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"Menschliche Werte einen, religiöse trennen!" | Israel | bpb.de

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"Menschliche Werte einen, religiöse trennen!" Interview mit Sari Nusseibeh

Sari Nusseibeh

/ 6 Minuten zu lesen

Der bekannte palästinensische Philosophieprofessor und Träger des Lew-Kopelew-Preises, Sari Nusseibeh, plädiert im Interview für eine pragmatische Lösung des Nahostkonflikts, insbesondere in der Flüchtlingsfrage – und erklärt, warum die Militarisierung der zweiten Intifada den Interessen der Palästinenser schadet.

Sari Nusseibeh. (© AP)

Israel hat jüngst sein 60. Gründungsjubiläum gefeiert. Wie haben Sie als Palästinenser dieses Ereignis aufgenommen?

Nusseibeh: Ich glaube nicht, dass die Zahl der Jahre Israels irgendeine Rolle spielt. Es ist ganz normal, dass man Geburtstage feiert, und das gilt auch für Israel. Allerdings ist für uns die "Nakba" die andere Seite dessen, was Israel als Unabhängigkeit feiert. Dieser Widerspruch wird bestehen bleiben, bis wir zu einem Ausgleich und zu neuen Beziehungen zwischen beiden Seiten kommen werden.

Glauben Sie, dass das Rückkehrrecht in seinem traditionellen Sinn 60 Jahre nach Beginn des Konflikts noch besteht?

Nusseibeh: Ich persönlich denke, dass die Rückkehr von Flüchtlingen ein Traum ist, der in absehbarer Zeit unerfüllbar bleibt. Vor allem ist er nicht in dem Sinne erfüllbar, dass ein Flüchtling in ein Haus zurückkehrt, aus dem seine Eltern oder Großeltern vertrieben wurden, denn die meisten dieser Häuser sind zerstört oder nicht mehr da, weil an ihrer Stelle Hochhäuser gebaut wurden. Es gibt aber ein juristisches Recht, dass wir beispielsweise Entschädigungen oder einen sonstigen Ausgleich für Vertreibungen einfordern können.

Die Lösung liegt meiner Ansicht nach darin, dass es zwei Staaten gibt und wir die Flüchtlinge materiell und moralisch entschädigen, indem wir ihnen ein neues Leben ermöglichen, statt dass sie sich an etwas klammern, was undurchführbar ist, nämlich eine Rückkehr im traditionellen Sinn. Wenn das Flüchtlingsproblem gelöst werden soll, müssten die Israelis dafür etwas opfern: Das gesamte Ostjerusalem, insbesondere die Altstadt und der heilige Bezirk, wäre der Preis für eine Aufgabe des Rechts auf Rückkehr. Ich denke, die palästinensischen Flüchtlinge wären zu einem solchen Verzichtsopfer bereit.

Sie hatten die Militarisierung der zweiten Intifada immer abgelehnt. Wie überzeugen Sie palästinensische Bürger vom Sinn eines gewaltfreien Widerstandes? Gibt es Beispiele dafür, dass Gewaltverzicht erfolgreich sein kann?

Nusseibeh: Ja, die Geschichte kennt viele Beispiele für die Verwirklichung politischer Ziele mit friedlichen Mitteln. Ich sage aber nicht, dass friedliche Mittel immer die einzig sinnvollen sind. Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß ist, dass die Anwendung von Gewalt uns in Palästina niemals genützt, sondern - im Gegenteil - immer nur geschadet hat.

Der Ausbruch der letzten Intifada zum Beispiel, die ich nur ungern so nenne, weil sie nie ein Volksaufstand war, gab Israel durch Selbstmordattentate eine Rechtfertigung zum Bau der Trennmauer, die nicht nur Dörfer zerschnitten hat, sondern auch künftige Verhandlungen erschwert. Durch diese Intifada stehen wir heute schlechter da als zu Zeiten von Camp David. Heute fordern wir ein Zurück in die Zeit vor September 2000 statt zu den Grenzen von 1967 und verlangen von den Amerikanern, dass sie Druck auf Israel wegen des Abbaus einiger weniger Hunderte Checkpoints ausüben. Unsere Verhandlungsposition ist bemitleidenswert, und ich glaube, dass wir uns selbst in diese Misere gebracht haben.

Bekanntlich unterstützt eine Mehrheit unter Israelis wie Palästinensern eine friedliche Lösung auf der Grundlage zweier Staaten. Welche Hindernisse stehen dieser Lösung entgegen?

Nusseibeh: Es gibt auf beiden Seiten keinen Konsens darüber, wie die Zweistaatenlösung aussehen soll. Ein anderer Faktor besteht in dem Widerstreit zwischen dem Willen der politischen Führung und der Dynamik der Entwicklungen. Die Geschichte wartet nicht auf Entscheidungen und Maßnahmen von Politikern. Zudem gibt es kein ausreichend ernsthaftes Interesse auf beiden Seiten, ja vielleicht steht diese Lösung gar nicht auf ihrer Tagesordnung und sie widmen den Versuchen, zu einer ernsthaften Lösung zu kommen, nicht genügend Zeit.

Besteht für dieses Jahr, trotz der Schwäche von Abbas und Olmert, noch die Chance für die Umsetzung der Vorschläge von US-Präsident Bush zur Gründung eines palästinensischen Staates?

Nusseibeh: Aus logischer Perspektive wäre es möglich, aber ich selbst erwarte es kaum. Wenn Abbas und Olmert sich über die Form der beiden Staaten einig würden, und ich glaube, dass sie jederzeit ein solches Abkommen unterzeichnen könnten, würden sie vor die Palästinenser bzw. die Israelis treten und ihnen erklären, dass dieses Abkommen beiden Seiten zugute kommt. Danach könnten beide Neuwahlen abhalten. Abbas würde das Abkommen zum politischen Programm der Fatah erklären, und auch Olmert würde seinen Wahlkampf damit führen. In diesem Fall würden mit Sicherheit beide wiedergewählt und könnten das Abkommen dann umsetzen. Ich sehe also keinen eisernen Vorhang, der einer Lösung im Wege stünde. Und ich glaube auch nicht, dass Olmert und Abbas trotz ihrer Schwäche keine solche Lösung finden könnten. Man ist je nachdem, was man tut, ein politischer Zwerg oder Riese. Würden also Olmert und Abbas so etwas hinbekommen, wären sie innerhalb von 24 Stunden in historischer Hinsicht politische Riesen. Aber können wir es erwarten? Leider scheinen beide zu zögerlich, und besonders Olmert ist in einer schlechteren Situation als zuvor. Deshalb wird diese Lösung vielleicht unwiederbringlich verloren gehen.

Welche Fehler haben die palästinensischen und arabischen Führer während der vergangenen 60 Jahre gemacht? Hat die palästinensische Führung tatsächlich Chancen zum Frieden verstreichen lassen, wie immer behauptet wird?

Nusseibeh: Mit Sicherheit hat sie das. Als beispielsweise 1917 Lord Balfour den Juden eine Heimstatt in Palästina versprach, demonstrierten und protestierten unsere Großväter. Stattdessen hätten die damaligen Notablen ein Flugzeug mieten und nach London fliegen müssen, um den britischen Außenminister Balfour zu sprechen. Man hätte diskutieren und eine palästinensische Diplomatie installieren müssen. Hätten sie das getan, hätten sie alles besser kontrollieren können. In den dreißiger Jahren gab es dann eine Blaupause für die Errichtung eines Staates auf der Gesamtfläche Palästinas, der je zu einem Drittel von Muslimen, Christen und Juden geführt werden sollte. Die Araber hätten also zwei Drittel gehabt, die Juden nur eines. Die Araber lehnten auch dies ab. Hätten sie zugestimmt, ständen sie heute besser da. Und so weiter. Jedes Mal verschlechterte sich ihre Situation auf Grund der unzähligen Fehler ihrer Führung zusätzlich. Es stimmt zwar, dass das Problem zur Hälfte durch die Besatzung hervorgerufen ist, aber die andere Hälfte hat historisch unsere Führung zu verantworten.

Wenn die Politiker keinen Frieden bringen können, können wir dann auf die Zivilgesellschaft in Israel und Palästina hoffen?

Nusseibeh: Ich glaube, dass dazu im Moment beide Seiten unfähig sind. Leider haben wir keine Situation, in der die Öffentlichkeit die Initiative ergreifen könnte, weil beide Seiten orientierungslos sind. Ich glaube aber, dass in mehreren Monaten oder Jahren eine neue Phase beginnen kann, in der auch die Straße auf beiden Seiten Druck ausüben kann.

Im Westen gibt es eine Debatte darüber, wie man mit den islamischen Bewegungen umgehen soll. Sollte der Westen mit ihnen sprechen und versuchen, sie politisch zu integrieren?

Nusseibeh: Ich denke, dass die islamischen Bewegungen untrennbarer Bestandteil der politischen und kulturellen Landschaft in der islamischen Welt sind. Warum sollten wir zum Dialog mit dem Judentum aufrufen und zugleich einen Dialog mit islamischen Bewegungen ablehnen? Dialog heißt ja nicht, die Meinung des anderen zu übernehmen.

Es gibt vielfältige Initiativen zur Verstärkung des Dialogs zwischen den Kulturen und Religionen, die aber noch nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt haben. Wo sehen Sie die Schwachpunkte dieses Dialogs?

Nusseibeh: Wann immer wir über einen solchen Dialog sprechen, meinen wir die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, während wir nie über die Beziehungen zum Beispiel zwischen Buddhismus und Hinduismus sprechen, zwischen denen keine großen Probleme bestehen, im Gegenteil: In Japan war ursprünglich der Shintoismus vorherrschend, und als der Buddhismus über China dorthin kam, gaben die Japaner den Shintoismus nicht auf, sondern wurden zusätzlich Buddhisten und vereinten damit beide Religionen.

Die Probleme scheinen immer vor allem zwischen Judentum, Christentum und Islam zutage zu treten, weil sie sich so ähnlich sind und denselben Ursprung haben. Dagegen konnten Buddhismus und Shintoismus koexistieren, gerade weil sie so unterschiedlich sind. Die Lösung liegt aber zuallererst in der Aufgabe von religiösem Fanatismus und darin, dass wir uns an menschlichen, nicht an religiösen Werten orientieren, weil sich auf erstere alle einigen können. Und wenn ein religiöser Wert im Widerspruch zu einem menschlichen steht, dann müssen wir den letzteren vertreten. Nur so werden wir zu gegenseitiger Akzeptanz kommen.

Das Interview führten Mohanad Hamed und Adham Manasreh
© Qantara.de. 2008
Übersetzung aus dem Arabischen: Günther Orth

Fussnoten

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Sari Nusseibeh ist seit 1995 Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, an der er auch Philosophie lehrt. Der Träger des Lew-Kopelew-Preises war von 2001 bis 2002 Statthalter der PLO in Jerusalem. Nusseibeh engagiert sich seit Jahren für den Frieden im Nahen Osten. Gerade erschien sein Buch "Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina".