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Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917 | Russlanddeutsche | bpb.de

Russlanddeutsche Geschichte Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917 Nationalitätenpolitik gegenüber der deutschen Minderheit in der Sowjetunion von 1917 bis zur Perestrojka Die "Deutsche Operation" Geschichte der Russlanddeutschen ab Mitte der 1980er Jahre Vom Kolonisten in Russland zum Bundesbürger Ankunft in Friedland Vor 100 Jahren: Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen Leben und Kultur der Deutschen im Ural und Sibirien nach der Deportation Leben und Kultur der Deutschen in der Kasachischen SSR nach der Deportation Kultur und Gesellschaft Spätaussiedler, Heimkehrer, Vertriebene Identität und Ethnizität Russlanddeutsche Migrationsgeschichte in kulturhistorischer Perspektive Russlanddeutsche in den bundesdeutschen Medien Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler in russischen Medien Russlanddeutsche Literatur Postsowjetische Migranten in Sozialen Netzwerken Russlanddeutsche Alltagsgeschichte Der "Fall Lisa" Russlanddeutscher Samisdat Abschnitt I: Einführung A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre) B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung C. Anmerkungen zu den Quellen Abschnitt II: Quellenteil Teil 1: Der Kampf um die Autonomie und für nationale und bürgerliche Gleichberechtigung Teil 2: Intellektueller Samisdat Teil 3: Kampf um die Ausreise aus der UdSSR nach Deutschland (BRD und DDR) Teil 4: Künstlerische und volkskundliche unzensierte Werke Abschnitt III: Lebensläufe einiger nonkonformer Aktivisten und Dissidenten Erich (Erhard) Abel Therese Chromowa Eduard Deibert Wjatscheslaw Maier Andreas (Andrej) Maser Ludmilla Oldenburger Friedrich Ruppel Friedrich Schössler Konstantin Wuckert Abkürzungsverzeichnis Redaktion

Von der Anwerbung unter Katharina II. bis 1917

Viktor Krieger

/ 13 Minuten zu lesen

Mit dem "Kolonistenbrief" von 1763 begann die Anwerbung von Siedlern, die vor allem im unteren Wolga- und Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden. Die Kolonisten kamen mehrheitlich aus den deutschen Gebieten. Sie wurden schrittweise zu treuen Untertanen des Zarenreichs. Nichtsdestotrotz wurde die deutsche Minderheit mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zunehmend unterdrückt.

Manifest oder Kolonistenbrief. (© Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Inv.Nr.: 2010/270)

Unter Russlanddeutschen sind hauptsächlich Nachkommen der handwerklich-bäuerlichen Einwanderer aus Zentraleuropa zu verstehen, in erster Linie aus den deutschen Kleinstaaten, die im 18. und 19. Jahrhundert zur Urbarmachung vor allem im unteren Wolga- und im Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden. Sie kamen in ein Reich, das im Laufe der territorialen Expansion seit dem 15. Jahrhundert sein Staatsgebiet um das 52fache vergrößerte und letztendlich ein Sechstel der Landfläche der Erde umfasste. Die Kolonisierung der eroberten und zum Teil unbewohnten Territorien stellte für den russischen Staat jahrhundertelang eine andauernde Herausforderung dar.

Erste Einwerbung von Siedlern für das russische Reich unter Zarin Katharina II.

Gemäß dem Vorbild anderer europäischer Mächte (Österreich, Preußen) entschloss sich die russische Kaiserin Katharina II., eine Politik der "Peuplierung" in Angriff zu nehmen. Unbewohnte und dünn besiedelte Gebiete sollten durch zuverlässige neue Untertanen besiedelt und bewirtschaftet werden. Die Anwerbung von ausländischen Kolonisten vollzog sich mit abwechselnder Intensität und unterschiedlichen geographischen Schwerpunkten fast ein Jahrhundert lang – ausgehend vom richtungweisenden Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763. Mit ihrem Manifest, das in mehrere Sprachen übersetzt und in ganz Europa verbreitet wurde, sicherte sie ausländischen Siedlern zahlreiche Rechte zu und versprach vielerlei Vergünstigungen: Fahrt zum gewählten Wohnort auf Staatskosten, unentgeltliche Zuteilung von Land, freie Steuerjahre, innere Selbstverwaltung, Befreiung von Militärdienst und militärischer Einquartierung, Berufs- und Religionsfreiheit, Recht auf Rückwanderung usw. Dem Manifest wurde ein Verzeichnis (Register) der "in Russland freien und zur Besiedlung bequemen Ländereien" in mehreren Gouvernements beigelegt.

Einwerbung vor allem in den deutschen Gebieten erfolgreich

Um die erforderlichen Einwandererzahlen zu erreichen, beauftragte die russische Seite ab 1764 verstärkt private Agenten (Anwerber, Berufer), die auf eigenes Risiko operierten und für jeden angeworbenen Kolonisten einen Festbetrag erhielten. Diese erhielten das Recht, mit potentiellen Interessenten individuelle Verträge zu schließen. Alles in allem warben sie fast die Hälfte aller bis 1774 nach Russland ausgewanderten Personen (insgesamt 14.960) ein. Es zeigte sich rasch, dass das Angebot der russischen Kaiserin vor allem in den deutschen Fürstentümern und freien Reichsstädten auf fruchtbaren Boden fiel: Nicht zuletzt die staatliche Zersplitterung und die schwache Zentralmacht verhinderten eine wirksame Unterbindung der Werbeaktivitäten.

Bis 1774, dem Jahr des Anwerbestopps, folgten 30.623 Ausländer den Versprechungen der russischen Herrscherin. Die meisten Auswanderer stammten aus Westfalen (27%), Hessen (17%), Preußen und Norddeutschland (18%), Sachsen (13%), aus dem Elsass, Baden und anderen deutschen Ländern. Kleinere Gruppen kamen aus der Schweiz, Holland, Schweden und Dänemark. Von Anfang an haben die zuständigen russischen Behörden die im Einladungsmanifest versprochene freie Ortswahl unterlaufen, vor allem wurde eine Niederlassung in Städten verhindert. Man lenkte die Einwanderer größtenteils in die Gegend um Saratow; dort entstanden auf beiden Seiten der Wolga 66 evangelische und 38 katholische Mutterkolonien. Unter den 1769 hier registrierten 23.109 Siedlern gab es 12.145 Männer und 10.964 Frauen bei einer Durchschnittsgröße einer Familie von 3,59 Personen. Erst nach 1775 verzeichnete man einen Bevölkerungszuwachs, und 1788 betrug die Gesamtzahl der Wolgakolonisten schon 30.962 Personen (15.607 Männer und 15.355 Frauen, Familiengröße: 6,47), um sich 1816 mit erfassten 60.746 Kolonisten beinahe zu verdoppeln (Familiengröße: 7,28). Zudem entstanden kleinere Siedlungsgruppen und einzelne Kolonien im Umkreis von St. Petersburg, im Gouvernement Tschernigow (heute in der Ukraine), in Livland, im Gebiet Woronesch (Riebensdorf) und unweit von Zarizyn, des gegenwärtigen Wolgograd (Herrnhuter-Kolonie Sarepta).

Deutsche Auswanderung nach Russland von 1763 bis Mitte des 19. Jahrhunderts. (bpb, mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Fortsetzung der Kolonisationspolitik mit ausländischen Siedlern unter Zar Alexander I.

Die Anwerbung von ausländischen Kolonisten wurde zu Beginn des 19. Jh. verstärkt. Dieses Mal war das Ziel Gebiete am Schwarzen Meer zu erschließen. Nach den Erfahrungen mit dem Siedlungswerk an der Wolga – man hat zunächst mehr auf die Anzahl, auf die Masse der Kolonisten und weniger auf ihre Eignung geachtet, deshalb hatten die dortigen Siedler große Anfangsschwierigkeiten gehabt – legte die Regierung nun strenge Auswahlkriterien an: Laut dem Erlass des Zaren Alexander I. vom 20. Februar 1804 sollte eine Einreise in erster Linie erfahrenen und vermögenden Landwirten sowie auf dem Land unentbehrlichen Handwerkern gestattet werden. Die Einwanderer kamen nun größtenteils aus Westpreußen (Mennoniten) und Württemberg, ferner aus Baden, dem Elsass und der Pfalz.

Im Gegensatz zum zusammenhängenden Ansiedlungsgebiet der Deutschen an der Wolga in einer fast menschenleeren Gegend kam es jetzt zur Bildung mehrerer Kolonistenbezirke und Einzelsiedlungen mit insgesamt 181 Mutterkolonien, die sich verstreut in der heutigen Südukraine, in Moldawien (ehem. Bessarabien) und im Transkaukasus in einer multinationalen Umgebung mit russischen, ukrainischen, tatarischen, georgischen u.a. Bauern befanden. In dieser Periode der ausländischen Kolonisation wanderten zwischen 50.000 und 55.000 Europäer, vornehmlich Deutsche, in das Russische Reich ein.

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu dem Siedlungswerk im unteren Wolgagebiet stellte die Emigration aus religiösen Gründen dar. Das betraf v.a. die Mennoniten aus dem Raum um Danzig und aus Westpreußen, die wegen ihrer religiös-pazifistischen Überzeugungen zunehmend wirtschaftlich bedrängt wurden und seit 1789 in mehreren Wellen nach Russland auswanderten. Eine andere Gruppe der religiösen Auswanderer bildeten die württembergischen Pietisten; letztere zogen in sog. Harmonien oder Verbindungen gen Osten, bis zum Kaukasus, um dort die "Wiederkunft Christi und die Aufrichtung seines tausendjährigen Reiches" zu erleben. Allein 1817 traten 5.508 Personen in 963 Familien aus Württemberg in mehreren Harmonien den beschwerlichen Weg nach Russland an, auf Schiffen (sog. Ulmer Schachtel) Donau abwärts, über Galatzbis nach Ismail und Odessa. Mehr als 1.000 Einwanderer, darunter zahlreiche Kleinkinder, starben unterwegs, v.a. in den Quarantänen beider letzten Städte, da etwa in Galatz die Pest herrschte. Ein Teil der Kolonisten blieb im südrussischen Raum; letztendlich gelang es 2.629 Personen oder ca. 500 Familien trotz behördlicher Widerstände in den Transkaukasus durchzukommen.

Familie Hummel im Kaukasus. Foto von 1863. (© Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Fotoalbum "Deutsche im Kaukasus" von Theodor Hummel, Berlin-Zehlendorf, 1933. Inv.Nr.: A6e HD 2395)

1819: Ende der planmäßigen Einwerbung von Ausländern

1819 beendete die Regierung offiziell die Einwerbung. Danach erfolgen nur noch vereinzelt Genehmigungen zu weiteren agrarischen Einwanderungen mit einigen – wenn auch wesentlich eingeschränkten – Privilegien, so etwa 1851 und 1859 für ca. 200 Familien preußischer Mennoniten, die Land im Gouvernement Samara an der Wolga zugewiesen bekamen. Auch nach dem Abschluss der Besiedlungs- und Urbarmachungspolitik mit ausländischen Kolonisten zogen zahlreiche agrarische Einwanderer ins Land, doch geschah es auf anderer gesetzlicher Grundlage und sie mussten sich auf eigene Kosten einrichten. Das betraf unter anderem die sog. Wolhyniendeutschen. Es handelte sich um deutsche Kolonisten aus den polnischen Gouvernements des Russischen Reiches, die dort seit dem 18. Jahrhunderts aufs Staats- oder Privatland im Rahmen des selbständigen polnischen Staates oder durch Besiedlungsmaßnahmen im Herzogtum Warschau bis 1815 und später angesiedelt wurden. Vor allem nach dem zweiten polnischen Aufstand 1863-64, angesichts der dort herrschenden innenpolitischen Spannungen, zeigten sie erhöhte Weiterwanderungsbereitschaft, vor allem in die westrussischen Gouvernements Wolhynien (als Siedlungsschwerpunkt), Podolien und Kiew. 1886 zählte man allein in Wolhynien schon 93.964 deutsche Bauern, die vorwiegend auf gepachtetem Land wirtschafteten.

Treue Untertanen des Zarenreichs mit Sonderverwaltung

Das gesamte Kolonisationsunternehmen mit ausländischen Bauern und Handwerkern verlief bis ins kleinste Detail unter Kontrolle und auf Anweisungen der russischen Regierung. Die Beamten bestimmten nicht nur die Standorte der künftigen Dörfer und ihre Gemarkungen, sondern erstellten auch Musterpläne für Siedlungen und einzelne Familienhöfe. Mit der Ablegung des Treueeides wurden die Kolonisten in den russischen Untertanenverband aufgenommen. Ihre Nachkommen fungierten somit bis zum Ende des Zarenreichs als russische Staatsbürger.

Durch einen neu geschaffenen Kolonisten-Stand wurden die Einwanderer von ihren russischen, ukrainischen oder tatarischen Nachbarn abgegrenzt und einer staatlichen Sonderverwaltung (Vormundschaftskanzlei) in St. Petersburg mit Fürsorgekontoren in Saratow und später in Odessa unterstellt. Die Einführung des Deutschen als Amts- und Schulsprache stellte ein nahezu unüberwindbares Hindernis zum Erlernen der russischen Sprache dar. Zum einen folgte es den Versprechungen im Einladungsmanifest, dass sich die Siedler ihrer Muttersprache in der Schule, beim Gottesdienst und in der Verwaltung bedienen dürfen. Zum anderen war es etwa bis Mitte des 19. Jh. eine gängige Praxis im russischen Vielvölkerreich, dass zahlreiche Ethnien ihre Muttersprache relativ frei sprechen und schreiben konnten. Und, schließlich, die sprachliche Abschottung der eingewanderten Europäer geschah von Amts wegen, um unter anderem den befürchteten Einfluss des Protestantismus und Katholizismus auf orthodoxe Bauern zu vermeiden. Ständische Schranken und konfessionelle Unterschiede spielten im Zarenreich ebenfalls eine stark trennende Rolle. Konfessionsverschiedene Ehen waren eine Ausnahme; Kinder aus Mischehen mit Russen mussten orthodox getauft und erzogen werden.

Schrittweise Anpassung der Neuankömmlinge

An der Wolga und im Schwarzmeerraum erwartete die Siedler aus Zentraleuropa eine fast baumlose Steppe, wo ein ausgesprochen kontinentales Klima mit extremen Temperaturschwankungen und geringen Niederschlägen herrschte. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Neuankömmlinge an die ungewöhnlichen klimatischen und Bodenbedingungen in ihren Wohnorten angepasst haben und eine den gegebenen Umständen angemessene Wirtschaftsweise entstanden ist. Neben eher ungünstigen Naturbedingungen machten sich die mangelnde Eignung vieler angeworbener Kolonisten und die planerischen Inkonsequenzen der russischen Behörden bemerkbar. Die hohe Sterblichkeit während des Transports zu den Ansiedlungsgebieten und in der Anfangszeit hemmte die demographische und wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinden sehr.

In den 1780er Jahren fand die wohl wichtigste Änderung in der inneren Agrarverfassung der deutschen Siedler an der Wolga statt: aus fiskalischen Gründen wurde der Übergang von dem im Gesetz aus dem Jahr 1764 vorgeschriebenen Minoratsrecht, d.h. dem erblichen und unteilbaren Landbesitz, zur russischen Umverteilungsgemeinde, dem sogenannten "mir", eingeleitet. Demnach trat nun die Gemeinde als Besitzer des Ackerlandes und der Weidewiesen auf. Dieser Landbesitz wurde entsprechend der Zahl der männlichen "Seelen" periodisch umverteilt. Naturgemäß verringerten sich mit wachsender Bevölkerungszahl die Landanteile der einzelnen Wirte, und so entstand eine breite Schicht von Mittel- und Armbauern, Bauern, die nur geringe Überschüsse produzierten und sich durch gewerbliche Nebenbeschäftigungen wie dem Erzeugen von Sarpinka (Baumwolltextilien) einen Zusatzverdienst aufbauen mussten. Nichtsdestotrotz entwickelte sich das deutsche Ansiedlungsgebiet an der Wolga zu einer der wichtigsten getreideproduzierenden Regionen im Russischen Reich.

Die im Schwarzmeergebiet angesiedelten Bauern durften das erbliche Eigentumsrecht behalten: das einmal zugewiesene Grundstück ging ungeteilt an nur einen Erben über. Diese Agrarverfassung brachte zahlreiche Landlose hervor, die sich gezwungen sahen, neues Land zu erwerben oder zu pachten. Andererseits entstand dadurch eine starke unternehmerische Schicht von exportorientierten Weizenproduzenten und Herstellern von landwirtschaftlichen Geräten.

Weitere Eingliederung in das russische Staatswesen

Die Niederlage im Krimkrieg (1853-1856) verdeutlichte den gravierenden gesellschafts-politischen Rückstand des autokratischen Russland und gab den entscheidenden Anstoß zu tiefgreifenden Reformen. Dabei handelte es sich in erster Linie um die Lösung der Bauernfrage und hier vor allem um das System der Leibeigenschaft, die eine wirtschaftliche und insgesamt gesellschaftliche Weiterentwicklung des Staates behinderte. Die Verkündung des kaiserlichen Manifests über die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft am 19. Februar 1861 führte in der Folgezeit zu einer Reihe von Maßnahmen, angefangen mit der Einführung der ländlichen Selbstverwaltung (Landschaftseinrichtungen, russ. semstwo) im Jahr 1864, der anschließenden Universitäts-, Presse-, Zensur- und Rechtsreform bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1874 – alles wichtige Schritte auf dem Weg zur Formierung eines modernen Staatswesens.

Nach und nach kamen alle Gruppen der Landbevölkerung mit besonderem Status unter die allgemeine Verwaltung, so 1871 auch die einstigen Kolonisten. Seither bildete die deutsche Landbevölkerung, nun offiziell als "Siedler-Eigentümer bzw. Ansiedler-Landbesitzer (ehemalige Kolonisten)" bezeichnet, einen integralen Teil des russischen Bauernstandes. Der Schriftverkehr mit den Behörden musste fortan zwar auf Russisch erfolgen, aber das Gemeinde- und Alltagsleben war davon kaum betroffen. Historisch gewachsene Kolonistenbezirke oder Landkreise – auf Russisch nun wolost genannt – mit mehreren Siedlungen blieben erhalten und besaßen nach wie vor einen hohen Grad an lokaler Selbstverwaltung. Der Unterricht in der Dorf- oder Kirchenschule verlief – trotz einiger Änderungen – weiterhin auf Deutsch und konfessionelle Schranken wirkten auch künftig trennend. All diese Umstände erklären die im Wesentlichen erhalten gebliebenen sprachlichen und kulturellen Merkmale der Ansiedler bis zum Ende der Monarchie.

Das Alltagsleben der Kolonisten

Das Alltagsleben der Kolonisten war von einer tiefen Frömmigkeit und religiösen Überzeugung geprägt. Die Pastoren und Padres genossen großes Vertrauen und Autorität im Siedlermilieu. Viele Einwanderer gingen aus religiösen Gründen nach Russland, was später nicht selten zu Gemeindespaltungen, zur Bildung von Stunden- und Brüderkreisen (auch unter den russischen und ukrainischen Bauern) und schließlich zur Ausbreitung des Baptismus und Adventismus führte. Das Schulwesen der deutschen Siedler war von Anfang an stark konfessionell geprägt; die Dorfschule bereitete die Jugendlichen in erster Linie auf die Konfirmation beziehungsweise Firmung vor. Bei allen Unzulänglichkeiten konnten diese kirchlichen Schulen den meisten Kindern das Lesen beibringen; von den Knaben wurden zusätzlich Schreibfähigkeiten und Kenntnisse im Rechnen erwartet. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstanden in den größeren Kolonien private und staatliche Knaben- und Mädchengymnasien, Real- und Kommerzschulen und andere Typen von Mittelschulen. Auf diese Zeit, vorzugsweise seit dem Übergang zur konstitutioneller Monarchie im Jahr 1905 ("Oktobermanifest"), gehen die Anfänge der schöngeistigen Literatur und der historischen Heimatkunde zurück. Zugleich erlebte das nationale deutschsprachige Presse- und Verlagswesen seine erste Blüte.

Abschaffung der Sonderverwaltung und erste Rechtsbeschränkungen

Die Abschaffung ihrer Sonderstellung hat die deutschen Siedler aus der erzwungenen Isolation befreit und damit eine ungeahnte wirtschaftliche und soziokulturelle Dynamik ausgelöst – man vergleiche nur die Bevölkerungszahl oder die Größe des Landbesitzes zu Zeiten der staatlichen Sonderverwaltung mit solchen aus dem Jahr 1914. Ihr gesamter Landbesitz wuchs von etwa 2,1 Millionen ha im Jahr 1864 auf ca. 8 Millionen ha. Fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte im damaligen Schwarzmeergebiet wurden von Betrieben in ehemaligen deutschen Kolonien oder solchen mit russlanddeutschen Inhabern hergestellt. In den Händen deutscher Siedler an der Wolga lagen wichtige Industriezweige wie die Mühlen- oder Textilindustrie. In der russischen Wein- und Cognacproduktion spielten die schwäbischen Kolonien im Transkaukasus eine beispielgebende Rolle.

Gerade diese rasanten Entwicklungen, vor allem im Schwarzmeergebiet, sowie eine schnelle Verbreitung des protestantischen Glaubens (Stundismus) unter der russischen und ukrainischen Landbevölkerung, gekoppelt mit der Angst vor militärischer und wirtschaftlicher Potenz des ebenfalls 1871 gegründeten Deutschen Reiches, führte an der Jahrhundertschwelle zu erbitterten Pressekampagnen gegen russische Staatsbürger deutscher Herkunft, zu hastigen Russifizierungsmaßnahmen und verschiedenen einschränkenden Bestimmungen.

Gründung von Tochterkolonien und erste Auswanderung nach Übersee

Von den kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschätzten 2,4 Mio. Deutschen im Russischen Reich zählten ungefähr zwei Drittel zu den Nachkommen der einstigen "ausländischen Kolonisten"; davon lebten etwa 550.000 an der Unteren Wolga und 530.000 im Schwarzmeergebiet, vornehmlich in den einstigen Kolonistenbezirken, ferner in Wolhynien, im Nordkaukasus und verstreut in einzelnen Siedlungen im ganzen Reich. Weitere 550.000 Deutsche wurden in polnischen Provinzen (damals im Russischen Reich), im Baltikum (Deutschbalten) und in den Städten (St. Petersburg, Moskau) gezählt.

Der Landmangel und das nach der Überwindung der Anpassungsschwierigkeiten zunehmende Bevölkerungswachstum führten zu fortwährenden Auszügen aus den Mutter- oder Altkolonien und zur Gründung von zahlreichen sog. Tochterkolonien, vorerst in den benachbarten Gebieten und seit 1882 verstärkt im Ural, in Sibirien und Zentralasien. Die mit der Einführung des Militärdienstes entstandene Auswanderungstendenz dauerte mit unterschiedlicher Intensität bis zum Ersten Weltkrieg und einige Jahre darüber hinaus an. Zielorte waren in all den Jahren bezeichnenderweise nicht das Herkunftsland Deutschland, sondern die USA, Kanada und lateinamerikanische Staaten (v.a. Argentinien und Brasilien). Dort konnten die vorwiegend bäuerlichen Ausreisewilligen billiges Land erwerben und darauf hoffen, ihre traditionelle Wirtschafts- und Lebensweise zu behalten und weiterzupflegen.

Russlanddeutsche Soldaten und Sanitäter an der Kaukasus-Front 1916. (© Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte/ Fotoarchiv Johann Funk)

Die Weiterwanderung bis hin zur Emigration stellte in der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit stets ein bewährtes Mittel dar, den als unzumutbar und bedrückend empfundenen sozioökonomischen oder politischen Bedingungen des Heimatortes bzw. -landes zu entkommen. Ein zusätzlicher, bei weitem nicht unbedeutender Nebeneffekt bestand darin, dass der Wegzug der ländlichen Überbevölkerung das gerade im ausgehenden Zarenreich aufkeimende soziale Konfliktpotenzial zu entschärfen vermochte. Auch aus diesem Grund nahmen deutsche Siedler in den turbulenten Jahren der ersten russischen Revolution 1905-1907 an den überall im Land aufflammenden Agrarunruhen kaum Anteil.

Herausbildung eines gruppenbezogenen Selbstverständnisses

Für die Aktivitäten in den ländlichen Verwaltungsorganen, eingeführt im Zuge der "Großen Reformen" der 1860er Jahre, waren die Erfahrungen der deutschen Siedler, die sie jahrzehntelag bei der Ausübung der Verantwortlichkeiten auf der Dorf- und (Amts)Bezirksebene gesammelt hatten, von herausragender Bedeutung. Nicht von ungefähr waren sie vor allem in den bäuerlichen Selbstverwaltungsorganisationen der Kreis-Semstwo stets überproportional vertreten. Dasselbe galt auch für die gemischtnationalen Amtsbezirke. Dies bot die Voraussetzung für verschiedene Amtsausübungen in Gouvernementsbehörden sowie als Abgeordnete bis hin zur Reichsduma (Parlament). Typisch war in diesem Sinne die Tätigkeit von Peter L(o)uck, der 1866 bis 1891 ohne Unterbrechung der Vorsitzende des Kamyschiner Semstwo-Kreis-Amtes im Gouvernement Saratow war. Als weiteres Beispiel kann Andreas Widmer aus Bessarabien angeführt werden, der mehr als drei Jahrzehnte in der Landschaft Akkerman wirkte und als Duma-Abgeordneter die Interessen seiner Landsleute im russländischen Parlament vertrat.

Insgesamt zeichneten sich die Deutschen in Russland durch ausgeprägte Zarentreue, Reichspatriotismus und Loyalität zu der vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung aus. Von der Führungsschicht des Staates wurden sie bis Ende des 19. Jh. als systemstabilisierend betrachtet. Beziehungen zu der Heimat der "Urväter" waren in dieser Zeit kaum vorhanden, und waren dann weniger politischer als vielmehr kultureller Natur. Vor allem die deutsche Muttersprache und die als deutsche Tugenden empfundenen Eigenschaften wie Fleiß, Sparsamkeit, Nüchternheit, Rechtschaffenheit, Ordnungsliebe und dergleichen galt es zu bewahren und weiter zu pflegen.

Unter den im Vergleich zur alten Heimat Deutschland völlig anderen politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen begann sich allmählich ein neues gruppenbezogenes Selbstverständnis herauszubilden. Das kennzeichnete vor allem die in einem kompakten Siedlungsgebiet lebenden Wolgadeutschen mit ihrem starken Zusammengehörigkeitsgefühl. Allerdings hatte sich im Zarenreich noch keine übergreifende nationale Identität herausgebildet; man nannte sich nach den jeweiligen geographischen Siedlungsgebieten etwa als deutsche Wolgakolonisten bzw. Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche (oder südrussische Kolonisten), auch Bessarabien- und Krimdeutsche, südrussische Mennoniten, Kaukasus- oder auch Wolhyniendeutsche. Nicht minder wichtig war die konfessionelle Zugehörigkeit; oft verstand man sich in erster Linie als Katholik, Lutheraner, Baptist oder Mennonit und nur dann eben als ein Deutscher.

Ungeachtet der sich besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts häufenden diskriminierenden Maßnahmen im wirtschaftlichen und sprachlich-kulturellen Bereich sowie einer wachsenden deutschfeindlichen Stimmungsmache führte das entstandene nationale Selbstverständnis und -bewusstsein der ehemaligen Kolonisten mit ihrer traditionell verwurzelten Hochachtung der Gesetzestreue und Pflichterfüllung zu einer eindeutigen Parteinahme zugunsten des Russischen Reiches im Ersten Weltkrieg: Zehntausende Schwarzmeer- und Wolgadeutsche kämpften als russische Soldaten an der Front gegen Deutschland und seine Verbündeten. Im Verlauf des Krieges mussten sie ungerechtfertigte Beschuldigungen über ihre angebliche Unzuverlässigkeit, ihren mangelnden Patriotismus oder sogar heimliche Sympathien mit dem Feind erdulden und wurden zusätzlich durch die gesetzlichen Schritte zur Liquidierung ihres Landbesitzes maßlos enttäuscht. Das führte zur enthusiastischen Begrüßung der bürgerlichen Februarrevolution 1917, die anstelle der Monarchie die demokratische Republik ausrief und alle nationalen und konfessionellen Beschränkungen aufhob.

Dr. Viktor Krieger wurde 1959 im Gebiet Dschambul, Kasachstan, geboren. Er studierte in Nowosibirsk und promovierte über deutsche Siedler in Kasachstan zur Zarenzeit an der Akademie der Wissenschaften in Alma- Ata. 1991 siedelte er nach Deutschland über. 1992-93 war er im Generallandesarchiv Karlsruhe beschäftigt. Zurzeit freiberuflicher Historiker und Lehrbeauftragter des Historischen Seminars an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext der multikulturellen und -konfessionellen Vielvölkerstaaten Russland und die Sowjetunion, insbesondere in Zentralasien seit Ende des 19. Jh. bis heute.