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Die Briten im Heiligen Land | Israel | bpb.de

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Die Briten im Heiligen Land 20. Jahrhundert

Michael Wolffsohn

/ 19 Minuten zu lesen

Zwischen London und Neu-Delhi liegt das Heilige Land. Für das britische Empire war es deshalb von strategischer Bedeutung.

Der britische General Allenby zieht 1917 mit seinen Truppen in Jerusalem ein. (© National Photo Collection Israel)

Schritt für Schritt hatte sich die britische Weltmacht dem Heiligen Land genähert: 1704 war im Spanischen Erbfolgekrieg Gibraltar erobert worden. Ab 1757 herrschte Großbritannien über Indien. Eine dauerhafte und zuverlässige Verbindung zwischen dem Mutterland und Indien musste nun hergestellt werden. So jedenfalls wollten es die politischen Entscheidungsträger in London. Und so geschah es im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte. In der Mitte zwischen London und Neu-Delhi lag das Heilige Land. Das war seine strategische Bedeutung für die Briten. Von verschiedenen Himmelsrichtungen pirschte sich der britische Löwe an das Heilige Land heran, um den Kreis immer enger zu schließen: 1800 wurde Malta erobert, 1839 Aden besetzt, 1875 wurden die Aktien des 1869 eröffneten Suez-Kanals erworben. Die Briten beherrschten Ägypten seit ihrer Besetzung des Landes im Jahr 1882. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren mit fast allen Kleinfürstentümern am Persischen Golf "Verteidigungsabkommen" geschlossen worden (1899 zum Beispiel mit Kuwait). 1907 teilten sich die Briten mit den Russen Macht und Einfluss im Iran. Anderen Staaten, zum Beispiel Deutschland, versuchte England den Einstieg und das Eindringen in die Region zu verwehren. So stieß der Bau der Bahnlinie von Berlin nach Bagdad auf erbitterten britischen Widerstand.

Endlich, so hofften die Briten, schien die Stunde des Osmanischen Reiches auch im Heiligen Land und in Arabien zu schlagen. Der Erste Weitkrieg brach aus. Großbritannien wollte im Nahen Osten noch mehr "Sicherheit" für den Weg nach Indien erreichen. Doch der Vorstoß in das Heilige Land gelang keineswegs schnell. Ganz im Gegenteil. Das angeblich so schwache Osmanische Reich präsentierte sich zunächst dank deutscher Hilfe militärisch recht erfolgreich. Damit hatte London nicht gerechnet. Nun suchte es Verbündete in der nahöstlichen Welt - und fand sie: die Araber.

Militärische Zeremonie britischer Soldaten zur Eroberung des Osmanischen Reiches. (© National Photo Collection Israel)

Die Araber waren zwar, wie die Türken, Muslime, aber die osmanische Herrschaft empfanden sie zu Recht als Fremdherrschaft. Selbstbestimmung verlangten auch sie. Die Anfänge des arabischen Nationalismus reichen in das 19. Jahrhundert zurück. Ihr Anliegen schien Unterstützung zu finden, denn Großbritannien suchte ihre Gunst.

Vor allem dem Wächter der heiligen islamischen Stätten in den Städten Mekka und Medina, dem Scherifen Hussein von der Familie der Haschemiten, versprachen sie ein unabhängiges arabisches Königreich. "Eine feste und dauerhafte Allianz" wollte London mit den Arabern angesichts des Weltkrieges begründen. Ihr angestrebtes Ergebnis formulierte der britische Hochkommissar in Ägypten. Sir Henry McMahon (am 24. Oktober 1915), im Auftrag seiner Regierung: "Die Vertreibung der Türken aus arabischen Ländern und die Befreiung der arabischen Völker vom türkischen Joch, das so lange auf ihnen lastete." Auch das versprochene Gebiet wurde in diesem berühmt-berüchtigten McMahon-Brief festgelegt. Bis heute streiten sich Araber, Briten und Juden sowie Historiker und Politiker darüber, ob auch Palästina den Arabern dargeboten werden sollte. Dieser Streit ist in doppelter Hinsicht müßig. Erstens sind für den, der den Brief liest und auf eine Karte schaut, die Grenzen eindeutig. Er erkennt, dass auch das Heilige Land zum versprochenen arabischen Gebiet gehörte. Müßig ist der Streit aber aus einem noch viel wichtigeren Grund: Die britische Regierung dachte nicht im Traum daran, das gegebene Versprechen auch zu halten.

Der militärische Beitrag des "Arabischen Aufstands" gegen die Türken, der am 5, Juni 1916 auf der Arabischen Halbinsel (nicht im Heiligen Land) begann, war für die Briten eigentlich bedeutungslos. Das rechtfertigt jedoch nicht ihre Irreführung. Wie betrügerisch und schamlos das den Arabern gegebene Versprechen der britischen Regierung war, können wir leicht beweisen. Fast gleichzeitig (1915/16) planten die Briten gemeinsam mit Russland, Frankreich, Italien und Griechenland eine ganz andere Aufteilung der erhofften osmanischen Beute. Wozu jedoch mit so vielen Rivalen teilen? fragten sich englische Politiker. Sie hatten auch eine Antwort bereit. Das britisch-französische Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916. Darin wurden das Heilige Land sowie Mesopotamien Großbritannien als Einflussgebiet weitgehend zugesprochen, Frankreich sollte den Libanon und Syrien erhalten. Alles gehörte damals freilich noch zum Osmanischen Reich. Damit nicht genug. Mehrfach hält besser, das war wohl die Devise der britischen Regierung. Denn am 2. November 1917 versprach sie auch den Zionisten das bereits vorher auch den Arabern angebotene und eigentlich stets sich selbst zugedachte Heilige Land. Dieses Versprechen ging als Balfour-Erklärung in die Weltgeschichte ein. Der damalige britische Außenminister Balfour fixierte es in einem Brief an Lord Rothschild: "Lieber Lord Rothschild, ich freue mich, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Sympathieerklärung für die jüdisch-zionistischen Bestrebungen mitteilen zu können, die dem Kabinett vorgelegt und von diesem gebilligt wurde. "Die Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk wird von der Regierung Seiner Majestät mit Wohlwollen betrachtet. Sie wird ihr Bestes tun, um das Erreichen dieses Zieles zu erleichtern, wobei unmissverständlich zu betonen ist, dass nichts getan werden darf, was die Bürgerrechte und religiösen Rechte der in Palästina lebenden nichtjüdischen Bevölkerung oder die Rechte und den politischen Status der Juden irgendeines anderen Landes nachteilig betrifft (...) Ich bitte Sie diese Erklärung der Zionistischen Föderation zur Kenntnis zu bringen."

Der Vordere Orient nach der Konferenz in San Remo (1920) (© Beck Verlag)

Bevor London das Osmanische Reich oder einige Reichsteile auch nur in Besitz nahm, handelte es wie der Eigentümer. Auf dreiste Weise versprach es allen alles und behielt es schließlich selbst. Widerrechtlich Angeeignetes wurde willkürlich, das heißt machtpolitisch verteilt. Getan wurde aber so, als verfüge man über sein Eigentum. Das verbündete Frankreich wurde mit einem kleinen Teil abgespeist, den es sich zudem ab 1920 den Arabern gegenüber militärisch, den Briten gegenüber mit harten politisch-diplomatischen Bandagen erkämpfen musste. Nach dem politischen Schurkenstück seiner Regierung und nach der siegreichen Schlacht um Jerusalem spielte der britische Eroberer Theater: Am 9. Dezember 1917 zog der englische General Allenby mit seinen Truppen in Jerusalem ein. Als er das Jaffa-Tor erreichte, stieg er von seinem Pferd ab, denn er wollte die Heilige Stadt als Pilger, nicht als Eroberer betreten. Ausgerechnet! Vor ihm lag die Heilige Stadt, hinter ihm seine bewaffnete Streitmacht, Den Anspruch, Pilger gewesen zu sein, machten dem General Juden und Palästinenser allerdings kaum streitig. Die jüdischen Einwohner begrüßten General Allenby begeistert, die Palästinenser freundlich. Aber erst im Herbst 1918 hatte der neue Besitzer das gesamte Heilige Land sowie Syrien und den Libanon militärisch im Griff. Der Todeskampf des "kranken Mannes vom Bosporus" war zäh und lang. Unter Zionisten und palästinensischen Nationalisten herrschte erwartungsvolle Spannung. Jeder hoffte, dass Großbritannien sie "befreien", ihnen Unabhängigkeit gewähren, ihnen das Land, ihr Land, das Heilige Land, ihr vermeintliches Eigentum überreichen würde.

Wieder hatten sich die Besitzverhältnisse im Heiligen Land geändert. Jetzt verfügte Großbritannien tatsächlich über das Land, als dessen Eigentümer es sich aufspielte. Ihren Coup ließen sich die Briten in bezug auf das mesopotamische Zweistromland sowie das Heilige Land (seit den Römern "Palästina" genannt) und die Franzosen in bezug auf Syrien und den Libanon vom Völkerbund am 24. Juli 1922 auf internationaler Ebene legitimieren. Diese Augenwischerei galt dann sogar als Völkerrecht. Es war ein Skandal, sowohl den Arabern als auch den Zionisten gegenüber. Siegerrecht war es. Als Völkerrecht wurde es verkauft. Der "völkerrechtliche"Begriff hieß "Mandat". Das Mandat war demzufolge eine Treuhandschaft. Treuhandschaften übernimmt man zum Beispiel über unmündige Menschen. Und genau als solche betrachtete die Völkergemeinschaft die Einwohner des Nahen Ostens, auch die Bewohner des Heiligen Landes. Erst wenn diese für die Unabhängigkeit "reif" wären, könnte man sie ihnen gewähren. Damit wurde ausgesagt, dass weder Großbritannien noch Frankreich gewillt waren, die Treuhandschaft eines Tages freiwillig aufzugeben. Vielmehr wollten sie ihre Mandatsgebiete in Kolonien umwandeln, mit Hilfe des Völkerrechts.

Im Grunde genommen gaben sich hierüber weder die politisch wacheren Zionisten noch die Palästinenser Illusionen hin. Über die Methoden, die Mandatsmacht wieder loszuwerden, stritten sie, sogar heftig. Man begehe nicht den Fehler, entweder alle zionistischen oder alle palästinensischen Gruppen und Parteien über einen Kamm zu scheren und ihre durchaus grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zu übersehen. Aber (abgesehen von Kollaborateuren) wartete jeder auf seine Chance - gegen die Briten. Die Zionisten wollten im Prinzip ihren Staat auf Kosten der Palästinenser, die Palästinenser ihren Staat auf Kosten der Zionisten verwirklichen. Natürlich wurden auch die Ziele nicht so ausgesprochen, und natürlich gab es in jedem der beiden Lager zwei Gruppen: die militanten "Falken" und die sanften "Tauben". Über das Ziel waren sich die jeweiligen "Falken" und "Tauben" einig. Über die Mittel gerieten sie in durchaus heftige Auseinandersetzungen.

Politischer als die Palästinenser dachten und handelten ganz gewiss die Zionisten. Das bedeutet, sie verloren ihr strategisches Ziel nicht aus den Augen, aber sie schlossen dabei taktische Kompromisse. Sie waren bereit und fähig, einen Schritt zurückzugehen, um dann zwei nach vorne preschen zu können. Die verantwortlichen zionistischen Politiker hatten erkannt, dass gegen die Großmächte oder gegen den jeweiligen Besitzer des Heiligen Landes (zunächst) nichts erreicht werden konnte. Die Mehrheit der zionistischen Politiker meinte nach dem Ersten Weltkrieg, dass sie mit England zunächst mehr erreichen könnten als gegen England. Erst allmählich wurde diese Politik auch innerzionistisch immer umstrittener. Viele Historiker sind sich uneinig, ob die Briten eine "prozionistische" oder "proarabische" Politik betrieben hätten. Auch dieser "Historikerstreit" ist (wie viele andere) müßig, denn die Antwort ist einfach: Die Briten betrieben britische Politik. Sie spielten dabei Zionisten gegen Palästinenser aus und umgekehrt. Sie wollten Palästina weder den Palästinensern noch den Juden geben. Sie wollten es behalten. "Teile und herrsche" heißt das grausame Spiel seit den Zeiten der Römer.

Das vom Völkerbund im Juli 1922 verabschiedete britische Mandat über Palästina bestand, grob gesprochen, aus folgenden Gebieten: dem heutigen israelischen Kernstaat in seinen Grenzen vor den Eroberungen des Sechstagekrieges, dem Ostjordanland, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Das Mandat wurde in diesen Grenzen Großbritannien im Juli 1922 zugesprochen. Aber bereits 1921 hatte die britische Regierung vier Fünftel des Mandatsgebietes abgezweigt; nicht für die Zionisten, nicht für die Palästinenser, sondern für die Familie der Haschemiten. Es war ein Akt der Wiedergutmachung -auf Kosten der Juden und Palästinenser. Oberhaupt der Haschemiten war im Jahre 1915 der Scherif Hussein. Ihm hatten die Briten einst Unabhängigkeit und auch die Herrschaft über das Heilige Land versprochen. Sie hatten es sich bekanntlich 1917/18 selbst genommen und behalten. Abfinden wollten sie die Familie des Haschemiten mit Syrien und dem Libanon. Das passte wiederum Frankreich nicht, und es vertrieb mit militärischer Macht im Juli 1920 den Emir Faisal, einen Sohn des Scherifen Hussein, aus Damaskus. Nun war London gefordert. Allzu offensichtlich hatte es die Haschemiten hintergangen. Emir Abdallahs ein anderer Sohn des Scherifen, stürmte mit seinen Truppen nach Norden, um Syrien für seine Familie von den Franzosen zu "befreien", was London verhindern mußte, um nicht auch noch mit Paris Ärger zu bekommen oder gar in einen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden.

Was tun? Mesopotamien behalten, es zum Königreich umwandeln und Faisal 1921 zum König des Irak küren. Das war die eine britische Antwort, die vor allem Kolonialminister Winston Churchill im März 1921 durchboxte. Als zweite Antwort bekam Emir Abdallah das Gebiet östlich des Jordan (Transjordanien) als Trostpflaster. Damit konnten die verständlicherweise aufbegehrenden Haschemiten zwar nicht befriedigt, wohl aber befriedet werden, zumal sie in ihrer Heimat (dem "Hedschas", also dem Westen der Arabischen Halbinsel) in einen Konflikt mit dem Hause lbn Saud stolperten. Sie verloren den Streit und damit 1925 ihre Herrschaft über den Hedschas. Neuer Herrscher war dort nun Ibn Saud, der dann sein Königreich "Saudi-Arabien" nannte.

Zurück zu den Haschemiten in Transjordanien, das sich 1921 in ein "Emirat" verwandelte, obwohl es immer noch zum britischen Mandatsgebiet Palästina gehörte. Von den Briten importiert wurde also die Herrscherfamilie dieses Emirats, das 1946 Königreich wurde (Königreich Jordanien). Die Zionisten bezeichneten diese Maßnahme als "erste Teilung Palästinas". Und auch die Palästinenser waren zu Recht empört. Ihnen hatte Winston Churchill einfach eine fremde Herrscherfamilie aufgepfropft. Sie war zwar islamisch, sie war auch arabisch, aber fremd blieb sie trotzdem - bis auf den heutigen Tag.

Der jordanische König Hussein (ein braver, sympathischer, tapferer und taktisch höchst geschickter Mann) ist der Enkel des ersten Emirs (später Königs) von Transjordanien. Wie klug er auch regiert, die Palästinenser bleiben ablehnend, weil sie keine Fremdherrschaft mehr wollen, auch keine arabische. Die Palästinenser stellten damals, und sind erst recht heute, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung (Trans-)Jordaniens. Heute sind sechzig bis fünfundsiebzig Prozent der jordanischen Bürger Palästinenser. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, wann sie sich dieser Fremdherrschaft entledigen. Es wird zwar bestritten, dass sie es planen, aber es wurde mehrfach versucht (zum Beispiel 1958 oder 1968 bis 1970). Die Haschemiten (und König Hussein) repräsentieren also seit 1921 eigentlich nur sich selbst und einige ihrer Günstlinge, nicht jedoch "ihr Volk". Sie haben keines, abgesehen von der traditionellen Unterstützung der ostjordanischen Beduinen und ihrer Nachfahren. Diese waren und sind nämlich sehr froh über jeden Partner gegen ihren palästinensisch-städtischen Rivalen. Die Entscheidung der Briten war schon im Jahr 1921 "reaktionär", denn sie sollte das Rad der Geschichte zurückdrehen. Und wer etwas zurückdrehen oder "zurückmachen" (lateinisch: reagere) will, ist "reaktionär". Churchill wollte im 20. Jahrhundert die alte Kabinettspolitik früherer Zeiten am grünen Tisch fortsetzen, ohne Rücksicht auf den Willen der Bevölkerungsmehrheit. Die Politik der Briten war nicht nur unmoralisch. Sie war bei näherer Betrachtung auch eine Verletzung des ohnehin brüchigen Völkerrechts, das in bezug auf das Heilige Land die politische Wirklichkeit zwar nicht immer verdreht, aber doch erheblich geschönt hatte.

Der Text des Mandats aus dem Jahre 1922, der sich mit dem Gebiet Transjordanien befasst (Artikel 25), besagt zum Beispiel: "In den Gebieten zwischen dem Jordan und der östlichen Grenze Palästinas ist die Mandatsmacht berechtigt, mit Zustimmung des Völkerbundrates, die Anwendung solcher Bestimmungen aufzuschieben oder aufzuheben, die sie in diesem Gebiet für nicht anwendbar hält." Die Briten konnten also in dem Gebiet tun und lassen, was sie wollten. Und sie wollten den Haschemiten gegenüber etwas Wiedergutmachung leisten: auf Kosten der Palästinenser und Zionisten. Dabei hatten sie sich doch im Vorspann (Präambel) der Mandatsurkunde verpflichtet, das den Juden gegebene Versprechen zu halten: "Die Mandatsmacht ist für die Verwirklichung der ursprünglich am 2. November 1917 gegebenen Erklärung verantwortlich." Damit ist die Balfour-Erklärung gemeint, also die "Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina".

Sollte dieses Versprechen nun gewichtiger sein als die übrigen, auch wichtiger als der politische Selbstbedienungsladen der Briten und Franzosen? Weit gefehlt, denn Artikel 25 entriss den Juden vier Fünftel des Geschenks, über das der Schenkende eigentlich nur Kraft seiner Macht verfügte, nicht Kraft seines Eigentumsrechtes. Wie wenig ernst es die Briten mit der "Errichtung der nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" meinten, bewiesen sie dann schon drei Monate nach Verabschiedung des Palästina-Mandates. Im Juni 1922 veröffentlichte Winston Churchill ein Weißbuch, darin heißt es: "Nicht Palästina als Ganzes sollte eine jüdische National-Heimstätte werden." Und außerdem: "Die jüdische Einwanderung kann nicht über der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes liegen." Und schließlich: "Ein Gesetzgebungsrat soll gegründet und durch möglichst allgemeine Wahlen bestimmt werden."

Das bedeutete, dass statt einer jüdischen Heimstätte (nicht Staat!) nun pro forma eine jüdisch-arabische entstehen sollte, keine nationale, sondern eine binationale, also eine Heimstätte für beide Völker. Herr im Haus wollte selbstverständlich Großbritannien bleiben. London verfügte und bestimmte im Namen des Völkerrechts, denn noch waren die Einheimischen für die Unabhängigkeit angeblich nicht "reif" genug, eine zynische Farce.

Die eingewanderten Zionisten waren erregt und verärgert, blieben aber in der Defensive, weil sie damals noch viel zu schwach für den Angriff (auf wen auch immer) waren. Sie mussten Zeit gewinnen, damit mehr Menschen kamen, die halfen, ihre Position zu stärken. Erregt waren auch die Gemüter der arabischen Welt, besonders der Palästinenser. Sie wollten nun endlich über sich selbst bestimmen, fühlten (und fühlen) sich als die Eigentümer des Heiligen Landes und erkannten deutlich, dass ihnen Gefahr drohte, entweder in Form britischer oder jüdischer Fremdherrschaft oder gar beides. Die Palästinenser gingen deshalb in die Offensive, und dabei waren sie schon damals brutal. Bereits am ersten Jahrestag der Balfour-Erklärung, am 2. November 1918, kam es in Jerusalem zu gewaltsamen antibritischen (und auch natürlich antizionistischen) Demonstrationen. Im April 1920 stürmte ein fanatisierter arabischer Mob während des Nebi-Mussa-Festes das jüdische Viertel in Jerusalem. Im Mai 1921 kam es besonders in der Hafenstadt Jaffa zu blutigen Unruhen. Nach Meinung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung handelten die Zionisten nämlich nicht nur im britisch-kapitalistischen Auftrag, sondern auch aufgrund kommunistisch-gotteslästerlicher Ideen. Ein seltsames politisches Gebräu wurde hier unterstellt, aber Ängste sind nicht unbedingt dem klaren Denken förderlich. Und dass sich die Palästinenser von allen Seiten bedroht und geprellt fühlten, muss man verstehen. Verstehen muss man aber auch den Ärger der Zionisten, vor allem der sozialistischen Zionisten, die doch alles so gut meinten und so schlecht machten -zumindest im Zusammenleben mit den Palästinensern. Diese verspürten jedoch weder das Bedürfnis, von den Engländern beherrscht, noch von den sozialistischen Zionisten "befreit" zu werden.

Das jüdische Volk (und damit auch sich selbst) wollten die Zionisten ebenfalls befreien, nämlich vom Leid der jahrhundertelangen Diaspora. Ort der Befreiung konnte ihrer Meinung nach nur das "Land der Väter" sein. Sie wollten ja nur Rückkehr, keine Eroberung, keine Landnahme wie vor rund dreitausenddreihundert Jahren, also wie in biblischen Zeiten. Die Gegner der sozialistischen Zionisten, die eher bürgerlich-rechtsnationalistischen "Revisionisten" unter Wladimir Jabotinsky (einer der geistigen Väter von Menachem Begin, Jitzchak Schamir und Ariel Scharon), gaben sich weniger Illusionen hin. Sie glaubten nicht an die Bereitschaft der Araber, sich von den Juden befreien zu lassen. Anzunehmen sei vielmehr, dass die Araber das Land, das auch sie als "ihr Land" betrachteten, energisch verteidigen würden. Verständlicherweise. Deshalb müssten die Zionisten, so Jabotinskys Rat, um ihr Gemeinwesen eine "eiserne Wand" errichten. Gegen sie würden die Araber zwar immer wieder anrennen, aber am Ende einsehen, dass dieser Sturmlauf der Wand besser bekomme als ihrem Kopf. Wie so oft, ist auch in bezug auf die sozialistischen Zionisten festzustellen: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, denn die Briten wollten Besitzer bleiben, und die Palästinenser hielten (und halten) sich, wie die Juden, für die wahren Eigentümer des Heiligen Landes. Der Konflikt war programmiert, unabwendbar, aber zunächst aufschiebbar.

Der Aufschub kam nach 1922 aus zwei Gründen. Erstens hatten die Briten ihre Machtstellung stabilisiert, und zweitens nahm die Zahl der jüdischen Einwanderer wieder ab. Nur in den ersten Wirren nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution der Kommunisten suchten Juden den Weg nach Palästina. Die meisten, die auswanderten, strebten ohnehin eher in die USA als in das Heilige Land. Deutlich wird hier ein typisches Muster der zionistisch-israelischen Geschichte: Nur eine Minderheit will nach Zion, die Mehrheit (sofern sie einen Ortswechsel vollzieht oder vollziehen muss) sucht die "Fleischtöpfe Ägyptens". Die Palästinenser konnten hoffen, die Briten sich freuen, und die Zionisten mussten bangen. Das währte nicht lange. Die Krise der Zionisten war 1928/29 überwunden. Es kamen wieder neue jüdische Einwanderer. Im Herbst 1929 begann die Weltwirtschaftskrise. Auch außerhalb des Heiligen Landes wurden die Fleischrationen kleiner.

In Deutschland hatte Judenhasser Adolf Hitler seine ab 1933 antijüdische, ab 1938 judenmordende und ab 1941 judenvernichtende Politik eingeleitet. Auch in Polen nahm der Antisemitismus Anfang der dreißiger Jahre (schon vor dem deutschen Einmarsch) dramatisch zu. Die meisten jüdischen Einwanderer, die ab 1932/33 in das Heilige Land kamen, stammten aus Polen, nur achtzehn Prozent aus Deutschland. Das war trotzdem ein neuer deutsch-jüdischer Rekord. Vorher hatten sich gerade die deutschen Juden für den Zionismus so gut wie gar nicht interessiert. Sie hatten ihn sogar mehrheitlich abgelehnt. Es gehe ihnen doch prächtig in Deutschland, hatten sie immer wieder verkündet.

"Weshalb sollen wir den polnischen und deutschen Antisemitismus ausbaden?" fragten die Palästinenser und gaben damit eigentlich schon die Antwort, Sie gingen von der Verteidigung zum Angriff über und veranstalteten im August 1929 vor allem in Jerusalem und Hebron Massaker an der dortigen jüdischen Bevölkerung. Meistens ausgerechnet an orthodoxen Juden, die bis in unsere Gegenwart ebenfalls den Zionismus bekämpfen. Selbst dieses grausame Gemetzel half den Palästinensern nicht, obwohl ein Bericht der britischen Regierung sich auf die Seite der palästinensischen Täter gegen die jüdischen Opfer stellte. Es kamen trotzdem noch mehr Juden nach Palästina. Von 1936 bis 1939 probten daraufhin die Palästinenser den Aufstand; zunächst nur gegen die Juden, dann gegen die Briten und Juden. Am Ende hatten sie militärisch verloren (trotz deutscher, das heißt nationalsozialistischer Waffenhilfe) und politisch gewonnen.

Politisch gewonnen hatten sie, weil der Zweite Weltkrieg nahte und Großbritannien Ruhe in Nahost brauchte. Unruhig aber waren die Araber, weil Großbritannien bis Anfang 1939 die Palästinenser blutig niedergerungen hatte. Auch in anderen arabischen Regionen, besonders in Ägypten und im Irak, meldeten sich die Befürworter eines nach Selbständigkeit strebenden Kurses immer energischer zu Wort. Selbständigkeit dieser Araber, das bedeutete: "Briten raus". Genau das wäre für London eine Katastrophe gewesen, denn der Nahe Osten war von größter strategischer Bedeutung. Im Krieg bestätigte sich diese Einschätzung, Die Briten mussten nun mit allen Mitteln die Araber auf ihre Seite ziehen, um sie als Partner im Kampf gegen Hitler zu gewinnen. Zumindest stillhalten sollten sie. Ein symbolträchtiger und wirksamer Schritt war für die britische Mandatsmacht die Einstellung der jüdischen Einwanderung nach Palästina. Am 17. Mai 1939 wurde diese Option amtliche Regierungspolitik, veröffentlicht in einem entsprechenden Weißbuch. Auch der Verkauf palästinensischer Böden an die Zionisten wurde verboten. Das Ende des Zionismus schien nah.

Der Zweite Weltkrieg begann, und damit auch der Holocaust. Britische Politik schien, angesichts der offenkundigen Not der Juden Europas, in Palästina versagt zu haben. Aber war das Ziel, Hitler zu schlagen, nicht so moralisch, dass diese Unmoral zu ertragen, ja sogar notwendig war? So zumindest argumentierte man in London (und Washington!) - auch während des Zweiten Weltkrieges, auch in Zeiten der millionenfachen Juden Vernichtung. Hitler habe unbeabsichtigt die Errichtung des Jüdischen Staates gefördert, immer wieder ist diese These zu hören. Durch die Wiederholung wird eine falsche Behauptung allerdings nicht wahr. Hier seien deshalb nur einige Punkte genannt, die für unseren Zusammenhang von Bedeutung sind.

  • Der Holocaust hat die Gründung Israels vielleicht beschleunigt, aber nicht ermöglicht.

  • Der Holocaust war für den Zionismus ein großer innerjüdischer Rechtfertigungsschub. Er bewies nämlich der bis dahin nichtzionistischen Mehrheit der Juden, dass der Zionismus recht behielt, weil er stets vor der Gefahr des mörderischen Antisemitismus gewarnt hatte.

Böse Zungen (auch von Historikern, besonders israelischen) behaupten, dass die zionistische Führung, an ihrer Spitze David Ben Gurion, absichtlich nichts gegen die Judenvernichtung unternahm, weil sie sich eben diesen Legitimationsschub erhoffte. Doch was hätten sie denn ihrerseits wirklich bewirken können? Andererseits wäre eine vollkommene Passivität ziemlich dumm, ja selbstmörderisch gewesen. Wenn überhaupt Juden freiwillig nach Palästina kamen, dann waren es die osteuropäischen. Und gerade sie waren Hauptopfer des Mordes an den Juden.

  • Die Befürworter der Gründung Israels beriefen sich nach 1945 als Rechtfertigung immer wieder auf den Holocaust, heißt es.

Aber wir müssen den Rückzug der Briten und die Errichtung Israels im welthistorischen Zusammenhang sehen - im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung. Was Afrikas wenig moderne Völker durch die Entkolonialisierung geschafft haben, hätten die wohlorganisierten Zionisten, die ihr Gemeinwesen seit 1882 zielstrebig entwickelten, doch auch erreicht; oder? "Wir haben die Zeche für den Holocaust zu zahlen", sagen viele Palästinenser. Ihr Groll über die Gründung Israels mag nachvollziehbar sein. Aber diese Begründung ist falsch. Schon 1937 gab es einen britischen Teilungsplan für Palästina, der durch das Weißbuch vom Mai 1939 zurückgenommen wurde. Trotzdem war der zionistische Zug längst abgefahren und brauste durch die politische Landschaft.

Der Grossmufti von Palästina wurde am 09.12.1941 von Hitler empfangen. (© Bundesarchiv, Bild 146-1987-004-09A, Fotograf: Hoffmann.)

In einer Hinsicht hatten die Palästinenser tatsächlich die Zeche für ein historisches Menü zu zahlen, das sie allerdings selbst zusammengestellt hatten. Wie manche arabische Nationalisten (zum Beispiel in Ägypten oder im Irak) hatten die Palästinenser im Zweiten Weltkrieg für Deutschland Partei ergriffen. Hilfe und Führung im Kampf gegen die britische Mandatsmacht hatte Palästinenserführer Amin el-Husseini (der Großmufti von Jerusalem) beim deutschen "Führer" gesucht, bei Adolf Hitler. Der fromme Mann aus dem Morgenland bot sogar aktive Unterstützung bei der Judenvernichtung an. Man vergesse nicht, dass deutsche Truppen vom Februar 1941 bis zum November 1942 in Nordafrika kämpften. Dort lebten viele Juden, und mit dem Transport nordafrikanischer Juden in die osteuropäischen Vernichtungslager war begonnen worden.

Diese Form der aktiven Zusammenarbeit war nach dem Krieg den westlichen Politikern weitgehend unbekannt. Entscheidend war für sie, dass sich die Palästinenser für die gegnerische Seite entschieden und sich damit als unzuverlässig erwiesen hatten. Trotzdem waren westliche Politiker (besonders in London) in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges gerne vergeßlich. Um den Vormarsch der Kommunisten "einzudämmen", konnte und wollte sich Großbritannien nicht den Luxus leisten, Moral vor Realpolitik zu setzen.

Moralisch verbunden fühlten sich die britischen Politiker den Zionisten gegenüber ohnehin nicht. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es im rechtszionistischen Lager laute Stimmen, die forderten, nicht nur offensiv gegen die Palästinenser, sondern auch gegen die Briten vorzugehen. Durchsetzen konnten sie sich mit dieser Forderung nicht, aber 1944 ließen sie sich nicht mehr bremsen. Im Jahre 1944 verkündete Menachem Begin mit dem von ihm geführten militärischen Arm der Revisionisten (dem "Etzel") die "Rebellion" gegen die Mandatsmacht.

Auch nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden weigerte sich die britische Regierung, einwanderungswillige Überlebende nach Palästina einreisen zu lassen. Die britische Sturheit erregte nicht nur die Zionisten, sondern auch die Öffentlichkeit in der westlichen Welt. Damit rechnete, darauf baute die zionistische Führung. Ein Flüchtlingsschiff nach dem anderen mietete sie, wohlwissend, dass die englische Marine sie vor der Küste des Heiligen Landes abfangen und in menschenunwürdige Internierungslager verfrachten würde. Ein Leckerbissen für antibritische und zugleich prozionistische Propaganda. Die Geschichte des Flüchtlingsschiffes "Exodus" kennt heute fast jeder; entweder aus dem Bestseller von Leon Uris oder aus dem nach diesem Buch entstandenen Film.

Die militanten Rechtszionisten unter Begin hatten die Briten regelrecht herausgebombt, die Linkszionisten hatten mehr die ebenso wirksame Propagandawaffe eingesetzt (siehe "Exodus"), auch die Palästinenser wollten die Briten lieber sofort aus dem Land abziehen sehen. In den USA empörte sich die Öffentlichkeit (und seit Oktober 1946 auch Präsident Truman) über Dummheit, Sturheit und Unmoral der Briten. Im Februar 1947 gab die britische Regierung auf. Sie überließ das Palästinaproblem der UNO. Die beiden alleingelassenen Konflikt-Parteien, die Zionisten und die Palästinenser, bauten nun, militärisch und diplomatisch, ihre Fronten weiter aus.

Michael Wolffsohn: Wem gehört das Heilige Land?
(c) 2002 Piper Verlag GmbH, München

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