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"In der Coronakrise sind die Sanktionen eine Katastrophe für Iran" | Iran | bpb.de

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"In der Coronakrise sind die Sanktionen eine Katastrophe für Iran"

Bijan Khajehpour

/ 9 Minuten zu lesen

Iran ist besonders hart vom Ausbruch des neuartigen Coronavirus betroffen. Zum Missmanagement des Staates kommt das fehlende Vertrauen der Bürger hinzu, sagt der Wirtschaftsexperte Bijan Khajehpour. Das Gesundheitssystem leide unter den US-Sanktionen. Doch Washington sei nicht bereit, seine Politik zu ändern. In Iran droht eine Katastrophe.

Zunächst reagierte das Regime mit Verschwörungstheorien, als das neuartige Coronavirus auch in Iran ausbrach. Damit ging wichtige Zeit verloren, um die Pandemie einzudämmen. (© picture-alliance, Parspix/ABACA)

bpb.de: Iran trifft der Ausbruch des neuartigen Coronavirus besonders hart. Bislang gibt es über 2000 Tote und die Ausbreitung des Virus scheint rasch voranzuschreiten. Wie ist die Stimmung zurzeit im Land?

Bijan Khajehpour, Wirtschaftswissenschaftler und Publizist (© Eurasian Nexus Partners)

Bijan Khajehpour: Die Stimmung ist schlecht. Wir haben gerade persisches Neujahr gefeiert. Alle waren froh, dass das alte Jahr endete, denn es war ein schlechtes Jahr. Die Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, die US-Sanktionen nehmen zu, der Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine im Januar und so weiter. Februar und März sind in Iran eigentlich Monate der Erneuerung, aber nun ist die Stimmung sehr schlecht.

Vermutlich gab es in Iran den ersten Fall eines Corona-Infizierten am 19. Februar in der heiligen Stadt Ghom. Dort soll die Zahl von Erkrankten und Toten erheblich angestiegen sein. Internationale Medien veröffentlichten Satellitenfotos, die Massengräber zeigen sollen. Wie beurteilen Sie die Aufnahmen?

Das Foto, das Massengräber zeigen soll, halte ich für eine Übertreibung. Wenn man das Foto genau analysiert, dann sieht man einzelne Gräber – keine Massengräber. Man hat in Ghom diejenigen, die an Corona verstorben sind, separat begraben. Dafür wurden neue Bereiche innerhalb des Friedhofs geschaffen: Das zeigen die Satellitenfotos. Aber bislang gibt es keine Massengräber.

Warum werden Covid-19-Opfer getrennt begraben?

Man will damit die verschiedenen Angehörigen auf dem Friedhof voneinander fernhalten. Es geht um die Trennung der verschiedenen Trauernden und Angehörigen.

Es ist also eine Schutzmaßnahme. Und wie bewerten Sie das Krisenmanagement der iranischen Regierung insgesamt?

Der erste Corona-Infektionsfall ereignete sich vermutlich am 19. Februar. Am 21. Februar waren Interner Link: Parlamentswahlen in Iran. Man versuchte, das Ganze zu vertuschen, damit die Wahlen ganz normal stattfinden konnten. Manche hielten das Ganze sogar für eine Verschwörung, um die Menschen von den Wahlen abzuhalten. Die Wahlen sind ein Zeichen der Legitimität des Regimes: Wenn wenige zur Wahl gehen, zeigt das, dass es dem Regime an Legitimität mangelt.

Am Anfang gab es also Verschwörungstheorien und Vertuschungsversuche. Dass man nicht sofort reagiert hat, hat die Situation sicherlich verschlechtert. Aber woran Irans Regierung zurzeit generell scheitert, ist die Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in sie haben. Das Misstrauen geht zurück auf Ereignisse wie den Abschuss der ukrainischen Maschine durch Irans Streitkräfte im Januar dieses Jahres mit 176 Toten, der anfangs vertuscht wurde. Oder auf die Proteste im November 2019, die brutal beendet wurden. Die Gesellschaft vertraut der Regierung nicht, deswegen werden viele Maßnahmen nicht beachtet. Das heißt, in Iran gibt es ein generelles Missmanagement und hinzu kommt das fehlende Vertrauen der Gesellschaft: Beides macht die Krise noch viel schlimmer.

Zu Missmanagement und Misstrauen kommt ein politischer Machtkampf hinzu. Das religiöse Oberhaupt Irans, Ajatollah Ali Chamenei, hat General Mohammad Bagheri, Kommandant der Streitkräfte, quasi zum Krisenchef ernannt. Damit umging er Hassan Rouhani, den Präsidenten und Regierungschef. Rouhani und Bagheri haben zuletzt sehr unterschiedliche Signale gesandt: Bagheri sprach sich zum Beispiel für Ausgangssperren aus – im Gegensatz zu Rouhani. Wie findet Iran aus diesem Machtstreit heraus?

Wir hatten schon vor der Krise einen Machtkampf. Innerhalb der politischen Elite gibt es generell eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob man außen- wie innenpolitisch einen Konfrontationskurs fahren oder sich versöhnlich zeigen soll. In der Außenpolitik zum Beispiel gibt es die Gemäßigten, die durch Verhandlungen und Abkommen Herausforderungen managen wollen. Und es gibt jene, die allein auf militärische Macht setzen. Innenpolitisch ist es das Gleiche. Bei den Unruhen im November setzten die Hardliner auf Konfrontation und Gewalt. Sie wollten den Menschen zeigen: Wir sind bereit zu töten, um das Regime zu erhalten. Die Gemäßigten konnten sich nicht durchsetzen.

Diese Meinungsunterschiede gab es immer – und es ist nicht so, dass die eine oder andere Seite dominiert. Sie koexistieren, auch wenn das zu Konfrontationen führt. Das ist ein Problem, aber auch Zeichen für ein pluralistisches System.

Aber die Situation jetzt bedarf schneller Reaktionen. Im Moment scheint es, dass die Regierung versucht die Krise herunterzuspielen. Das scheint jedoch nicht zu funktionieren. Kippt im Moment die Stimmung in Richtung der Hardliner?

Die Gesellschaft ist genauso divers wie die politische Elite: Manche wären froh, wenn das Militär übernehmen und es eine Ausgangssperre geben würde – aber eben nicht alle.

Zum persischen Neujahrsfest hat Außenminister Mohammed Dschawad Sarif ein Video veröffentlicht. Darin sagt er ganz klar, dass sich nach der Coronakrise die Denkweise der Regierung ändern muss. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Außenpolitik Irans, aber indirekt spricht er auch über die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Die Hardliner wollen der Zivilgesellschaft keinen Raum lassen; sie wollen alles selbst kontrollieren. Doch die Gemäßigten wissen um das Potenzial der Zivilgesellschaft. Und das ist da: Es gibt im Moment viel und wichtiges zivilgesellschaftliches Engagement in der Krise. Das heißt, die Krise kann eine Öffnung für die Zivilgesellschaft bringen, das würde die politische Gleichung in Iran ändern. Aber die Stimmung kann auch in Richtung der Hardliner kippen. Wir müssen abwarten, was passiert.

Entscheidend wird auch sein, wie lange die Krise anhält. Je länger sie dauert, desto mehr wirtschaftliche Konsequenzen wird sie haben. Mehr Arbeitslosigkeit, mehr gesellschaftlichen Frust.

Nach dem versehentlichen Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine sprachen Sie von dem "Tschernobyl-Moment" der Regierung. Trifft das auch auf die aktuelle Krise zu?

Die Inkompetenz und Verunsicherung des iranischen Staates ist mittlerweile deutlich und klar – auch innerhalb der politischen Elite. Das zeigt eben auch das Video des Außenministers, in dem er sagt, dass Iran tiefe Veränderungen braucht. Ich kann mir gut vorstellen, dass jetzt viele Menschen innerhalb der politischen Elite Ähnliches denken. Nach dem Atomunfall von Tschernobyl und den Vertuschungsversuchen der sowjetischen Führung war es ähnlich: Man hat innerhalb der Elite angefangen nachzudenken, ob es richtig sein kann, was geschieht. Das war der Anfang vom Ende der Sowjetunion.

Das Gesundheitssystem des Iran war schon vor Ausbruch des neuartigen Coronavirus sehr schlecht aufgestellt, was auch mit den internationalen Sanktionen gegen Iran zusammenhängt. Am 17. März haben die USA klargemacht, dass sie an der Strategie des "maximalen Drucks" festhalten wollen und neue Sanktionen gegen Iran verhängt, wenn auch keine drakonischen. Warum reagieren die USA so?

In Washington gibt es eine relativ naive Denkweise bezüglich Iran. Viele wollen weiterhin einen Regimewechsel, doch Irans System und Gesellschaft sind dafür zu komplex und sein Regime zu resilient. Washington muss umdenken. Aber es fehlt die Bereitschaft für eine andere Politik.

Aber vielleicht gibt es jetzt erste Zeichen einer möglichen Veränderung und neuer diplomatischer Versuche. Iran hat am 19. März den US-amerikanischen Gefangenen Michael White freigelassen. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass Iran und die USA wieder erste Kontakte knüpfen. Und auch innerhalb der USA wächst der Druck. Etwa 25 Nichtregierungsorganisationen haben in einem Brief an Präsident Donald Trump gefordert, die Sanktionen gegen Iran für 120 Tage auszusetzen. [Anm. d. Red.: Zum Beispiel hat die NGO National Iranian American Council Externer Link: den Brief veröffentlicht.]

In der aktuellen Coronakrise sind die Sanktionen und ihre Auswirkung natürlich eine Katastrophe für Iran. Die US-Regierung sagt immer wieder, dass die Pharma-Industrie nicht sanktioniert wird – und das stimmt. Aber Tatsache ist, dass es durch die Sanktionen von Banken und Transportfirmen unmöglich ist, Produkte in den Iran zu exportieren – und das ist jetzt natürlich ein großes Problem.

Andererseits hat Ajatollah Chamenei bei einer Rede ein Hilfsangebot der US-Amerikaner abgelehnt. Schon Ende Februar hatte US-Außenminister Mike Pompeo Hilfe für Iran angeboten, jüngst bestätigte das auch Trump, sagte aber, Teheran müsse "darum bitten". Es ist klar, dass die politische Elite Irans kein Vertrauen in die USA hat – vor allem in die Trump-Regierung. Alles wird als Verschwörung angesehen, sogar die potenzielle Versendung westlicher Ärzte in den Iran. Das Problem besteht allerdings auf beiden Seiten: Irans politische Elite ist misstrauisch und die US-Regierung unehrlich, wenn es darum geht, Iran-Politik umzusetzen. Diese Unehrlichkeit wird auch klar in den Lügen und Übertreibungen, die über die Wirkung der US-Sanktionen auf die medizinische Versorgung im Iran verbreitet werden.

Das Gesundheitssystem war schon vor der Pandemie mangelhaft. Das könnte in der Coronakrise jetzt verheerende Folgen für die Erkrankten haben. Auf dem Bild bitten Personen aus dem Gesundheitssektor: "Bleibt zu Hause, wir bleiben für euch hier." (© picture-alliance, AA)

Welche Sanktionen müssten schnell gelockert werden, um Iran zu helfen?

Das Wichtigste ist, den Zahlungsverkehr zu ermöglichen. Es gibt Pharma-Unternehmen, die mit Iran Geschäfte machen wollen. Aber sie müssen fürchten, ihr Geld nicht zu bekommen. Die USA drohen nicht nur US-Unternehmen mit Strafen, wenn sie mit Iran handeln, sondern allen Einzelpersonen und Unternehmen, egal wo sie ihren Sitz haben. Hinzu kommt, dass viele der Banken auch in den USA operieren und vom US-Markt nicht ausgeschlossen werden wollen. Die US-Regierung müsste jetzt ein oder zwei europäische Banken von den Sanktionen befreien. Vorgaben wären möglich, welche Branchen oder Produkte bei Zahlungen mit Iran von Sanktionen befreit werden dürfen. Diese Banken könnten dann Geld zwischen Iran und internationalen Firmen transferieren.

Das andere Problem ist der Transport. Wenn man jetzt Güter in den Iran exportieren möchte, müssen das iranische Fluggesellschaften übernehmen. Wenn aber alle diese Fluggesellschaften sanktioniert sind, hat man ein Problem. Es gibt Waren, die für Iran bestimmt und auch schon bezahlt sind, die in China und Europa festhängen: Sie können nicht transportiert werden. Denn niemand will mit iranischen Fluggesellschaften kooperieren. Das heißt, Washington muss im internationalen Bankenwesen als auch bei den Fluggesellschaften Ausnahmen von den Sanktionen machen.

Auswirkungen der Sanktionen auf Irans wirtschaftliche Entwicklung (1995-2019) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Nach dem Interner Link: Wiener Atomabkommen von 2015 kam von der Europäischen Union das Versprechen, Irans Wirtschaft mit anzukurbeln. Das ist nicht passiert – das war auch immer wieder ein Vorwurf aus Teheran. Was kann die EU jetzt konkret tun?

In den letzten Monaten hat sich Europa im Grunde lächerlich gemacht. Europa hat es immer noch nicht geschafft, den Zahlungsmechanismus INSTEX operativ zu machen. Es gibt eine Firma und Personal, aber es gibt keine nennenswerten Transaktionen. INSTEX ist dazu gedacht, Exporte europäischer Unternehmen direkt mit iranischen Ausfuhren zu verrechnen. Das sollte die Geldtransferfrage klären. Über INSTEX könnte Iran Arzneimittel tauschen.

Die Initiative der Europäischen Union, medizinische Produkte im Wert von 20 Millionen Euro über die Weltgesundheitsorganisation an Iran zu senden, ist lobenswert. Aber es muss mehr gemacht werden, um die Beziehungen zwischen Iran und der EU aufrechtzuhalten.

Europa muss es schaffen, Washington zu zeigen, dass die USA nicht alles bestimmen können. Zum Beispiel hat Iran beim Internationalen Währungsfonds einen Kredit angefragt. Das erste Mal seit 60 Jahren. Und das steht Iran zu – es ist genauso ein Mitglied des IWF wie alle anderen Länder. Aber die US-Regierung stellt sich quer. Die Europäer müssen jetzt dafür sorgen, dass Iran einen Kredit bekommt, zumindest einen Teilkredit. Aber in Europa fehlt die politische Courage. Das schadet auch Europa, denn so wird sich Iran mehr und mehr in Richtung Russland und China orientieren.

In Krisen hat sich wiederholt gezeigt, dass Irans Gesellschaft keine Einmischung von außen will. Kann sich das jetzt mit der Ausbreitung des Virus verändern? Es gibt Schätzungen aus Iran, die sagen, wenn die Krise anhält und der Höhepunkt erst im Mai erreicht ist, könnte es Millionen von Toten geben. Die Corona-Pandemie ist eine außergewöhnliche Situation – nicht nur in Iran. Kann sie einen Regimewechsel bringen?

Vor der Krise hätte ich gesagt: Das kann in Iran nicht passieren. Denn Irans politische Elite – aus allen Lagern – will keine Einmischung aus dem Ausland. Ich war selbst bis 2011 in Iran. Ich kann mich erinnern, dass wir Intellektuellen zu Beginn des neuen Jahrhunderts gesagt haben: Im 20. Jahrhundert hat man versucht, außerhalb Irans zu bestimmen, was im Land passieren soll. Jetzt wollen wir ein Jahrhundert, in dem wir selbst entscheiden, was mit uns passiert. Dieses Gefühl ist noch immer sehr stark.

Aber jetzt, wenn es wirklich soweit kommt, dass Millionen von Menschen in Iran sterben, bin ich mir nicht mehr sicher. Ich bin aber der Meinung, dass sich der Staat reformieren kann. Und ich rede bewusst vom Staat, denn die Regierung ist nur ein Teil des Staates. Der Staat wird sich anpassen und anpassen müssen, auch weil die politische Elite selbst verstanden hat, dass der Staat schlichtweg inkompetent und viel zu korrupt ist. Ich würde deshalb nicht von Regimewechsel sprechen, aber von einem Reformprozess in Iran in naher Zukunft.

Das Interview führte Sonja Ernst.

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Dr. Bijan Khajehpour ist Wirtschaftswissenschaftler und Geschäftsführer der Strategie-Beratungsfirma Eurasian Nexus Partners (Eunepa) GmbH in Wien. Er publiziert regelmäßig zu Themen aus dem Mittleren Osten und ist unter anderem Mitglied des Kuratoriums der European Middle East Research Group.