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Politische Aufarbeitung des "Deutschen Herbst"

Dr. Wolfgang Kraushaar Wolfgang Kraushaar

/ 5 Minuten zu lesen

Im Jahr 1987 stellte die Fraktion der Grünen eine Große Anfrage an die Bundesregierung, um nach offenen Fragen und politischen Lehren aus dem "Deutschen Herbst" zu fragen.

1987 setzten sich "Die Grünen" erstmals für einen direkten Dialog mit ehemaligen RAF-Mitgliedern ein: die damalige Sprecherin der Grünen-Fraktion Waltraud Schoppe (Mitte) auf einer Diskussionsveranstaltung mit Christoph Wackernagel und Astrid Proll. (© AP)

Die Schleyer-Entführung war vermutlich die größte innenpolitische Herausforderung, die die alte Bundesrepublik erlebt hat. Sie war jedoch zugleich auch eine Sonde, mit der die Belastbarkeit und Stabilität der zweiten deutschen Republik ausgelotet worden ist. Die im Herbst 1977 durchlebte Krise war eine Art Lackmustest der parlamentarischen Demokratie. Die RAF ist in diesem Zusammenhang – wie das der Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß einmal ausgedrückt hat – der Seismograf und nicht das Erdbeben gewesen, für das sie sich irrtümlicherweise hielt.

Während des 44 Tage dauernden Ausnahmezustandes wurde schmerzhaft deutlich, wo die Bundesrepublik im Zweifelsfall stand: mit einem Bein in einem autoritären Regime, das sich nur dadurch von einer Diktatur unterschied, dass es von einer fraktionsübergreifenden Exekutive getragen wurde. Mag das in dieser Deutlichkeit auch seitens der opponierenden Abweichler im Bundestag niemand zum Ausdruck gebracht haben, so hat die Fraktion der Grünen zehn Jahre später die Ansicht vertreten, dass die Bundesrepublik den damaligen Test "auf die Haltbarkeit der demokratischen Errungenschaften" ganz "eindeutig nicht bestanden" habe.

Das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung sei von den damals politisch Verantwortlichen – namentlich genannt werden Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl – "vollkommen überschätzt" worden. Die Grünen-Fraktion nahm einen Jahrestag zum Anlass, um auf einer Fraktionssitzung nach den "offenen Fragen" und den "politischen Lehren" aus dem Deutschen Herbst zu fragen. Der 13. Oktober 1987 war der Tag, an dem sich die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" von Palma de Mallorca nach Mogadischu zum zehnten Mal jährte.

Mit den Abwehrmaßnahmen, die von der Bundesregierung unter dem Eindruck einer kollektiven Hysterie getroffen worden wären, seien rechtsstaatliche Errungenschaften, die nach der Erfahrung mit der Bedrohung individueller Freiheitsrechte durch den totalitären Staatsapparat des Nationalsozialismus eingeführt worden waren, wieder suspendiert worden. Explizit genannt werden: die Einschränkung der Verteidigerrechte, die Verabschiedung des Kontaktsperregesetzes, das Versagen der parlamentarischen Kontrollmechanismen, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Ergreifung illegaler Abhörmaßnahmen.

In der Einleitung der von den Grünen vorgetragenen Großen Anfrage heißt es zu den staatlichen Reaktionen auf die Entführung Hanns-Martin Schleyers: "Der Große Krisenstab unter der persönlichen Leitung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt beschäftigte sich in Permanenz mit diesem Konflikt und fällte Entscheidungen, die weder durch die geltenden Gesetze noch durch die Verfassung gedeckt waren. Die Organe der Sicherheitsbehörden wurden aufgebläht und bekamen nie gekannte Vollmachten, auch in ihrer Einwirkung auf politische Entscheidungen. Rechtsstaatliche Prinzipien wurden außer Kraft gesetzt, das Parlament als Kontrollinstrument der Exekutive wurde entmachtet. Für die 'vierte Gewalt', die Presse, wurde eine weitgehende Informationssperre verordnet."

An den Antworten der von Kanzler Helmut Kohl geführten Bundesregierung, die nicht müde wird, die "besonnene und entschlossene Reaktion" des Krisenstabes sowie der Regierung seines Amtsvorgängers zu betonen, die im Übrigen allen rechtlichen Prüfungen standgehalten habe, ist bemerkenswert, dass die Möglichkeit einer Berufung auf den § 34 StGB hier noch einmal ausdrücklich eingeräumt wird: "Ein Rückgriff auf den Rechtsgedanken des rechtfertigenden Notstands kann jedoch ausnahmsweise dann in Betracht kommen, wenn der hoheitliche Eingriff in einer außergewöhnlichen, nicht vorhersehbaren und daher auch nicht im voraus regelbaren Situation zum Schutz höchster Rechtsgüter geboten ist. Ein derartiger Rückgriff scheide allerdings in Fragen eines Schutzes "geringwertigerer Rechtsgüter" aus.

Im Gegensatz dazu wird die Ergreifung staatlicher Maßnahmen zu einer Einschränkung der Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit ausdrücklich abgestritten. Eingeräumt wird lediglich, dass es während der Schleyer-Entführung "eine informationspolitische Selbstbeschränkung" gegeben habe, die mit den Medien "einvernehmlich" hergestellt worden sei. Und zu den in diesem Zeitraum wahrscheinlich ergriffenen Abhörmaßnahmen heißt es: "Die Fragen betreffen ein geheimhaltungsbedürftiges Verfahren, zu dem die Bundesregierung nicht öffentlich Stellung nehmen kann." Es ist ganz so, als würde sich die Bundesregierung in einer Angelegenheit, die mit dem Schutz der individuellen Persönlichkeitsrechte ein im Grundgesetz verankertes Grundrecht betrifft, auf eine Art Aussageverweigerungsrecht berufen wollen.

Auf die konkret zugespitzte Frage, ob eine Pressedarstellung zutreffend sei, der zufolge der Bundesnachrichtendienst während der Kontaktsperre im Hochsicherheitstrakt des Stammheimer Gefängnisses zur Überwachung aller Gespräche der dort einsitzenden RAF-Gefangenen Abhörgeräte eingebaut habe, heißt es im Kern bestätigend: "Der BND hat auf Ersuchen der zuständigen Landesbehörden von Baden-Württemberg technische Unterstützung für Amtshandlungen im Verantwortungsbereich dieser Behörde geleistet." Zur Einschränkung dieser besonderen Form der Amtshilfe wird hinzugefügt, dass der BND auf die Durchführung der Amtshandlungen "keinen Einfluß" gehabt habe.

Die Große Anfrage der Grünen ist von ihren beiden Abgeordneten Antje Vollmer und Christa Nickels vorgebracht worden. Von Vollmer geht zur selben Zeit auch eine gemeinsam mit dem Schriftsteller Martin Walser und dem Tübinger Theologen Ernst Käsemann getragene Initiative zu einem Dialog zwischen Staat und RAF aus. Mit einem von ihnen verfassten Brief wenden sie sich an Generalbundesanwalt Rebmann, Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) und alle noch einsitzenden RAF-Gefangenen mit der Bitte, Möglichkeiten zu einer politischen Lösung des Konflikts zu bedenken und auszuloten.

Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass sich die promovierte Theologin, die in der Studentenbewegung und zeitweilig auch in der maoistischen Liga gegen den Imperialismus aktiv war, kurz darauf in einem Zeitungsartikel stellvertretend für die gesamte 68er-Bewegung zu einer Mitschuld an der gefährlichen Situation während der Schleyer-Entführung bekennt: "Wir 68er aber waren verstrickt, auch schuldhaft und selbstzerstörerisch-schmerzlich. In den Schuhen unserer Väter wollten wir nicht gehen, sie brannten uns wie glühende Kohlen an den Füßen – aus Entsetzen über ihre Taten und aus Scham über ihr Nichtstun. Das ergab einen fatalen kategorischen Imperativ. Die RAF-Leute haben nur getan, was in vielen von unseren Köpfen als notwendige Radikalisierung während des Vietnamkriegs gedacht worden ist."

Mit diesem Eingeständnis machte sie deutlich, dass eine Auseinandersetzung um den Deutschen Herbst und dessen Folgen einseitig bleiben muss, solange sie neben den verfassungsrechtlich bedenklichen Elementen staatlichen Handelns nicht auch die Wechselbeziehungen zur radikalen Linken und deren nicht nur projektiven Konnex mit dem Terrorismus der RAF thematisiert.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Ausschnitt des Aufsatzes "Der nicht erklärte Ausnahmezustand" von Wolfgang Kraushaar. Erschienen in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg 2007.

Fussnoten

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Der promovierte Politologe Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Dort erforscht er Protest und Widerstand in der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden u.a. die 68er-Bewegung sowie die Rote Armee Fraktion.