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Fallstricke der Säkularisierung

Ariane Sadjed

/ 9 Minuten zu lesen

Sind säkulare Gesellschaften moderner und demokratischer als religiöse? Gibt es eine Prädisposition bestimmter Religionen zu mehr oder weniger Gewalt? Im Folgenden möchte ich zeigen, dass bereits die Formulierung solcher Fragen auf einer rigiden Essenzialisierung des Religiösen beruht. Statt das Religiöse im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Faktoren wie Politik und Ökonomie zu verstehen, wird oftmals eine irreführende Dichotomie zwischen "westlichen" und "islamischen" Gesellschaften vollzogen. Demgegenüber plädierte der Anthropologe Talal Asad dafür, statt der populären Beschäftigung mit dem Religiösen die Genese und Funktionsmechanismen des Säkularen zur Diskussion zu stellen. Er kritisierte die Wahrnehmung der säkularen Öffentlichkeit als neutralen Raum an sich: Die Artikulation des Religiösen sei in der Öffentlichkeit nicht tolerierbar geworden, weil dieser Raum bereits vom Säkularen besetzt ist. Das Säkulare ist diesem Verständnis nach also nicht die zivilisierte Form des Religiösen, sondern ein mit der Religion konkurrierendes Set von Mechanismen der Ordnung und Regulierung von Gesellschaften.

Diese Entwicklung ist Asad zufolge auf die Formierung der Nationalstaaten in Europa und der damit einhergehenden staatlichen Souveränität zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, durch die Personen, die keinem solchen staatlichen Gesetz unterstanden, als "inferior on a civilizational scale centred on the emerging political cultures of North-Western Europe" angesehen wurden. Asad lokalisierte in den religiösen Traditionen des Mittelalters transnationale Formen der Gemeinschaft und gesellschaftlichen Integration sowie den Gedanken eines freien Bewusstseins, die sich mit dem Aufkommen von Nationalstaaten auflösten beziehungsweise in einzelne staatliche Rechtscodes inkorporiert wurden. In diesem Prozess der Einschreibung des Säkularen in staatliches und internationales Recht kam es auch zu einer Essenzialisierung des Religiösen. Diese beruht auf der Wandlung des Religiösen von gesellschaftlich integrativen Funktionen und relativer Flexibilität zu einer Sphäre, die sich nun gegenüber den neuen Institutionen der Nation positionieren musste. Der Soziologe Armando Salvatore beschreibt diesen Prozess am Beispiel Andalusiens im 15. Jahrhundert, wo Muslime und Juden einer zunehmend von Fanatismus geprägten Partnerschaft zwischen der spanischen Krone und dem Katholizismus gegenüberstanden. Die von der spanischen Krone mit großem Eifer vorangetriebene Staatenbildung war mit religiöser Kompromisslosigkeit verknüpft, und ihr Ziel, die Homogenisierung der Gesellschaft, wurde ein politisches Gebot.

Die Abspaltungen und Ausläufer der protestantischen Reformation – sowohl moderate als auch radikale Strömungen – sowie die darauffolgenden Religionskriege in Europa bis zum Westfälischen Frieden 1648 dienten als weitere Grundlage für die Zentralisierung von Macht, um unterschiedliche religiöse Überzeugungen und religiösen Aktivismus kontrollierbar zu machen. Damit gingen Ideen kultureller und sprachlicher Homogenisierung einher, die für die Schaffung der späteren Nationalstaaten grundlegend wurden. Homogenität und Säkularität – als eine neue Form des Regierens – waren die Voraussetzungen für die Neutralisierung religiöser Strömungen.

Die primäre Funktion von Säkularität für den modernen europäischen Staat ist laut Salvatore daher nicht, Religion zu marginalisieren und zu privatisieren, vielmehr ermögliche das Säkulare, Religion auf eine bestimmte Art zu formen. Das Religiöse, neu definiert durch seine Privatisierung, sei zu einem Ort der Kontrolle durch den Staat geworden, da die staatliche Domestizierung von Religion zu einer Grundlage der nationalen Einheit und damit Faktor in der politischen Transformation Europas wurde. Mit anderen Worten: Säkularisierung bedeutete nicht eine "Befreiung" von der Religion, sondern eine neue Form ihrer Regulierung. Eine zunehmend konsequente und selbstbewusste Vorstellung von Säkularität wurde zu einem Kernstück ideologischer Homogenität in Europa, das anhand konfessioneller Zugehörigkeiten neu aufgeteilt wurde. Das Säkulare manifestierte sich in konkreten Formen des Regierens und in der Art, wie Religion auf die private Sphäre beschränkt wurde. Gleichzeitig wurde das Private zu einer Sphäre, deren Unantastbarkeit als vom Staat geschützt galt. Dieser Schutz beruhte auf der Bedingung, dass in ihrem komplementären Gegenstück – der öffentlichen Sphäre – Loyalität dem Staat gegenüber im Sinne nationaler Einheit gewahrt wird. Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Weichen dafür gestellt, dass offen nach außen getragene Religiosität nur noch dann zugelassen wurde, wenn sie mit den politischen Interessen des Staates kompatibel war, das heißt sich nicht in politische und öffentliche Diskurse "einmischte".

Es verschoben sich die Konzepte von Recht und Ethik, die innerhalb und außerhalb des Individuums festgemacht wurden: Der Staat übernahm die Funktion des "Außen", indem er Sicherheit und die Einhaltung von Vereinbarungen garantierte; die Verinnerlichung der moralischen Kraft der Religion wurde währenddessen in zunehmendem Maße durch moderne Methoden des liberalen Regierens abgesichert, die darauf abzielten, (selbst-)verantwortliche Personen zu erschaffen. Für die Garantie der neu formulierten inneren Freiheit wurden von Seiten des Staates währenddessen immer differenziertere Mechanismen notwendig. Religiöse Neutralität des Staates basierte also auf einer vielschichtigen diskursiven und institutionellen Maschinerie, die Religionsfreiheit garantierte und gleichzeitig beschränkte.

Die Trennung zwischen Religion und Politik im Zuge der Formation moderner, säkularer Nationalstaaten habe sich Salvatore zufolge jedoch selbst in der europäischen Geschichte nicht in dem Maße linear vollzogen, wie der Diskurs der Säkularisierung dies beansprucht. Die Beziehung zwischen Religion und Staat im modernen Europa repräsentiere vielmehr ein "field of permanent and shifting tensions more than into a stable configuration of institutional and constitutional separation". Die aktuelle Vehemenz, mit der die Diskussion um den Islam in der europäischen Öffentlichkeit geführt wird, steht im Zusammenhang mit dieser Fragilität der Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatem, Religion und Staat in europäischen Staaten selbst.

Was in westlichen Gesellschaften heute als "soziale Sphäre" bezeichnet wird, der säkulare Bereich, der konzeptuell von Variablen wie "Religion", "Staat" und "nationaler Ökonomie" unterschieden wird, existierte vor dem 19. Jahrhundert nicht. Dennoch war es genau das Aufkommen der Gesellschaft als organisierbarer säkularer Raum, der es europäischen Staaten ermöglichte, durch die Neudefinition von Religion als einer vom Staat getrennten, individuellen Angelegenheit die unaufhörlichen Veränderungen in der gesamten Bevölkerung unabhängig von ihren religiösen Zugehörigkeiten zu regulieren. Dieser Prozess brachte laut Asad auch die heutige Wahrnehmung hervor, dass Religion zu einer Quelle der Uneinigkeit wird, wenn sie an die Öffentlichkeit tritt.

Aus den Darstellungen wird die historische Entwicklung deutlich, die in weiten Teilen Europas dazu geführt hat, dass der Staat Religion definiert – entweder autonom oder in Zusammenarbeit mit religiösen Institutionen, denen der Staat faktische oder rechtliche Privilegien verleiht. Die Formen der Regulierung moderner Gesellschaften, die mit dem Prinzip "Säkularität" aufkamen, gingen schließlich auch mit einer Essenzialisierung des Religiösen einher, das heißt mit einer zunehmenden Isolierung dieses Bereichs von anderen gesellschaftlichen Sphären. Doch Theorien, welche die Religiosität als eine essenzialistische Variable betrachten, versäumen es, den dynamischen Charakter und die Wandelbarkeit zu erfassen, die das Religiöse in der Interaktion mit anderen sozialen Faktoren prägen. So bleibt Religion meist ein Synonym für Rückständigkeit – was in der Folge kaum Erkenntnisse darüber erlaubt, in welchem Zusammenspiel sie welche sozialen Kräfte entfaltet.

Der Anthropologe Robert Hefner beschreibt, wie unterschiedlich sich der Einfluss des Religiösen in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext entwickeln kann. Die Fragmentierung religiöser Autorität findet dabei im Wechselspiel mit der Pluralisierung sozialer Kräfte und einer damit einhergehenden Demokratisierung statt. Er stellt fest, dass sich radikale religiöse Einstellungen aufgrund radikaler Entwicklungen oder Belastungssituationen in anderen gesellschaftlichen Bereichen leichter durchsetzen: Bürgerkriege, wirtschaftliche Krisen, ethnische Konflikte oder gewalttätige Übergriffe von Seiten des Staates begünstigten demnach das Aufkommen eines Neo-Fundamentalismus, der Pluralismus, Frauenrechten und Befürwortern einer islamischen Zivilgesellschaft feindlich gesinnt ist. Alle transnationalen Religionen sehen sich hier ähnlichen Herausforderungen gegenüber. Wie sich zeigt, ist das Schicksal moderner Religionen nie allein durch das Religiöse bestimmt, sondern durch ihre jeweilige kontextuelle Einbettung. Dies ist wichtig, denn oft wird hier der Umkehrschluss gezogen: Der Zustand von failed states, instabile Rechtsordnungen und Menschenrechtsverletzungen werden mit erhöhter Religiosität in Verbindung gebracht. Die Religiosität der Menschen gilt als ein Indikator für Konfliktintensität und Destabilisierung.

Diese Argumentation ist nicht nur irreführend, weil sie das sozio-ökonomische Ungleichgewicht zwischen der sogenannten Ersten und Dritten Welt mit einer vorgeblichen "Zivilisationsskala" übertüncht. Auch stehen vermeintliche Rezepte und Lösungen bereit, die jedoch neue Fragen aufwerfen: Trennung von Religion und Staat, Zurückdrängung des Religiösen aus der Öffentlichkeit. Denn es bleibt dabei außer Acht, dass diese Lösungswege einer spezifischen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung entsprungen sind (die obendrein durchaus konfliktreich und widersprüchlich waren) und verschiedene Gesellschaften hier gänzlich andere Entwicklungen hinter und vor sich haben. So entgeht etwa dem Blick, dass viele soziale und emanzipatorische Bewegungen in Ländern der "Dritten Welt" in religiösen Diskursen begründet und von diesen getragen wurden wie etwa die Befreiungstheologie in Lateinamerika. Nicht selten waren sie die Triebkraft gegen koloniale Bestrebungen, denen sich die meisten dieser Länder gegenübersahen. Auch "der Islam" wurde im 20. Jahrhundert zu einer "indigenen" und später auch transnationalen Position gegen westliche Machtansprüche, weshalb den aus westlichen Ländern oftmals gehörten Forderungen nach einer Zurückdrängung der Religion im öffentlichen Leben nicht selten mit Misstrauen begegnet wird: Die Intention, dadurch mehr Demokratie zu befördern, leuchtet angesichts der jüngeren Geschichte, in der Bewegungen für nationale Selbstbestimmung in islamischen Ländern entweder direkt von westlichen Mächten oder mit deren Hilfe unterdrückt wurden, bei vielen vor Ort nicht sofort ein.

Der Verkettung von Religion und Radikalität fehlt schließlich auch die Differenzierung zwischen persönlicher und politisierter Religion. Es ist nicht unüblich, dass in einer instabilen Lebenssituation Schutz und Halt in der Religion gesucht werden. Die Frage, die hier vermehrt diskutiert werden sollte, ist, ob konservative und autoritäre Strukturen in Ländern, in denen die Menschen instabilen Lebenssituationen ausgesetzt sind, nicht leichter aufrechtzuerhalten sind?

Diesen oben skizzierten Prozess hat der Soziologe Mansoor Moaddel am Beispiel der Radikalisierung islamischer Bewegungen veranschaulicht. Im Iran etwa entstand die zeitgenössische Form des politischen Islams als Oppositionsbewegung zu Zeiten der (streng säkularen) Pahlavi-Monarchie, das heißt in einem Klima politischer Unterdrückung. Der islamische Aktivismus wuchs ab den 1950er Jahren aufgrund der monolithischen kulturellen Ordnung, die "von oben" durch einen säkular ideologischen Staat aufgezwungen wurde – und dadurch maßgeblich selbst zu einer Politisierung der Religion beitrug. Dies ebnete nach der Revolution 1979 den Weg für eine moderne Konstitution unter der Führung des islamischen Regimes: Durch die islamische Revolution wurde der Ausschluss des Religiösen in Integration verwandelt – allerdings unter der totalen Kontrolle durch den Staat. Viele Staaten im Nahen Osten befanden sich im 20. Jahrhundert in einer Situation, die von starker sozialer Fragmentierung bestimmt wurde: In Algerien stand eine sozial aufsteigende intellektuelle Schicht einem vom Abstieg gefährdeten und deswegen aufgebrachten traditionellen Kleinbürgertum gegenüber. In Ägypten gab es Spannungen zwischen bourgeoisen Intellektuellen (darunter auch Mitglieder der Muslimbruderschaft), populären Scheichs und Führern nichtstaatlicher Moscheen. Die streng säkularen Staatsideologien spielten für viele islamische Bewegungen eine Schlüsselrolle: In Ägypten, Syrien und dem Iran boten sie einen günstigen Kontext für eine Radikalisierung des politischen Islams. In Jordanien hingegen wurde der Umsturz der Monarchie oder die Errichtung eines islamischen Staats nie eingefordert. Moaddel zufolge liegt dies daran, dass hier islamische Reformakteure frühzeitig in den politischen Prozess eingebunden wurden. Der Demokratisierungsprozess, der 1989 von König Hussein initiiert wurde, beförderte die Mäßigung der islamischen Bewegung.

Diese Fälle können als Indizien dafür gedeutet werden, dass radikale Strömungen sich in Abhängigkeit vom Pluralismus und dem Ausmaß ihrer Integration in der Gesellschaft entwickelten, und die teilweise politische Integration religiöser Bewegungen einen pragmatischen Islamismus unterstützte beziehungsweise ideologisch radikale Bewegungen zersplitterte. Es bleibt die Frage, inwiefern statt einer Unterdrückung islamischer beziehungsweise religiöser Bewegungen in der Politik um jeden Preis nicht eher die Herausarbeitung jener Faktoren im Vordergrund stehen sollte, die sich für die Pluralität und Flexibilität der jeweiligen Gesellschaft bereits bewährt haben oder dafür förderlich sein könnten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Talal Asad, Genealogies of Religion, Baltimore 1993.

  2. Ders., Formations of the Secular, Stanford 2003, S. 164.

  3. Vgl. Armando Salvatore, The Euro-Islamic Roots of Secularity, in: Asian Journal of Social Science, 33 (2005) 3, S. 412–437.

  4. Vgl. ebd., S. 422. Diesen Trend zur Selbst-Disziplinierung hat Michel Foucault anhand des Prinzips der Governmentalität eindrücklich beschrieben.

  5. Ebd., S. 431.

  6. Vgl. Robert W. Hefner, Multiple Modernities, in: Annual Review of Anthropology, (1998) 27, S. 83–104.

  7. Vgl. ebd., S. 91, S. 96.

  8. Vgl. beispielsweise: Detmar Doering, Religion und freiheitlich-säkularer Staat, in: APuZ, (2013) 13–14, S. 11–14.

  9. Vgl. für postkoloniale Verflechtungen: Achille Mbembe, On the Postcolony, Berkeley 2001.

  10. Vgl. für das Beispiel Iran: Ali M. Ansari, Iran, Islam and Democracy, London 2006.

  11. Vgl. Mansoor Moaddel, The Study of Islamic Culture and Politics, in: Annual Review of Sociology, (2002) 28, S. 359–386.

  12. Vgl. Said Amir Arjomand, Unity and Diversity in Islamic Fundamentalism, in: Martin E. Marty/R. Scott Appleby (eds.), Fundamentalisms Comprehended, Cambridge 1995, S. 179–198.

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Dr. phil.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung, Mayerhofgasse 6/3, 1040 Wien/Österreich. E-Mail Link: sadjed@politischebildung.at