziert werden. Ein uns mittlerweile geläufiges Beispiel für eine außerkirchliche Religionspraxis ist die Fußballbegeisterung. Was in deutschen Kirchen undenkbar ist, gelingt im Fußballstadion problemlos: Es wird öffentlich gebetet, inbrünstig gesungen und mutig ein Bekenntnis zum eigenen Verein abgelegt. "Schalke ist meine Religion", heißt es etwa auf weiß-blauen Schals, die sich die Fans anlässlich ihrer kultischen Begehungen am Samstagnachmittag umlegen. Fußballspieler bekreuzigen sich beim Betreten des Spielfeldes und nach erfolgreichem Torschuss.

Bemerkenswert ist ein Service des Hamburger Sportvereins (HSV): Er bietet seinen Fans eine eigene Grabstätte auf dem Altonaer Friedhof an. Man betritt das Grabfeld durch ein Fußballtor. Die Toten werden mit Blick auf das Volksparkstadion bestattet – in einem Rasen, der (wie immer man sich das vorstellen soll) "Originalrasen" vom Spielfeld des Stadions ist. Die Grabstätten können mit dem HSV-Emblem verziert werden, bei der Beerdigung werden HSV-Schlachtgesänge gespielt. Damit wird die kleine Transzendenzerfahrung des samstäglichen Kampfes der "Guten" gegen die "Bösen" um die große Transzendenz des Überganges vom Leben in den Tod ergänzt. Der Fußballverein als Kirchenersatz.

Prozess der Individualisierung

Die Religion der Moderne ist auf jeden Fall eine solche, in der die Wahl des Individuums eine zentrale Rolle spielt. Der Soziologe Peter Berger hat diese Entwicklung als das Entstehen eines "häretischen Imperativs" bezeichnet. Er beschreibt damit eine gesellschaftliche Realität, in der die Menschen nicht mehr in eine Tradition hineingeboren werden, die ihnen eine bestimmte Rolle zuschreibt. Sie müssen ständig wählen – und zwar nicht nur dies und das, sondern vor allem und zuerst sich selbst: Wer will ich sein? Der Mensch ist zur Selbstwahl befreit – und dazu gezwungen. Jeder muss sich selbst zum Projekt machen. In all dem steigt das Risiko des Scheiterns enorm. Angeblich hat jeder unendlich viele Wahlmöglichkeiten – und dann erweist sich die eigene Lebenspraxis doch als begrenzt. Die Schere zwischen dem, was man alles hätte werden und erreichen können, und dem, was man wirklich erreicht hat, wird größer.

Dieser Befund findet sich auch mit Blick auf die Lebenswelten junger Menschen in Deutschland: "Das Bedürfnis nach Sinnfindung ist allgegenwärtig. Sinn wird dabei v.a. im persönlichen Glauben gefunden, der für viele Jugendliche nicht zwingend über Religion bzw. Kirche vermittelt sein muss. (…) Glaube wird als etwas Veränderbares und Individuelles, das man mit sich selbst ausmacht, (…) verstanden." Gleichzeitig wird aber der Druck, etwas aus seinem Leben machen zu müssen, größer: "Es herrscht bei vielen Jugendlichen Unsicherheit darüber, ob das eigene Leistungsvermögen für ein Leben in sicheren Bahnen ausreicht. Die große Frage, die sich Jugendliche (…) stellen, (…) lautet: Was wird aus mir und wann werde ich es? (…) Jugendliche gehen davon aus, dass sie die Antwort weitgehend allein finden müssen." Der Prozess der Individualisierung hat also enorme soziale Wirkungen.

Der französische Soziologe Émile Durkheim hat ein unsoziologisches Verständnis von Individualisierung bereits vor 115 Jahren zurückgewiesen. So schrieb er 1898: "Nicht nur ist der Individualismus nicht Anarchie, sondern er ist künftig das einzige Glaubenssystem, das die moralische Einheit des Landes sichern kann." Der "culte de l’individu" sei die Religion der Zukunft, und der Glaube an die Menschenrechte werde zum moralischen Kern der Gesellschaft. Dieser Individualismus stehe mit dem Christentum keineswegs im Konflikt, im Gegenteil: Dieses habe mit dem Gedanken der Gottunmittelbarkeit des Individuums den Boden für den modernen Kult des Individuums bereitet. Der sowohl von Klerikern wie von Marxisten bekämpfte Individualismus sei, so Durkheim, gerade kein Produkt egoistischer Launen oder eine kapitalistische Erfindung, er sei vielmehr jener Glaube, der die moderne Gesellschaft noch integrieren könne. Man müsse sich aber immer vergegenwärtigen: "In Wirklichkeit ist die Religion des Individuums eine soziale Einrichtung wie alle bekannten Religionen."

Heute gibt es eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, die dafür sprechen, dass Durkheim mit dieser Einschätzung Recht behalten hat. In diesem Sinn spricht der Soziologe Hans Joas von der "Sakralität der Person", die als zivilreligiöser Kern des Menschenrechtsgedankens zu gelten habe. Aber auch der in den vergangenen Monaten mit Leidenschaft geführte Streit über das Kölner Beschneidungsurteil war nicht einfach eine Debatte zwischen Säkularisten und religiösen Menschen, sondern eine Debatte auf dem Boden eines gemeinsamen Glaubens an die Menschenrechte: Während die Vertreter eines Beschneidungsverbotes das Menschenrecht des (männlichen) Kindes auf körperliche Unversehrtheit schützen wollten, so sahen die Befürworter einer Straffreiheit der Beschneidung das Menschenrecht auf Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in Gefahr. Aber Gegner wie Befürworter waren sich darin einig, dass das Kindeswohl letztes Entscheidungskriterium sein müsse. Dass es in all dem um mehr ging, als um einen Rechtsstreit und das professionelle Abwägen von Rechtfertigungsgründen, zeigt die Leidenschaft, mit der debattiert wurde. Kollektive Erregung scheint immer ein Hinweis auf Debatten über das Profil zentraler zivilreligiöser Dogmen zu sein.

Eine Religion der Gesellschaft?

Wenn die Beobachtung zutrifft, dass auch unter hochgradig individualisierten Bedingungen Religion nicht einfach nur "privat" geworden ist, sondern nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt, dann stellt sich die Frage, wie die Rolle der Religion unter modernen Bedingungen begrifflich angemessen zu erfassen ist. Der Soziologe Niklas Luhmann hat sich bis zu seinem Tod mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Sinne es noch sinnvoll sei, von "einer Religion der Gesellschaft" zu sprechen, wo doch ganz evident sei, dass wir Religion nur als Religion im Plural, als eine Vielzahl von Religionen, vorfinden. Luhmann wollte auf einen Religionsbegriff im Singular nicht verzichten, weil er davon überzeugt war, dass Religion – ebenso wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Politik – bei allem funktional-strukturellen Wandel eine zentrale Funktion für eine Gesellschaft erfüllt.

Was ist also die gesellschaftliche Funktion des Religionssystems? Mit Luhmanns Worten: "Woran erkennen wir, dass es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um Religion handelt?" Die Besonderheit religiöser Kommunikation liege in deren Realitätsverdoppelung: "Es ist dann nicht mehr einfach alles, was ist, real, indem es ist, wie es ist, sondern es wird eine besondere, sagen wir reale Realität dadurch erzeugt, dass es etwas gibt, was sich von ihr unterscheidet." Man kann dann sagen, "dass eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet". Anders als in anderen gesellschaftlichen Systemen, die das, was jenseits ihrer Systemgrenzen liegt, bewusst nicht zur Kenntnis nehmen, um die Binnenkommunikation nicht zu belasten, besteht die Besonderheit des Religionssystems darin, das Überschießende, das Unverfügbare – eben das Transzendente – in den Mittelpunkt der eigenen Kommunikation zu rücken. "Erst von der Transzendenz aus gesehen erhält das Geschehene in der Welt einen religiösen Sinn." Das Religionssystem arbeitet in diesem Sinne mit einer doppelten Realität, schließt also, im Unterschied zu anderen sozialen Systemen, seine Umwelt nicht aus der Systemkommunikation aus: "Religion hat es mit diesem Einschluss des Ausgeschlossenen, mit der zunächst gegenständlichen, dann lokalen, dann universellen Anwesenheit des Abwesenden zu tun."

Das hat Konsequenzen für die Art und Weise der Kommunikation im Religionssystem selbst: "Im Falle der Religion ist Begründung nicht durch Ausschluss, sondern nur durch Einschluss des Gegenwertes zu erreichen, nicht wie Wahrheit durch Ausschluss von Unwahrheit, sondern durch Neubewertung aller Unterscheidungen in transzendenter Sinngebung." Man könnte auch in Anlehnung an den dialektischen Theologen Karl Barth formulieren, dass religiöse Kommunikation in jedem Ja ein Nein und in jedem Nein ein Ja bereithält. Religiöse Sinnformen sind deshalb höchst paradox. Religion ist geradezu Paradoxieentfaltung. Aber: "Paradoxien sind, das muß immer wieder betont werden, keine Kommunikationshindernisse. Im Gegenteil: sie können formuliert werden." Genau das geschieht im Religionssystem mithilfe der Kontingenzformel Gott. Luhmann kann deshalb auch ganz lakonisch sagen: "Religion scheint immer dann vorzuliegen, (…) wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gern haben möchte."

Wenn religiöse Organisationen die Fähigkeit entwickeln, das systemische Problem der Exklusion zu minimieren, dann haben sie gute Chancen, ihre Attraktivität zu steigern. Denn weltweit kommt es zu massiven Gesamtexklusionen aus dem Wirtschafts-, dem Bildungs- und dem Rechtssystem: "Wer keinen Ausweis hat, findet keine Arbeit, wer auf der Straße lebt, kann seine Kinder nicht zur Schule anmelden. (…) Ohne jedes Einkommen kaum Chancen für gesunde Ernährung, also auch kaum Kraft für regelmäßige Arbeit." Das Religionssystem erweist sich gegenüber diesen Exklusionsmechanismen als erstaunlich immun: Es zeigt "extrem geringe Interdependenzen mit den Inklusions-/Exklusionsregulierungen anderer Funktionssysteme. Eine Exklusion aus der Religion schließt nicht, wie noch im Mittelalter, aus der Gesellschaft aus. Umgekehrt können Beinahe-Exklusionen aus anderen Funktionssystemen – kein Geld, keine Ausbildung, kein Ausweis, keine Chance, von der Polizei ernst genommen oder vor Gericht gehört zu werden – von der Religion souverän ignoriert werden." Und so erweist sich die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme einer Gesellschaft, die lange Zeit gerade von Theologen im Sinne einer Säkularisierungsthese als Verlust religiösen Einflusses auf die Gesellschaft gedeutet wurde, als die Stärke der Religion: Sie kann weitaus unabhängiger agieren, als das in der Vergangenheit der Fall war, und zugleich soziale Inklusion erzeugen, wo andere Funktionssysteme systemisch auf Exklusion ausgerichtet sind.

Ein Beispiel für die erfolgreiche Verknüpfung von Individualisierung und Inklusion sind die US-amerikanischen "Megachurches". So wirbt etwa die südkalifornische Saddleback Church mit den Slogans "You matter to God and us" und "We are better together". Ein Flyer fragt "What is saddleback church?" und die Antworten lauten: "Second-chance grace place; All-nation congregation; Doable faith; Deliberate pathway to growth; Love in action; Empowered members; Bold faith; Authentic relationships; Creative outreach; Kid and family focused." Hier werden keine Bekenntnisforderungen aufgestellt, es handelt sich stattdessen um eine durch und durch individualisierte Frömmigkeit, die dem self empowerment dient. Wer mit den dortigen Kirchenmitgliedern spricht, warum sie denn ihre traditionellen Kirchen verlassen haben, bekommt zur Antwort, dass man hier endlich etwas Sinnvolles tun könne. Man werde weder angepredigt, noch lediglich religiös versorgt, man fühle sich als Person ernst genommen.

Differenzierung und gegenseitige Verwiesenheit

Trotz der fortschreitenden Ausdifferenzierung bleiben die gesellschaftlichen Teilsysteme gegenseitig darauf angewiesen, dass andere Systeme ihre spezifische Aufgabe erfüllen. Das soll an einem aktuellen Beispiel illustriert werden: Dass die Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre im Kern Vertrauenskrisen sind, ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden. Durch die Gier und die Verantwortungslosigkeit der Manager und Banker und die fehlende Kontrolle des Wirtschaftssystems sei das Vertrauen der Menschen in das Finanzsystem verloren gegangen, so der allgemeine Tenor. Kaum ein Artikel über "die Krise" in den Wirtschafts- und Politikteilen der einschlägigen, überregionalen Tages- und Wochenblätter kommt ohne die Vokabel "Vertrauen" aus. Der Leiter des Berliner Instituts für Sozialstrategie, Ulrich Hemel, bringt die Stimmung auf den Punkt: "Was wir erleben ist eine Weltkrise des Vertrauens." Bereits in seinem 2009 auf der Summerschool des "Program on Religion, Politics and Economics" gehaltenen Vortrag unterstrich er, was Vertrauen für die Wirtschaft bedeutet: "Wirtschaftlicher Mehrwert hängt (…) sehr eng mit einer Kultur des Vertrauens zusammen: Es geht darum, Vertrauen zu schaffen, Vertrauen zu erhalten und Vertrauen zu mehren. Trotz aller Möglichkeit des Missbrauchs und der Enttäuschung erweist sich Vertrauen folglich als Kernwert wirtschaftlichen Handelns." Ganz in diesem Sinne wurden auch in einem Diskussionspapier des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik "Investitionen in den Faktor Vertrauen" gefordert.

Niklas Luhmann hat den Vertrauensbegriff bereits 1968 behandelt. Vertrauen ist für Luhmann zunächst ein "elementarer Tatbestand des sozialen Lebens. Der Mensch hat zwar in vielen Situationen die Wahl, ob er in bestimmten Hinsichten Vertrauen schenken will oder nicht. Ohne jegliches Vertrauen aber könnte er morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn." Und weiter heißt es: "Auf der Grundlage sozial erweiterter Komplexität kann und muss der Mensch (…) Formen der Reduktion von Komplexität entwickeln." Vertrauen ist so eine Form, die es Systemen und Menschen ermöglicht, unter der Bedingung einer unendlich komplexen Umwelt handeln zu können. Vertrauen sei dabei immer eine "riskante Vorleistung".

Vertrauen muss nicht nur Personen, sondern auch den gesellschaftlichen Subsystemen und dem Gesellschaftssystem als Ganzem entgegengebracht werden. Der Mensch muss also Systemvertrauen aufbauen – eben jenes Vertrauen, das in der Wirtschafts- und Finanzkrise verloren gegangen sein soll. Luhmann benennt das Dilemma des zum Vertrauen verdammten modernen Menschen hellsichtig: "Der Vertrauende weiß sich korrekturunfähig, fühlt sich damit Unvorhersehbarem ausgeliefert und muß trotzdem wie unter Zwangsvorstellungen weiter vertrauen." Selbst sorgfältige Planung kann Vertrauen nicht ersetzen, denn Planung in komplexen Sozialstrukturen umfasst viele ungewisse Parameter. So wird Komplexität durch Planung gerade noch erhöht – und umso mehr Vertrauen zur Komplexitätsreduktion ist nötig.

Es wird deutlich: Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften kommen ohne Vertrauen in die Leistungsfähigkeit ihrer Teilsysteme nicht aus. Vertrauen braucht aber Vertrauenswürdigkeit. "Vertrauenswürdig ist, wer bei dem bleibt, was er bewußt oder unbewußt über sich mitgeteilt hat." Das ändert aber nichts daran, dass Vertrauen immer eine riskante Vorleistung des Vertrauenden bleibt. Es gilt für Luhmann eine "nichtumkehrbare Reihenfolge: zuerst der Vertrauende und dann der, dem vertraut wird". So gilt auch: "Man kann Vertrauen nicht verlangen. Es will geschenkt und angenommen sein." So zeichnet sich eine Begrenzung der Forderung, in den "Vermögenswert Vertrauen" zu investieren, ab: Die Vertrauensbereitschaft lässt sich im Wirtschaftssystem selbst offenbar nicht generieren. Fast möchte man in Abwandlung des schon sprichwörtlich gewordenen Böckenförde-Theorems sagen: "Auch die Wirtschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann." Die Paradoxie der Ausdifferenzierungsthese Luhmanns besteht also darin, dass sich die Teilsysteme einerseits zunehmend auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können und sollen, dass sie aber andererseits zunehmend darauf angewiesen sind, dass die anderen Teilsysteme ihre je eigenen Aufgaben sorgfältig erfüllen, weil sie nur so jene Entlastung erhalten, die den Prozess der funktionalen Differenzierung in Gang hält.

Religion in nicht-religiösen Teilsystemen

Niklas Luhmann vermutet, dass die Aufgabe des Religionssystems darin besteht, Systemvertrauen zu entwickeln und wieder herzustellen. Seit Max Webers Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, insbesondere aber seit seiner These, dass sich die Entstehung des Geistes des Kapitalismus der innerweltlichen Askese und der Berufsethik des Protestantismus calvinistischer Prägung verdanke, reißt die Debatte darüber nicht ab, von welchen inneren Antrieben unser kapitalistisches Wirtschaftssystem eigentlich lebt. Webers Arbeiten waren in dieser Hinsicht auf einen pessimistischen Ton gestimmt: "Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein." Der protestantische Geist sei aus dem "stahlharten Gehäuse" des kapitalistischen Wirtschaftssystems längst entwichen. "Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende einer ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die letzten Menschen dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben."

Wer solchem Kulturpessimismus nicht frönen will, der entkommt der Frage nicht, wie eine sich entwickelnde Weltgesellschaft Systemvertrauen in eine menschenwürdige Ökonomie generieren kann. Kirchen und Religionsgemeinschaften sind mit dieser Aufgabe offensichtlich überfordert. Aber Luhmanns Religionsbegriff lässt sich ohnehin nicht auf das Handeln von Kirchen reduzieren. Wenn diese die Funktion nicht mehr erbringen können, Systemvertrauen durch die Generierung einer vertrauenswürdigen Kontingenzformel herzustellen, dann müssen andere gesellschaftliche Subsysteme diese Funktion mit übernehmen. Und in der Tat scheint der gesteigerte Bedarf nach religiös codiertem Systemvertrauen von einer ganzen Reihe von Subsystemen befriedigt zu werden. Wir beobachten staatlich organisierte zivilreligiöse Rituale (etwa bei der Beisetzung von gefallenen Soldaten), das öffentliche Zelebrieren von Liebe als Religion auf Brücken, an denen man Liebesschlösser befestigt und den Schlüssel in den Fluss wirft, den Ausbau von spiritual care units in den Krankenhäusern, die Wiederkehr von religiösen Alltagsritualen in den Familien, Religion als Thema in Literatur, Film und Kunst, den Ausbau religiöser Bildung an den öffentlichen Schulen, aber auch das Bemühen großer Unternehmen, mission statements zu verfassen, eine corporate identity zu bilden und compliance zu praktizieren.

Eine ganz andere Frage ist es, ob die Kirchen von diesem gestiegenen Religionsbedarf profitieren können. Sie sind zu einem Religionsanbieter unter anderen geworden. An der Codierung der Einheit der Differenz von Transzendenz und Immanenz versuchen sich viele. Die Kirchen müssen aufpassen, dass sie sich nicht wie Monopolisten verhalten, die zu spät erkennen, dass sich der Markt längst pluralisiert hat.

Dr. theol., geb. 1953; Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin; Leiter des "Program on Religion, Politics and Economics"; Mitglied der "Berliner Studien zum jüdischen Recht"; HU Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: rolf.schieder@rz.hu-berlin.de

Dipl.-Theol., geb. 1982; Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe "Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989" an der Georg-August-Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen. E-Mail Link: hendrik.meyer-magister@theologie.uni-goettingen.de