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Akteure in Migrationsregimen und das Aushandeln von Migration | Akteure im (inter-)nationalen (Flucht-)Migrationsregime | bpb.de

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Akteure in Migrationsregimen und das Aushandeln von Migration

Jochen Oltmer

/ 7 Minuten zu lesen

Wer als Migrant gilt, sich in einem Land unter welchen Bedingungen wie lange aufhalten darf – oder auch nicht – wird fortwährend (neu) ausgehandelt. Dabei spielen Migrationsregime eine wichtige Rolle. Aber was ist das überhaupt? Eine Einführung.

Gesellschaften handeln fortwährend neu aus, welche Bezeichnungen und Zuschreibungen für Menschen in Bewegung verwendet werden, wer als zugehörig gilt oder wem wenigstens ein Näheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnehmen. (© picture-alliance, Geisler-Fotopress | Ben Kriemann)

1. Einleitung

'Migration' oder 'Mobilität', 'Einwanderung' oder 'Zuwanderung', 'Flüchtlinge' oder 'Geflüchtete', 'Ausländer' oder 'Menschen mit Migrationshintergrund'. Eine Vielzahl von umkämpften Begriffen kennzeichnet das Sprechen und Schreiben über Migration und die auf unterschiedliche Weise bezeichneten und kategorisierten Migrant:innen. Solche Kategorien verweisen auf Vorstellungen über gesellschaftliche Hierarchien und (Nicht-)Zugehörigkeit, die sich beispielsweise an Erwartungen über Nützlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Eingewanderten orientieren. Begriffe sind weit mehr als nur eine Anzahl von Buchstaben. Denn mit Bedeutungen aufgeladen, beeinflussen sie die Wahrnehmung von Menschen in Bewegung und den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen. So macht es einen Unterschied, ob etwa ein Mensch, der eine Grenze ohne Visum überschreitet und Asyl beantragt, als 'Schutzsuchender' oder als 'illegale Migrantin' bezeichnet wird: 'Schutzsuchend' verweist auf eine Notsituation und den Bedarf an Unterstützung, 'illegal' hingegen auf kriminelle Aktivitäten.

Gesellschaften handeln fortwährend neu aus, welche Bezeichnungen und Zuschreibungen für Menschen in Bewegung verwendet werden, wer als zugehörig gilt oder wem wenigstens ein Näheverhältnis zugebilligt wird, wen sie als hilfs- und damit als schutzbedürftig wahrnehmen. Solche Aushandlungsprozesse können in rechtliche Regelungen, Gesetze und den Auf-, Ab- oder Umbau von Organisationen münden – d.h. Normen und Strukturen, die wiederum den Rahmen bilden für neues gesellschaftliches Aushandeln etwa über die Frage, wie homogen oder heterogen die Gesellschaft sein sollte oder ob eine Interner Link: Antidiskriminierungspolitik eher die Gleichheit aller Menschen betonen oder auf marginalisierte Lebenswirklichkeiten hinweisen sollte.

2. Gesellschaften handeln Migration und Flucht aus

Warum ist von Aushandeln und Aushandlungsprozessen die Rede? In der Interaktionsforschung und in der Verhandlungsforschung wird schon seit Jahrzehnten davon ausgegangen, dass Entscheidungen ausschließlich über den Ausgleich von Interessen von Akteuren im Modus von Verhandlungen möglich sind und als gemeinsam produziert (also als ko-produziert) verstanden werden können. Klassische Konstellationen, die die Verhandlungsforschung untersucht, beziehen sich auf Verhandlungen über zwischenstaatliche Abkommen, Tarifverträge, Gesetzesvorhaben, Koalitionen oder Verträge zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen. In all diesen Feldern vermag weder ein Akteur durch Machtentscheidung und Einsatz von Sanktionsmitteln sein spezifisches Interesse in vollem Umfang durchzusetzen, noch können die Akteure eine gemeinsame Perspektive durch eine Diskussion erreichen, deren Voraussetzung eine mehr oder minder ausgeprägte Ähnlichkeit von Interessen und das Streben nach einem Ergebnis im Konsens wäre.

Verhandelt wird also vornehmlich dann, wenn Herrschaftsträger, Machthabende oder Dominierende ihre Position nicht einseitig durchsetzen können oder wollen. In Verhandlungen sind die Akteure (untereinander) bekannt, ihre Zahl bleibt beschränkt, die jeweils formulierten Interessen werden gegenseitig als legitim verstanden und die Akteure agieren strategisch – das heißt, sie verfolgen bestimmte Interessen bewusst und geplant. Das Ziel der Verhandlungen wird in der Regel vorab oder zu Beginn festgelegt. Gemeinsam soll Handlungsfähigkeit hergestellt werden, und zwar zweck- und zielorientiert auf der Basis eines Ausgleichs von Interessen.

Von so definierten Verhandlungen lassen sich Aushandlungen abgrenzen. Bei Aushandlungen sind die Rahmenbedingungen erheblich offener, der Prozess selbst ist dynamischer: Die Interaktion bezieht sich zwar auf ein bestimmtes Thema mit Bezug auf eine konkrete Konstellation, wie beispielsweise den Umgang mit einer aktuell laufenden Fluchtbewegung, die eine Gesellschaft erreicht (zu denken ist etwa an die breiten Debatten Interner Link: um die Aufnahme von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik des Jahres 2015 unter Beteiligung zahlreicher Akteure). Allerdings sind nicht nur die behandelten Sachverhalte und die Bedeutung der verwendeten Begriffe Gegenstand der Aushandlung, sondern auch die Kommunikationsverhältnisse insgesamt. Weder die Form der Aushandlung ist festlegt noch die Zahl der teilnehmenden Akteure oder deren Verhältnis zueinander. Dass sich die teilnehmenden Akteure kennen, ist keine Voraussetzung – sonst wäre in einer Gesellschaft, in er sich im Allgemeinen die Allerwenigsten kennen, keine Aushandlung möglich. Dennoch ist der Prozess des Aushandelns keineswegs als vollkommen willkürlich und unabgrenzbar zu verstehen: Aushandlungen sind in der Regel gekennzeichnet durch stabile Akteurskonstellationen, Herrschafts- und Machtverhältnisse, die den ko-produktiven Prozess der Aushandlung steuern und die über hohe Gestaltungskapazitäten verfügen.

'Macht' lässt sich in diesem Sinne als ein soziales Verhältnis definieren, als eine Asymmetrie in sozialen Beziehungen. Diese kann sehr unterschiedliche Formen annehmen – mal ist sie auf eine längere Dauer ausgerichtet, mal tritt sie ad hoc auf, mal kann sie umfassend sein, mal auf einzelne Situationen und Konstellationen bezogen. 'Macht' wird fortwährend neu ausgehandelt. 'Herrschaft' ist demgegenüber verfestigte, verstetigte Macht, die insbesondere als institutionalisierte und formalisierte, auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Machtausübung verstanden werden kann. Vor allem Organisationen sorgen für Herrschaft als "Sonderfall von Macht", also für die (relativ) dauerhafte Durchsetzung der Asymmetrien, für deren Anerkennung, Aufrechterhaltung und für deren Sichtbarkeit. Mit dem Bezug auf Macht und Herrschaft kommt der Begriff der Migrationsregime ins Spiel.

3. Migrationsregime

Der Begriff 'Regime' leitet sich aus dem Lateinischen ab und verweist auf die 'Regierung', die 'Leitung'; das Verb 'regere' auf 'lenken', 'herrschen' und 'beherrschen'. Regime können als institutionalisierte Macht begriffen werden. So verstanden, sind Migrationsregime recht stabile Apparate der Produktion von Interner Link: Normen, Strukturen und Organisationen zur Beeinflussung von Interner Link: Migration. Sie sind durch institutionelle Akteure gekennzeichnet, die einen bestimmten Ausschnitt des Migrationsgeschehens fokussieren, Migrationsbewegungen kanalisieren und die (potentiellen) Migrant:innen kategorisieren. Jedes Migrationsregime hat eigene Organisationen, umfasst spezifische Regeln und Verfahren sowie Bedingungen und Formen des Sammelns von Informationen über auf bestimmte Art und Weise definierte Migrationsbewegungen bzw. Kategorien von Migrant:innen; und jedes Migrationsregime bewertet diese Informationen anders und vermittelt die Ergebnisse je verschieden zwischen institutionellen Akteuren, gegenüber (potentiellen) Migrant:innen und der Öffentlichkeit.

So lässt sich beispielsweise von einem internationalen Fluchtregime dort sprechen, wo der Interner Link: Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und nationale Regierungen (in Kooperation oder im Konflikt) weltweit Bewegungsmöglichkeiten und Lebensbedingungen von Schutzsuchenden gestalten. So ist es etwa 1998 im Kontext der Verabschiedung der UN-Leitlinien für Binnenvertriebene (Guiding Principles on Internal Displacement) geschehen.

Ein Migrationsregime kann größere Teile eines Kontinents umschließen, wie es beispielsweise aus dem Zusammenhang des 'Gastarbeiter'-Regimes von den späten 1940er bis Anfang der 1970er Jahre für Westeuropa bekannt ist. Bilaterale Anwerbeabkommen zwischen Herkunfts- und Ankunftsstaaten bildeten damals ein zentrales Element der Steuerung von Migrationsbewegungen; in den Ankunftsstaaten lassen sich weitreichende Aushandlungen insbesondere zwischen Ministerien, Unternehmen und Gewerkschaften ausmachen, in deren Rahmen Migration und Teilhabe der angeworbenen Arbeitsmigrant:innen gestaltet wurden. Migrationsregime können aber auch nur lokale Dimensionen haben, z.B. dann, wenn unter Beteiligung zahlreicher Organisationen (UNHCR, nationale Regierungen, regionale Behörden, Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen) vor Ort Regelungen ausgestaltet werden, welche Personen unter welchen Umständen in ein Interner Link: Flüchtlingslager aufgenommen und welche Rechte und Leistungen ihnen zugebilligt werden.

Die Interessen, Beobachtungsweisen, Normen und Praktiken solcher Organisationen bringen sehr unterschiedliche Begriffe und Kategorisierungen von Migrant:innen hervor, die die soziale, ökonomische, politische oder kulturelle Teilhabe am Zielort beeinflussen. Sie handeln vor dem Hintergrund spezifischer Fremdbilder und Stereotype gegenüber Menschen und ihren Bewegungen und verbinden mit ihnen bestimmte Erwartungen. Jedes Regime produziert, kategorisiert und bearbeitet 'seine' Migrationen jeweils verschieden.

Migrationsregime verfügen immer über zwei elementare und miteinander verflochtene Felder: 'Mobilitätsregime' verweisen darauf, inwiefern auf den Zugang zu bzw. die Abwanderung aus einem Staat oder einem Territorium Einfluss genommen werden kann. 'Präsenzregime' umfassen Normen und Praktiken der Einbeziehung bzw. des Ausschlusses von Zugewanderten in gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise Politik, Recht, Wirtschaft oder Erziehung. Präsenzregime rahmen mithin Interner Link: Integration, die als das permanente Aushandeln von Chancen der ökonomischen, politischen, religiösen oder rechtlichen Teilhabe verstanden werden kann.

4. Migrationsregime und das Aushandeln von Migration

Migrationsregime sind aufgrund der Bedeutung der Organisationen als Herrschaftsstrukturen bzw. Formen institutionalisierter Macht zwar in der Regel sehr stabil. Dennoch sind sie Teil und Gegenstand von Aushandlungen und deren spezifischen Dynamiken: Neue Themen werden aufgeworfen, Kompetenzen werden bestritten, neue Akteure treten mit neuen Positionen hinzu, neue Bündnisse zwischen Akteuren werden geschlossen, die dadurch Handlungsmacht gewinnen und in die Aushandlung einbringen. Mit der Aushandlung wird der diskursiv bearbeitete Gegenstand dann variabel, verschiedene Bedeutungen gewinnen unterschiedliche Relevanz. Die Aushandlung selbst verschiebt Grenzen des (Un-)Sag- und (Un-)Zeigbaren, führt oder zwingt auch Organisationen zu Handlungen.

In Aushandlungen um Migration können auch Migrant:innen eine erhebliche Bedeutung gewinnen. Sie bilden Konkurrent:innen in Konflikten oder werden umworben: (Potentielle) Migrant:innen reagieren auf restriktive Interventionen (z.B. Ab- bzw. Zuwanderungsverbote), auf Zwangsmaßnahmen (z.B. Ausweisung) oder auf Einwanderungsangebote (z.B. Anwerbung durch Unternehmen, Programme zur Gewinnung von Hochqualifizierten). Migrant:innen fordern also Migrationsregime individuell oder kollektiv heraus. Sie entwickeln Strategien, um in einem durch Herrschaftspraktiken und Identitätszuschreibungen geprägten Feld eigene räumliche Bewegungen sowie gesellschaftliche Teilhabe durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.

Migrant:innen verfolgen ihre eigenen Interessen und Ziele, verfügen über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital – mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume gegenüber dem Migrationsregime. So haben beispielsweise Hochqualifizierte oder 'Expats' (von einem multinationalen Unternehmen an einen anderen Unternehmensstandort im Ausland geschickte Mitarbeiter:innen) wesentlich größere Handlungsmöglichkeiten als politisch Verfolgte aus afrikanischen Staaten, denen es kaum gelingen wird, ein Visum zu erlangen, um einen europäischen Staat zu erreichen. Beobachten lassen sich zudem unterschiedliche Reichweiten und Wirkungsgrade im Wechselverhältnis von einerseits Normen, Strategien und Maßnahmen von Organisationen im Migrationsregime und andererseits Taktiken, Aktivitäten und Handlungen (potentieller) Migrant:innen. Auf diese Weise prägen, formen, (ko-)produzieren Organisationen und Migrant:innen in Konflikt und Kooperation das, was unter 'Migration', 'Flucht' oder 'Mobilität' verstanden und als 'Geflüchtete', 'internationaler Studierender' oder 'Hochqualifizierter' bezeichnet wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe beispielsweise für die Presseberichterstattung: Jung, Matthias/Niehr, Thomas/Böke, Karin (2000): Ausländer und Migranten im Spiegel der Presse. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag; oder zu Talkshows: Simon Goebel, Politische Talkshows über Flucht. Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse, Bielefeld: transcript 2017.

  2. Zum Begriff des Aushandelns siehe: Jochen Oltmer, Lernen als Aushandlung, in: Weiterbildung. Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends, 29. 2018, H. 6, S. 16–20; ders., Migration im Prozess gesellschaftlichen Aushandelns: Eine geschichtswissenschaftliche Verortung, in: Agnes Bresselau von Bressensdorf (Hg.), Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 31–47.

  3. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. Tübingen 1976, S. S. 541.

  4. Jochen Oltmer, Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 35. 2009, H. 1, S. 5–27.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jochen Oltmer für bpb.de

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Dr. phil. habil., geb. 1965, ist Apl. Professor für Neueste Geschichte und Migrationsgeschichte sowie Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.