Nationalsozialistische Filmpropaganda – filmisch dekonstruiert
Untertitel: Ein Kommentar zu Yael Hersonskis Film „Geheimsache Ghettofilm“
Der Film "Geheimsache Ghettofilm" wurde von zahlreichen Medien international gelobt, auch wurde das Werk mehrfach ausgezeichnet. Zugleich gab es auch Kritik an dem Film. Um eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Werk "Geheimsache Ghettofilm" zu ermöglichen und um die Diskussion in ihrer Gänze abzubilden, bietet das Dossier zwei Kommentare zum Film. Dabei kommen der Medienwissenschaftler Rainer Rother und der Historiker Dirk Rupnow zu sehr gegensätzlichen Bewertungen des Films.
Rainer Rother sieht in Hersonskis Arbeit die Re-Lektüre der Aufnahmen im Warschauer Ghetto von 1942. Diese Aufnahmen machte sie zum Material einer filmischen Untersuchung. Dafür wählte die Regisseurin neue Perspektiven, wie zum Beispiel die Kommentierung des Filmmaterials durch Zeitzeugen. "Geheimsache Ghettofilm" liefere eine definitive Veränderung der Haltung zu jenen Bildern aus dem Jahr 1942, so Rother.
Jeglicher Verwendung von Filmbildern, die im Nationalsozialismus und im Auftrag der Nationalsozialisten entstanden, stellt sich das Problem, dass dieses "Material" alles andere als neutral ist. In vielfältiger Hinsicht ist es mit Bedeutung aufgeladen, in spezifischer Weise geformt, durchaus kein simples Dokument.
Für Regisseure, die auf das im Bundesarchiv überlieferte Material aus dem Warschauer Ghetto aus dem Mai 1942 zurückgriffen und -greifen, lautete die Frage, ob mit dem in der eigenen Arbeit hergestellten Kontext, der neuen Montage, mit Kommentar und unterlegter Tonspur den Bildern aus nationalsozialistischer Produktion eine Bedeutung abgerungen werden könnte, die diesen im ursprünglichen Zusammenhang der eingesetzten filmischen Strategien (Einstellungswahl, Montage, Kommentar etc.) gerade nicht zugedacht wurde. Schließlich, ob diese Täterbilder in einer Weise lesbar gemacht werden könnten, die den abgebildeten Opfern nicht erneut stereotypen und hetzerischen Zuschreibungen unterwirft.
Der 2010 von Yael Hersonski realisierte Film "Shtikat Haarchion" (hebräischer Originaltitel, der deutsche Titel lautet "Geheimsache Ghettofilm", der US-amerikanische "A Film Unfinished") wählt angesichts der Bilder aus dem "Ghetto"-Film[1] eine völlig andere Perspektive, als sie bislang eingenommen wurde. Sie benutzt das Material nicht als Beleg für die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern sie befragt es auf die filmische Propaganda und auf mögliche Spuren von dieser nicht überformter oder deformierter Realität.
Erste Aufführungen des Films fanden im Programm internationaler Festivals statt – zunächst im Januar 2010 auf dem Sundance Film Festival, im Februar dann bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin, in der Sektion "Panorama". Das Besondere an diesem Film wurde von der Filmkritik erkannt, so schrieb die New York Times: "The director Yael Hersonski, using generous clips from the Nazi movie and excerpts from diaries written by ghetto inhabitants, illustrates how the original footage was carefully staged, as evident by multiple takes of some scenes. In one section a healthy-looking woman walks past two pitiful waifs with apparent indifference, and then she does so again."[2]
Einige Preise begleiten die Festivalkarriere des Films. Beim Sundance Filmfestival wurde 2010 die Cutterin Joëlle Alexis mit dem Preis für den besten Schnitt in der Kategorie "World Cinema Documentary Editing Award" ausgezeichnet. Ebenfalls 2010 erhielt Yael Hersonski den "Best International Feature Award" des International Documentary Film Festival in Toronto und die Writers Guild of America zeichnete die Regisseurin mit dem "Silverdocs Documentary Screenplay Award". Nach den Einladungen zu Festivals folgten Kinostarts in den USA (18. August 2010) und Großbritannien (30. Oktober 2010)[3], Fernsehausstrahlungen zum Beispiel bei Arte im Dezember 2010 und später beim MDR, SWR und anderen, schließlich die Veröffentlichung auf DVD unter anderem in den USA (März 2011), Deutschland (Mai 2011) und Großbritannien (November 2011).
"Mich interessierte die Essenz der Realität in diesen Bildern"
Yael Hersonski stieß eher zufällig auf das "Ghetto"-Material, jedoch mit einem spezifischen Interesse. "Ich suchte nach einem Beispiel von existierendem Filmmaterial, weil mir ein Projekt vorschwebte, in dem ich Found Footage in neuer Weise analysieren und überprüfen wollte", so Hersonski.[4] Ihr ursprünglicher Impuls war eher kinematographisch als historisch inspiriert und sie blieb ihm treu. Tatsächlich steht Hersonskis Film in der Tradition von Filmen, die "Found Footage" (in etwa "gefundenes Material", beschreibt das Filmgenre, das mit bestehendem Material anderer Filmemacher arbeitet) auf Entstehung und ästhetische Qualitäten hin analysieren, auch in der Nachfolge von Essayfilmen, in denen vorgefundene Bilder, Fotos oder bewegte Bilder, zum Ausgangsmaterial werden.Auf den Film beziehungsweise das Material von 1942 wurde sie dann von der Produzentin Noemi Schory hingewiesen. "Ich war wie elektrisiert davon. Etwas über das Filmemachen selbst darin bestürzte mich; es handelte sich nicht nur um das Aufsetzen der Kamera auf ein Stativ, um dann mit den Aufnahmen zu beginnen. Eine filmische Konzeption war sichtbar, ein Konzept, wie Großaufnahmen, Totalen und wie der Schnitt eingesetzt wurden."
Dieses Material provozierte Fragen, vor allem die nach der Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktion. "Mich interessierte die Essenz der Realität in diesen Bildern. Zum Beispiel: der Blick der gefilmten Menschen. So oft schauen sie in die Kamera. Und man hatte ihnen gesagt, wie sie sich verhalten, was sie tun sollten. Aber trotzdem: Diese Bilder zeigen, dass da noch etwas anderes ist, etwas, das allein ihnen gehört." Anders formuliert: Wo traditionell Kompilationen seit den ersten Werken dieses Genres (wie Esfir Shubs "Padenije dinastii Romanowych" – deutscher Titel "Der Fall der Dynastie Romanow", SU 1927, oder Leo Laskos zweiteiliger "Der Weltkrieg", D 1926/27) dem Material eine andere Bedeutung gaben, sucht Heronski nach "echten" Zeichen, die sich entgegen den Absichten der nationalsozialistischen Produktion in den Einstellungen niedergeschlagen hatten. Und sie macht die Inszenierung, in dem die Bilder 1942 einen vermeintlich eindeutigen Sinn erhielten, wieder nachvollziehbar.
Ihr Thema ist daher in erster Linie der Film – oder das nicht vollendete Material – aus dem Jahre 1942. Die ersten Kommentarsätze in "Geheimsache Ghettofilm" lauten: "Dies ist die Geschichte eines Films, der nie fertiggestellt wurde. Ein Film, der dem Dritten Reich als Propagandamaterial dienen sollte." Anhand der Fragen an diesen Film erschließt die Regisseurin die vermutlichen Intentionen der damals im Ghetto agierenden Filmemacher ebenso wie deren Blick auf die darin Gefangenen. Hersonski untersucht das Material.
Hersonskis Film ist ein Essay über die Aussagekraft propagandistischer Filmbilder, insofern kein Film über ein historisches Ereignis. Schon seine Gliederung setzt auf filmische Zeichen, nämlich Startband-Einzeichnungen, die jeweils den Anfang von Filmrollen identifizieren.[5] Hersonskis Arbeit stellt filmische Verfahren sozusagen aus, mit der Konsequenz, dass diese insgesamt weder unreflektiert gelten noch verwendet werden. Der Film "liest" ein überliefertes Material und die ihm angemessene Rezeption durch die Zuschauer ist ebenfalls die "Lektüre".