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Die etwas andere Gretchenfrage | Religion und Moderne | bpb.de

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Die etwas andere Gretchenfrage

Stephan J. Kramer

/ 5 Minuten zu lesen

Im vergangenen Jahr bestimmte der Streit über die religiöse Beschneidung von Jungen über weite Strecken die öffentliche, juristische und politische Debatte in Deutschland. Um die durch ein Urteil des Kölner Landgerichts entstandene Rechtsunsicherheit zu beseitigen, haben die Mitglieder des Deutschen Bundestages einen neuen Paragrafen in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt. Danach umfasst das elterliche Sorgerecht unter bestimmten Auflagen auch "das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen". Die moslemischen und die jüdischen Gemeinschaften, durch das Kölner Urteil zunächst zutiefst besorgt, können mit diesem Ergebnis leben. Vielen Gegnern jeglicher Beschneidung gingen die Auflagen indes nicht weit genug. Sie argumentieren mit anhaltendem Eifer gegen die Beschneidung unmündiger Kinder. Andere Zeitgenossen wiederum echauffieren sich über die Tatsache, dass Deutschland – vermeintlich typisch deutsch – etwas gesetzlich geregelt hat, was anderswo auch ohne Extraparagrafen erledigt wird. Zwischen diesen beiden Extremen muss man aber auch die Anzahl derjenigen erwähnen, die mit sachlichen Argumenten ihrer echten Sorge um das Kindeswohl Ausdruck gegeben haben.

Der Streit um die Beschneidung wirft ein grelles Licht auf das Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu den in ihrer Mitte lebenden Minderheiten. Die geballte Ladung von Vorurteilen, die Juden und Moslems entgegenschlug, war beängstigend. Die Vorliebe, mit der viele Beschneidungsgegner diese Religionen in die Barbaren-Ecke verwiesen, spricht Bände – fast als hätten sie nur auf einen Vorwand gewartet, um ihrer Feindseligkeit freien Lauf zu lassen. Da war manchen auch keine Verdrehung der Tatsachen zu schade – bis hin zu der ungeheuerlichen These, die jüdische oder moslemische Beschneidung sei der Verstümmelung weiblicher Genitalien bei der sogenannten Mädchenbeschneidung gleichzusetzen. Es ist übrigens nicht der einzige Versuch, Juden und Moslems der Barbarei zu bezichtigen. Ein weiteres eklatantes Beispiel ist die Schlachtung nach den religiösen Speisevorschriften: koscher beziehungsweise halal. Auch in der nicht verstummen wollenden Debatte über dieses Thema herrscht eine Mischung aus Ignoranz und Arroganz. Vorschriftsgemäß vorgenommen, ist die koschere Schlachtung nämlich keineswegs Tierquälerei; das Tier verliert das Bewusstsein wenige Sekunden nach dem Schnitt, noch bevor das Schmerzbewusstsein überhaupt einsetzen kann.

Die Beschneidungsdebatte sagt indessen nicht nur viel über Vorurteile gegenüber Minderheiten und über die Lust aus, diesen Vorurteilen Luft zu verschaffen. Sie liefert auch wichtige Einblicke in das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu Religion an sich. In gewissem Sinne hielten die zum Teil mit ungeheurer Wut argumentierenden Beschneidungsgegner nicht so sehr den Minderheiten wie der Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel vor. Ein zentrales Motiv des sich dabei offenbarenden Bildes war ein eklatanter Mangel an Verständnis für die Rolle der Religion im menschlichen Leben. Ein großer Teil der Kritiker zeigte Unfähigkeit wie Unwilligkeit, Religion als ein komplexes Ganzes anzuerkennen. Ein Ganzes, welches das Leben des Menschen prägt, ihm den Weg weist und ein geistiges Zuhause bietet. Aus diesem Zuhause kann man nicht nach Belieben einzelne Bausteine herausbrechen.

Man versteht die Religion auch nicht, wenn man lediglich einzelne Bausteine betrachtet, ohne die Statik des ganzen Gebäudes zu verstehen. So sind weder das Judentum noch der Islam – oder eine andere Religion – auf formale Gebote beschränkt. Sie enthalten grundlegende Bestimmungen zu Moral, Ethik und menschlicher Koexistenz. Man kann kein frommer Mensch sein, wenn man nur Gottes formale Gebote beachtet, die Gebote für den Umgang mit Mitmenschen aber missachtet. Die Beispiele dafür ließen sich endlos mehren. Bereits im Dekalog regeln sieben der zehn Gebote das menschliche Zusammenleben. Das für den Schabbat proklamierte Arbeitsverbot wird auch auf Familienangehörige und Fremde ausgedehnt und sichert so auch diesen einen Ruhetag. Respekt vor den Eltern und die Verbote des Mordes, des Diebstahls, des falschen Zeugnisses, des Griffs nach dem Besitz Anderer und des Ehebruchs – letzteres als Schutz der Familie –, diese Gebote schaffen eine moralische Grundlage, die bis heute für die ganze Menschheit Geltung hat. Natürlich würden wir heute vieles anders formulieren, die Kerngedanken aber sind die gleichen. Religionen vertreten auch weitere wichtige Werte. Ganz ausdrücklich hat bereits das Judentum, um ein herausragendes Beispiel zu nennen, die Befugnisse der Machthaber begrenzt. Auch Könige – also die Staatsgewalt – müssen sich an das Recht halten. Der Mensch ist gehalten, sich in die Ordnung des Kosmos und der Natur einzuordnen. Religion also als ein Bollwerk gegen Tyrannei und Überheblichkeit? Ja. Auch das gehört zu den Werten, die wir dem Glauben entnehmen können.

Nun höre ich schon den Einwand, Diktatoren beriefen sich ebenfalls gern auf Gott. Gewiss. Vor Missbrauch ist nichts geschützt. Allerdings darf man nicht verkennen, dass die monotheistische Religion, wie sie vom Judentum postuliert wurde, in den Beziehungen zwischen Herrscher und Volk eine tiefe moralische Revolution bewirkt hat – eine Revolution, aus der wir bis heute schöpfen. Laizisten haben also keinen Grund, der Religion gegenüber moralische Überlegenheit zu empfinden. Kann man da aber nicht auf formale Gebote der Religion verzichten? Etwa auf die Beschneidung? Kann man nicht, gehören doch auch diese Gebote zu den Stützpfeilern des Glaubens. Zum einen verankern sie die Regeln für den Umgang mit Mitmenschen in der Autorität Gottes. Dieses zusätzliche Gewicht hilft uns, der Versuchung unethischen Handelns zu widerstehen. Zum anderen helfen sie Angehörigen der jeweiligen Religion, ihre Identität zu wahren. Das ist nicht bloß "erlaubt". Es ist eine essenzielle Vervollständigung des menschlichen Daseins. Ein Mensch braucht die Gruppenidentität für seine persönliche Entwicklung. Es ist die Kombination von Identitätsstiftung und zwischenmenschlichen Werten, dass uns Religion zu einem ausgewogeneren, in Selbsterkenntnis verankerten, moralisch richtigen Leben verhelfen kann. Das bedeutet natürlich nicht, dass nur fromme Menschen moralisch richtig handeln, doch kann der Glaube als Gesamtkonstruktion dabei eine wichtige Richtschnur sein. Wer alles Rituelle in der Religion als einen Ausdruck der Primitivität ablehnt, verkennt diese Komplexität.

Ist die weitverbreitete Ablehnung der Religion aber nicht eine verständliche, ja zwangsläufige Folge der abnehmenden Religiosität innerhalb der Mehrheitsgesellschaft? Ist es nicht natürlich, dass gebürtige Christen, die in immer größeren Scharen Kirchen fernbleiben, jeglicher Religion ablehnend gegenüberstehen? Nein, es ist weder natürlich noch akzeptabel. Menschen, die in einer demokratischen Gesellschaft das Recht in Anspruch nehmen, ihr Leben nach einem nicht religiösen Kompass auszurichten, haben kein Recht auf einen Kreuzzug gegen den Gottesglauben. Die Religionsfreiheit muss auch von ihnen respektiert werden. Es ist ironisch, dass manche Menschen, die sich wegen ihres Unglaubens für besonders aufgeklärt halten, so intolerant sind. Antireligiöse Voreingenommenheit ist kein Nachweis fortschrittlicher Gesinnung.

Ich stimme mit der Auffassung überein, dass Religionsgemeinschaften in Deutschland im Kampf gegen Vorurteile und Feindseligkeit Schulter an Schulter stehen müssen. Durch Dialog und gegenseitigen Respekt sollten sie zudem mit gutem Beispiel vorangehen, ihre gemeinsamen Werte gemeinsam vertreten und das Unterschiedliche nicht zum Ausgangspunkt eines Streits werden lassen. Das reicht aber nicht aus. Die Gemeinschaft des Respekts und der Toleranz darf nicht nur Religiöse, geschweige denn nur Träger religiöser Ämter umfassen. Es gilt vielmehr, auch Menschen in das Gespräch einzubeziehen, die sich nicht als gläubig definieren, den Werten gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Akzeptanz aber verpflichtet sind. Für Laizisten ist es keine Schande, den weitgehend religiösen Ursprung der heute als verbindlich anerkannten menschlichen Moral anzuerkennen. Umgekehrt sollten Vertreter der Religionen keinen moralischen Alleinvertretungsanspruch erheben. So dürfen und sollten wir unsere Gesellschaft – zwar nicht ganz in Goethes Sinne, wohl aber mit Goethes Worten – fragen: "Wie hast du’s mit der Religion?" Eine ehrliche Klärung dieser Frage tut not.

Geb. 1968; Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland K.d.ö.R.; Direktor des Büros des European Jewish Congress in Berlin; Mitglied des Board of Governors im World Jewish Congress. E-Mail Link: info@zentralratdjuden.de