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Individuum und Kirche: Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft! - Essay | Religion und Moderne | bpb.de

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Individuum und Kirche: Ohne Zutrauen und Vertrauen in die Menschen keine Anziehungskraft! - Essay

Sabine Demel

/ 8 Minuten zu lesen

Mehr Meinungsfreiheit und weniger Gehorsamsforderungen, mehr Bereitschaft zum Dialog miteinander und weniger Verordnungen von oben, mehr Freiraum in der persönlichen Entfaltung und weniger willkürlich anmutende Verbote, kurzum: mehr Beteiligung aller Betroffenen nach den demokratischen Prinzipien der Repräsentanz und Delegation durch Wahlen – so oder so ähnlich lauten die Dauerforderungen, die allenthalben zu hören sind. Sie werden für das Vereinsleben ebenso gefordert wie für die Strukturen in den Gewerkschaften und Parteien oder das Engagement in religiösen Gemeinschaften. So kontinuierlich sie zu hören sind, so konsequent scheinen sie von den Verantwortlichen dieser Organisationen nicht wahrgenommen zu werden. Der Preis, der dafür gezahlt wird, sind zunehmend mangelnde Bereitschaft zum Engagement und sinkende Mitgliederzahlen. Kirchen, Vereine und auch Gewerkschaften klagen darüber. Einerseits sind es Bischöfe, Vereinspräsidenten und Gewerkschaftsvorsitzende müde, auf die negativen Entwicklungen in ihren Reihen angesprochen zu werden. Andererseits sind es viele Mitglieder der religiösen Gemeinschaften, der Vereine und Gewerkschaften leid, stets darauf aufmerksam machen zu müssen, dass Individualität und Personalität, Subsidiarität und Solidarität sowie ein partnerschaftliches Miteinander zur jeweiligen Grundidee der Kirchen, Vereine und Gewerkschaften gehören. Viele fordern das, was modern als Ermächtigung oder Empowerment bezeichnet wird und Formen der Machtausübung meint, die nicht lähmend, sondern förderlich wirken – Machtstrukturen, bei denen die Fäden der Macht nicht nur in eine Hand oder nur in wenige Hände gelegt werden, sondern in möglichst viele und miteinander vernetzte Hände.

Trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen religiösen Gemeinschaften, Vereinen und Gewerkschaften scheinen sie doch alle an dem gleichen Grundproblem zu leiden: die "lähmende Selbstwidersprüchlichkeit", die zwischen ihrer Grundidee und ihren konkreten Strukturen besteht und bislang nur bedingt wahrgenommen und abgebaut ist. Wie solche lähmenden Selbstwidersprüchlichkeiten aussehen und wie sie abgebaut werden können, wird im Folgenden am Beispiel der katholischen Kirche aufgezeigt. Für die Wahl der katholischen Kirche sprechen vor allem zwei Gründe: Zum einen beansprucht die katholische Kirche, Sakrament, also Zeichen und Werkzeug des Heils für die Welt zu sein. Das bedeutet, auch vorzuleben, wie das Gemeinschaftsleben so zu gestalten ist, dass es sowohl dem Willen Gottes als auch den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Zum anderen gibt es keine andere (religiöse) Organisation, die so systematisch und differenziert strukturiert ist wie die katholische Kirche. Das hat den Vorteil, nicht nur eine "gläserne", sondern eine klar sichtbare Decke benennen zu können.

In der katholischen Kirche besteht die lähmende Selbstwidersprüchlichkeit vor allem in der Diskrepanz zwischen der Rede von der "kirchlichen Gemeinschaft" und der "Teilhabe aller an der Sendung der Kirche" auf der einen Seite und der vielfachen Erfahrung auf der anderen Seite, dass es in den entscheidenden Momenten des kirchlichen Lebens nur bedingt Miteinander, kooperative Arbeitsweise oder Beteiligung an Entscheidungsprozessen gibt. Entscheidungen verlaufen einseitig von oben nach unten: vom Papst über die Bischöfe zu den Pfarrern und dem Rest der kirchlichen Gemeinschaft. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Pastorale Raumplanung 2025 im Bistum Augsburg. Ohne Rücksprache mit den diözesanen Gremien, ohne Befragung der Gläubigen und ohne Beteiligung von Repräsentanten des diözesanen Gottesvolkes hat hier der Bischof jüngst festgelegt, wie 2025 die pastorale Struktur der Diözese auszusehen hat, dass ab sofort Sonntags nur noch Eucharistiefeiern und keine Wortgottesdienste (die von Laien geleitet werden) mehr stattfinden dürfen und dass die Pfarrgemeinderäte ab sofort kein beschließendes Stimmrecht mehr haben.

Kritikerinnen und Kritiker mahnten an, dass kirchliche Lebensformen und kirchliche Aktivitäten, für die sich viele in der Kirche jahrelang mit Leib und Seele engagiert haben, vom Diözesanbischof einfach zur Seite geschoben wurden. Viele Kirchenglieder, Laien wie Priester, Hauptamtliche wie Ehrenamtliche fühlten sich dadurch nicht ernst genommen und in ihrer eigenen Verantwortlichkeit nicht anerkannt. Hinzu kam, dass bewährte Formen der Mitwirkung wie Wahlen und Mitbestimmungsrechte zurückgedrängt und die Rolle des Priesters ausgeweitet wurden. In einem Interview erklärte dazu Bischof Konrad Zdarsa: "Kirche ist keine Demokratie. Das ist leider ein Missverständnis. Sondern wir sind ausgerichtet auf Christus. Jeder hat seine Aufgabe, seinen Dienst, und den darf er nicht durchführen aus Selbstherrlichkeit oder Machtbewusstsein, sondern im Dienst an Christus und den Gläubigen." Daher möchte Bischof Zdarsa mit den Gläubigen über die getroffenen Regelungen auch einen Dialog führen.

Doch Dialog ist mehr als ein "Drüber reden", erst recht mehr als ein Gespräch im Nachhinein. Dialog ist auch nicht einfach nur eine Methode oder Strategie im Umgang mit kritischen Stimmen. Dialog ist vielmehr die Haltung der Offenheit, die Haltung der Neugierde und die Haltung des Verstehen-wollens des und der anderen. Im offenen Dialog lassen sich Gesprächspartner so aufeinander ein, dass sie die jeweils anderen zu verstehen suchen und vom anderen her die eigenen Sichtweisen beurteilen. Auf diese Weise des Miteinanders und des aufeinander Einlassens können sich neue Blickwinkel eröffnen und gemeinsame Auffassungen und Perspektiven einer Problemlösung entwickeln.

Die Alternativen zum Dialog lauten: Monolog und Alleingang. Doch das ist unkirchlich und entspricht nicht dem Wesen der katholischen Kirche. Denn der Gott des christlichen Glaubens, der Lebensgrund der katholischen Kirche, ist das Urbild des Dialogs. Ja, mehr noch: Dieser Gott selbst ist der Dialog. Schließlich hat sich dieser Gott den Menschen als der dreifaltige Gott geoffenbart, der eine permanente Dialoggemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist. Deshalb kann auch die Kirche, als die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, nichts anderes sein als eine permanente Dialoggemeinschaft – eine permanente Dialoggemeinschaft aller Kirchenglieder mit Gott und untereinander. Wenn und wo Kirche das nicht ist, wenn und wo Kirchenglieder nicht dialogfähig oder nicht dialogwillig sind – egal, ob es sich dabei um Laien, Kleriker oder Bischöfe handelt –, wird sie sich selbst untreu, verrät sie sich selbst in einer zentralen, ja wesentlichen Dimension ihres Kirche-Seins und gerät so in die genannte "lähmende Selbstwidersprüchlichkeit".

Zutrauen und Vertrauen

Viele sehen das Hauptproblem der katholischen Kirche darin, dass ihr auf der Leitungsebene das Vertrauen und das Zutrauen fehlt, Menschen in der Kirche nicht nur mit-helfen, sondern sie wirklich mit-wirken zu lassen und ihnen Verantwortung zu übertragen. Wo vertraut und zugetraut wird, fangen Menschen an, zu handeln und im Tun zu entdecken, dass sie vieles können, dessen sie sich nicht bewusst waren. Wo es aber an Vertrauen und Zutrauen fehlt, da wird nur zugelassen, was überwacht werden kann. "Wo aber im größeren pastoralen Raum nur zugelassen wird, was auch kontrolliert werden kann, wird der Raum groß und das Leben gering sein." Deshalb wird es zu einer (Über-)Lebensfrage der Kirche werden, ob es ihr tatsächlich gelingt, dass in ihrem Leben und Wirken Vertrauen und Zutrauen selbstverständlich werden. Das kirchliche Selbstverständnis erfordert es, den Gläubigen vor Ort die Fähigkeit und die Möglichkeit zuzutrauen, in einem ihnen übertragenen Bereich wirklich selbstständig ihr Handeln zu verantworten – Verantwortung freilich nicht nach selbst gemachten Spielregeln, sondern nach den Spielvorgaben des Bischofs; denn schließlich ist der Bischof der letztverantwortliche Leiter, der gute Hirte, der Diözese, dessen Aufgabe es ist, alles, was die Gläubigen tun, zu einer Einheit – nicht: Einheitlichkeit – zusammenzuführen.

Diese Aufgabe des Bischofs stellen auch keine Kritikerinnen und Kritiker ernsthaft infrage. Was aber vielerorts eingefordert wird, ist, dass bei der Abfassung der bischöflichen "Spielvorgaben" zwei maßgebliche Grundregeln beachtet werden: die "Spielvorgaben" erst aufzustellen, nachdem er sich den Beteiligten mit ihren Anliegen und ihren Perspektiven zugewendet hat, sowie bereit zu sein, "Spielvorgaben" dem Zusammenspiel der anderen anzuvertrauen. Werden diese Grundregeln missachtet, besteht die Gefahr, dass mittelfristig Autorität nicht im gemeinschaftsförderlichen, sondern gemeinschaftshemmenden Sinne ausgeübt wird. Autorität wird dann nicht mehr als Macht im Sinne von Ermächtigung der Gemeinschaft eingesetzt, sondern schlägt um in Macht im Sinne von Herrschaft. Konkret bedeutet das, dass die entscheidenden Akzente des kirchlichen Lebens vor Ort, die entscheidenden Akzente der pastoralen Ausrichtung, der Strukturen und der Aktivitäten nicht mehr einseitig und allein von übergeordneter Stelle festgelegt werden dürfen, sondern stärker in Zusammenarbeit mit den Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort entwickelt werden müssen. Denn nur in Zusammenarbeit kann vermieden werden, dass Fähigkeiten, die vorhanden sind, nicht entfaltet werden können, und umgekehrt Fähigkeiten abverlangt werden, für welche die Eignung fehlt. Vielmehr entsteht die Chance, dass allmählich ein Raum für gegenseitiges Vertrauen und Zutrauen wächst, für gegenseitiges Anerkennen und Beteiligen an Planung und Verantwortung, für ein koordiniertes und effektives Miteinander zum Wohle der Kirche.

Ob positiv bei der aktiven Beteiligung des gesamten Gottesvolkes angesetzt und dessen Ermächtigung (Empowerment) ernst genommen wird, ob eher kritisch bei der Problematik des mangelnden Dialogs seitens kirchlicher Autoritäten angesetzt wird, das Ergebnis ist dasselbe: Ohne Veränderung, ohne Umverteilung von Verantwortung auf der Basis von Vertrauen und Zutrauen geht es nicht. Was Zutrauen und Vertrauen bewirken können, lässt sich in eindrucksvoller Weise an der Einrichtung der Telefonseelsorge ablesen. Viele kennen sie, immer mehr Menschen nehmen sie in Anspruch, und die Nachfrage, dort ehrenamtlich mitarbeiten zu wollen, boomt nach wie vor.

Im Unterschied zu den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften, in Abhebung zu den Vereinen und Gewerkschaften kann die Telefonseelsorge seit Jahrzehnten einen nicht nur gleichbleibenden, sondern sogar ansteigenden Trend an ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verzeichnen. Seit die Telefonseelsorge in den 1960er Jahren in Deutschland als gemeinsam getragenes Unternehmen der katholischen und evangelischen Kirche eingerichtet wurde, ist das Interesse, dort unentgeltlich mitzuarbeiten, sehr groß. Woran liegt das? Was ist das Erfolgsrezept der Telefonseelsorge? Fragt man bei den Verantwortlichen der Telefonseelsorge nach, erhält man meistens folgende Antwort: wertschätzende Anerkennung jedes Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin in ihren Fähigkeiten, geistliche Anleitung, selbstständige und verantwortungsvolle Tätigkeit, regelmäßig organisierte Gemeinschaftspflege in zeitnahen Abständen und vielseitig strukturierte sowie qualifizierte und anspruchsvolle Fortbildungsangebote mit persönlichem Gewinn für die Einzelnen. Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften, Vereine und Gewerkschaften könnten hier in die Schule gehen, um ihre lähmenden Selbstwidersprüchlichkeiten zwischen ihrer Grundidee und ihren konkreten Strukturen mehr und mehr zu überwinden und so wieder Attraktivität auszustrahlen, die zur Mitgliedschaft und zum Engagement einlädt.

Dr. theol. habil., geb. 1962; Professorin für Kirchenrecht an der Fakultät für Katholische Theologie, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg. E-Mail Link: sabine.demel@theologie.uni-r.de