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Vor einem Jahr: Explosion im Hafen von Beirut

Redaktion

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Am 4. August 2020 zerstörte eine Explosion weite Teile der libanesischen Hauptstadt Beirut. Etwa 200 Menschen starben, bis zu 300.000 wurden obdachlos. Ein Jahr nach der Katastrophe hat sich die wirtschaftliche Lage des Landes weiter verschlechtert.

Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020. (© picture alliance/dpa/RIA Nowosti | Mikhail Alaeddin)

Am frühen Abend des 4. August 2020 kam es im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut zu einer gewaltigen Explosion: Rund 2750 Tonnen Ammoniumnitrat entzündeten sich. Ammoniumnitrat ist ein Salz, bestehend aus Ammoniak und Salpetersäure, das zur Herstellung von Düngemittel und Sprengstoff genutzt wird. Die Detonation hatte weitreichende Folgen: Schätzungen zufolge starben etwa 200 Menschen, mehrere Tausend wurden verletzt und bis zu 300.000 Menschen wurden obdachlos. Die Druckwelle zerstörte die Hafenregion und Teile der Stadt, darunter zahlreiche Wohnhäuser und wichtige Infrastruktur. So wurden beispielsweise bei dem Unglück mehrere Kliniken zerstört oder massiv beschädigt, ebenso wie der größte Getreidespeicher der Stadt und ein Kraftwerk. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte mit, dass die Explosion das Gesundheitswesen des Landes schwer in Mitleidenschaft gezogen hat. Auch anderweitig ist die Versorgung der Bevölkerung bis heute teilweise nicht gewährleistet – immer wieder kommt es zu stundenlangen Stromausfällen.

Die Sprengkraft der Detonation war enorm, sodass auch dutzende Kilometer entfernt Fensterscheiben zersprangen und auf Zypern, 260 km Luftlinie von der Hafenstadt entfernt, die Explosion zu hören war. Weltweit zeichneten Seismografen die Wellen auf. Der entstandene Sachschaden wird auf mehr als 13 Milliarden Euro geschätzt, wie der libanesische Präsident Michel Aoun kurz nach der Katastrophe mitteilte. Der enormen finanziellen Belastung kann der Mittelmeerstaat nicht gerecht werden. Denn schon vor der Corona-Pandemie geriet der Libanon in eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise: Seit 2019 hat die libanesische Währung mehr als 90 Prozent an Wert verloren.

Bei der Explosion in Beirut wurden zahlreiche Wohnhäuser zerstört. (© picture alliance / NurPhoto | STR)

Wie konnte es zu der Explosion kommen?

Auch ein Jahr nach der Katastrophe ist die Aufklärung der Geschehnisse noch nicht abgeschlossen. Das Ammoniumnitrat stammte von der "Rhosus", einem unter der moldauischen Flagge fahrenden Frachtschiff. Bereits 2013 legte das Schiff mit der leicht entzündlichen Ladung im Hafen von Beirut für eine Zwischenstopp an. Das Frachtschiff war auf dem Weg von Georgien nach Mosambik und wurde nach einer Inspektion durch die libanesische Hafenbehörde festgesetzt. Grund dafür waren starke technische Mängel und unbezahlte Hafensteuern. Das Schiff blieb jahrelang mit der Ladung im Hafen liegen, 2014 wurde es von dem libanesischen Staat beschlagnahmt. Später wurde die gefährliche Ladung in das Lagerhaus Nummer 12 des Hafens verladen und verblieb dort bis zur Explosion unter vollkommen unzureichenden Sicherheitsbedingungen.

Bereits frühzeitig wussten libanesische Behörden über die Risiken der Lagerung Bescheid – Ammoniumnitrat wird regelmäßig in der Schifffahrt verfrachtet, die Gefahren des Stoffes sind dementsprechend geläufig. Wieso die verantwortlichen Behörden keine Sicherheitsvorkehrungen trafen, ist unklar. Am Unglückstag brach schließlich ein Feuer in einer benachbarten Halle aus, in der Feuerwerkskörper gelagert waren. Als diese in die Luft gingen, explodierte auch das daneben gelagerte Ammoniumnitrat.

Die Krise im Land wächst

Die massive politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise im Interner Link: Libanon verschärfte sich in den Wochen und Monaten nach der Explosion. Der Hafen, der für die stark von Exporten abhängige Wirtschaft des Landes unerlässlich ist, wurde komplett zerstört. Außerdem importiert das Land einen Großteil der lebenswichtigen Güter. Über den Beiruter Hafen liefen mehr als 60 Prozent der Gesamtimporte. Bereits kurz nach der Explosion befürchtete Human Rights Watch deshalb eine Gefährdung der Nahrungsmittelversorgung. Zusätzlich wirkte sich die Corona-Pandemie negativ aus: Für 2020 sackte das Interner Link: Bruttoinlandsprodukt (BIP) um fast zwei Drittel von 6439 Euro auf 2353 Euro pro Person ab. Die wirtschaftliche Lage im Libanon war aber bereits vor der Explosion angespannt.

Die Arbeitslosenquote liegt offiziellen Angaben zufolge derzeit bei 50 Prozent. Nach Angaben der Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) waren 2020 2,7 Millionen Menschen der ca. 6,8 Millionen Einwohnenden von Armut betroffen. Die Inflation lag zuletzt bei über 100 Prozent. Für Lebensmittel musste die Bevölkerung sogar einen noch weit größeren Kaufkraftverlust hinnehmen. Viele Dinge des Alltags wie Benzin sind Mangelware.

Korruption bremst das Land aus

Im Libanon gibt es 18 anerkannte Interner Link: Religionsgemeinschaften. 60 Prozent der Bevölkerung sind Muslima und Muslime – unter anderem Schiitinnen und Schiiten, sowie Sunnitinnen und Sunniten – und 40 Prozent Christinnen und Christen – insbesondere Maronitinnen und Maroniten. Auf dem religiösen Interner Link: Proporz – also der Beteiligung aller Religionsgemeinschaften in der Politik – baut die Machtverteilung der Interner Link: parlamentarischen Demokratie: Staatspräsident/-in muss ein/e Christ/in sein, Premierminster/in ein/e Sunnit/in und Parlamentsminister/in ein/e Schiit/in. Der Proporz zwischen den im Land lebenden Minderheiten und Religionsgruppen innerhalb des politischen Systems, sorgte nach Ansicht von Expertinnen und Experten zwar lange Zeit für Frieden, ist jedoch anfällig für Machtmissbrauch und Interner Link: Vetternwirtschaft. Misswirtschaft und Interner Link: Korruption lähmen Wirtschaft und Politik des einst wohlhabenden Landes. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International lag der Libanon 2020 auf Platz 149 von 180 beobachteten Ländern.

Hintergrund

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörte die Region, wo heute der Libanon liegt, zum Osmanischen Reich. Anschließend unterlag sie mehr als zwei Jahrzehnten französischer Kontrolle. 1943 erlangte der Staat Libanon die Unabhängigkeit.

Von Beginn an war das politische System des Landes durch ein Proporzsystem der Macht gekennzeichnet, um das friedliche Zusammenleben der zahlreichen unterschiedlichen Konfessionen zu sichern. In dem Land leben ca. 6,8 Millionen Menschen. Gut ein Drittel der Bevölkerung sind nach Schätzungen noch immer Christinnen und Christen, die meisten von ihnen gehören der maronitischen Glaubensgemeinschaft an. Sie stellen dem Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989 zufolge immer die Staatspräsidentin oder den Staatspräsidenten. Die Premierministerin oder der Premierminister muss dem Vertragswerk zufolge, das mit dem Ende des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) besiegelt wurde, immer eine sunnitische Muslima oder ein sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident eine schiitische Muslima oder ein schiitischer Muslim sein. Auch das Parlament unterliegt einem Konfessionsproporz.

Immer wieder gibt es nicht nur Konflikte zwischen Menschen christlichen und muslimischen Glaubens, sondern auch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Menschen sunnitischen und schiitischen Glaubens, die teils von Regierenden in Syrien, Saudi-Arabien oder im Iran angefacht wurden.

Vor dem Bürgerkrieg boomte die libanesische Wirtschaft. Beirut gehörte zu den wichtigsten Bankenstandorten im Nahen Osten. Der Handels- und Finanzplatz gewann nach dem Ende des Bürgerkriegs (1975 bis 1990) wieder an Bedeutung, konnte jedoch nicht zu alter Größe aufschließen. Um den Wiederaufbau des Landes zu finanzieren, hatte die Regierung in den 1990er-Jahren Kredite aufgenommen. Im Jahr 2019 lag die Staatsverschuldungs-Quote mit 171 Prozent so hoch wie in kaum einem anderen Land der Erde – das sind mehr als 80 Milliarden Euro Schulden.

Die Interner Link: soziale Ungleichheit ist groß im Libanon. Laut ESCWA verfügten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2019 über rund 70 Prozent des Privatvermögens. Vielen Reichen gelang es, ihre Vermögen auf ausländische Bankkonten zu retten, als ab 2019 ein drastischer Verfall der Landeswährung einsetzte. Die Zentralbank hielt seit 1997 den Kurs des libanesischen Pfunds künstlich stabil zum Dollar (nach einer Finanzkrise zu Beginn der 1990er wurde das libanesische Pfund an den Dollar gekoppelt). Gleichzeitig wurden Interner Link: Kredite mit hohen Interner Link: Zinsen aufgenommen und aus dem Ausland in Immobilien investiert oder bei Banken angelegt. Der Staat blieb liquide, bis 2016 der Ölpreis fiel. Das System kollabierte und der Währungsverlust setzte rasant ein. Internationale Expertinnen und Experten fordern seit geraumer Zeit tiefgreifende politische und wirtschaftliche Reformen, für eine gerechtere und prosperierende Gesellschaft. Die bisherigen Regierungen des Landes sind dem nicht nachgekommen.

Seit Beginn der Corona-Krise bewegt sich der Libanon am Rande des Staatsbankrotts und konnte zwischenzeitlich sogar seine Kredite nicht bedienen. Die Reputation des Landes an den Finanzmärkten litt enorm. Importe lebenswichtiger Güter verteuerten sich massiv – das Land importiert rund 80 Prozent aller Nahrungsmittel. Die Folgen der Pandemie verschärften die Lage, unter anderem die Tourismusbranche verzeichnete enorme Einbußen. Der Fremdenverkehr gehört zu den wichtigsten Sektoren der libanesischen Volkswirtschaft.

Auch der Krieg in Interner Link: Syrien belastet die libanesische Wirtschaft schwer. Nicht nur weil Syrien als wichtiger Absatzmarkt für libanesische Produkte weggebrochen ist, sondern auch, weil der Export in die Golfstaaten größtenteils über Syrien abgewickelt wurde. Wann sich das Land von der schweren Wirtschaftskrise erholt, ist derzeit nicht abzusehen.

Unmut in der Bevölkerung

Zehntausende Libanesinnen und Libanesen demonstrierten wegen der Wirtschaftskrise bereits im Herbst 2019. Zunächst um den Rücktritt der Regierung zu fordern, da seit Jahren immer wieder Korruptionsvorwürfe gegen maßgebliche politische Entscheider auftreten. Ab Frühjahr 2020 gab es weitere Proteste: Hunger und der Unmut über die Armut verschärfenden Corona-Maßnahmen hatten viele Menschen gegen die Regierung um Präsident Michel Aoun aufgebracht. 2016 wurde der Christ vom Parlament ins Amt gewählt. In Folge der Hafenexplosion kam es ab August 2020 zu erneuten Protesten, an denen vor allem junge Menschen beteiligt waren.

Für Unmut sorgte, dass Spitzenpolitiker über das Ammoniumnitrat in Halle 12 informiert gewesen sein sollen – darunter Präsident Aoun sowie Ministerpräsident Hassan Diab. Letzterer trat mit seiner Regierung nach massiven Protesten bereits wenige Tage nach dem 4. August 2020 zurück. Seither war der Libanon de facto führungslos. Denn in der Folge scheiterten zwei Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten an einer Mehrheit im Parlament, um ein Kabinett zu bilden. So blieb die Regierung Diab kommissarisch im Amt, agierte jedoch weitgehend kraft- und machtlos – mit der Folge, dass sich die ökonomischen und sozialen Probleme weiter verschärften.

Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten auch zu gewaltsamen Ausschreitungen, Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staates werden mitunter attackiert. Nun soll der Ende Juli mit der Bildung einer Regierung beauftragte Milliardär und Unternehmer Nadschib Mikati das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System wiederherstellen, die Wirtschaft beleben und den Wiederaufbau des Landes vorantreiben. Mikati war bereits 2005 und 2011 bis 2013 Ministerpräsident.

Aufklärung verläuft schleppend – Junge Menschen verlassen das Land

Die Suche nach Verantwortlichen der Katastrophe und deren Strafverfolgung läuft derweil äußerst schleppend. Zwar wurden zahlreiche Zollbeamte sowie Hafenarbeiter festgenommen, gegen andere mutmaßliche Schuldige wie hochrangige Politiker wird aus Sicht von Kritikerinnen und Kritikern bislang jedoch kaum ermittelt. Der Ermittlungsrichter Fadi Sawan wurde im Februar 2021 abgesetzt. Das Kassationsgericht – ein Gericht, das als nächsthöhere Instanz das Urteil aus einem Zivil- oder Strafprozess aufheben kann – begründete die Entscheidung mit einem „berechtigten Misstrauen“, weil Sawans Haus bei der Explosion zerstört wurde. Zuvor hatte der Richter Diab und drei weitere Minister wegen Fahrlässigkeit und Mitschuld angeklagt.

Viele Schäden in der Stadt sind zudem bis heute nicht behoben. Die Opfer warten noch immer auf Entschädigungen. Erst Anfang dieses Jahres wurden die im Hafen verbliebenen Chemikalien nach Deutschland gebracht und entsorgt. Das deutsche Unternehmen war bereits zuvor im Beiruter Hafen tätig.

In den ersten Wochen nach der Explosionskatastrophe bewilligte die internationale Staatengemeinschaft eine erhebliche Summe an Hilfsgeldern: Bis Dezember 2020 wurden 280 Millionen Euro ausbezahlt. Die Zahlung weiterer Gelder knüpfen die westlichen Staaten und der Internationale Währungsfonds (IWF) an politische und wirtschaftliche Reformen. Es müsse eine handlungsfähige Regierung geben und die Korruption wirksam bekämpft werden, so die Forderung. Immer mehr junge Libanesinnen und Libanesen glauben derweil nicht mehr an einen Wandel in ihrem Land: Tausende versuchten zuletzt auszuwandern.

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