Bei den brandenburgischen und sächsischen Landtagswahlen 2019 lag die AfD in der Lausitz mit 32,8 Prozent der Zweit- beziehungsweise Listenstimmen klar vorn; zudem gewann sie fast zwei Drittel der Direktmandate in der Region. Die langjährigen Regierungsparteien SPD (Brandenburg) und CDU (Sachsen) waren nur noch in wenigen Wahlkreisen erfolgreich. Mit diesem Ergebnis schnitt die AfD in der an der Grenze zu Polen gelegenen ländlichen Region, die unter anderem durch die Braunkohleförderung geprägt ist, deutlich erfolgreicher ab als landesweit. Ist das Wahlergebnis Ausdruck einer neuen Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie?
Die Konfliktlinientheorie galt in der Politikwissenschaft lange Zeit als etwas überholt. Sie besagt, dass wichtige Parteien in Phasen grundlegenden gesellschaftlichen Wandels entstanden sind, etwa während der Industriellen Revolution. Der Wandel ging mit sozialen Konflikten einher, und die Parteien dienten dazu, Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen in diesen Konflikten politisch zu vertreten. Allerdings schien die Theorie die Entwicklung der Parteien seit dem Zweiten Weltkrieg weniger gut erklären zu können. Parteien wurde insgesamt eine abnehmende gesellschaftliche Verankerung bescheinigt. In den postsozialistischen Transformationsgesellschaften, zu denen mit Ostdeutschland auch die Lausitz gehört, sind Parteibindungen noch deutlich schwächer ausgeprägt und das Wahlverhalten oft volatil.
Doch die Konfliktlinientheorie ist wieder da. Seit einigen Jahren wird vermutet, dass im Zuge von Globalisierung und europäischer Integration ein neues cleavage zwischen weltoffenen, kulturell liberalen Kosmopoliten sowie regional und national orientierten Kommunitaristen entstanden sei. Auch von einem Stadt-Land-Konflikt ist oft die Rede. Unsere nachfolgende Analyse schließt an diese Forschung an, kommt jedoch zu etwas anderen Schlüssen. Wir werten die Wahlergebnisse in der Lausitz im Zeitverlauf seit 1990 und im Vergleich mit anderen Regionen des jeweiligen Bundeslandes aus. Dabei finden wir Indizien für eine neue Spaltung entlang der Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie, die wir genauer beschreiben. Dem Konzept von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan folgend, bezieht sich der Zentrum-Peripherie-Konflikt, wie wir unten genauer erläutern, nicht auf Unterschiede zwischen urbanen und ländlichen Regionen, sondern auf Differenzen zwischen zentralstaatlichen Eliten und Bevölkerungsgruppen, die Minderheiten sind oder sich entsprechend wahrnehmen.
Konfliktlinien – mehr als nur Dissens
Das Konfliktlinienmodell setzt bei den tief wurzelnden gesellschaftlichen Interessen an. Anders als alltagspolitische Meinungsverschiedenheiten werden als cleavages langfristige, strukturell angelegte Konflikte bezeichnet, die sich nur schwer politisch befrieden lassen. Die widerstreitenden Positionen müssen nicht zwangsläufig durch Parteien repräsentiert sein. Da Parteien jedoch im Kampf um Wählerstimmen und politischen Einfluss daran interessiert sind, gesellschaftliche Stimmungslagen aufzugreifen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie solche strukturellen Konflikte abbilden.
Eine Partei kann als Treiber einer Konfliktlinie fungieren, die bei ihrer Gründung noch keine größere Rolle spielte, oder sie kann zur Projektionsfläche für einen Metakonflikt werden, ohne dass sie dies zunächst selbst beabsichtigte. Die AfD etwa startete als Anti-Euro-Partei, weist aber heute mit ihren klimaschutz- und einwanderungskritischen sowie gegen "die" politischen Eliten gerichteten Aussagen ein gewandeltes programmatisches und rhetorisches Profil auf. Reagieren andere Parteien auf solche (Um-)Positionierungen mit einer polarisierend-abwehrenden Strategie, so kann sich die Konfliktlinie weiter vertiefen und zu einer allgemeinen Mobilisierung beitragen. Die Entstehung eines cleavage äußert sich unter anderem in der Themensetzung im Wahlkampf, in einer höheren Wahlbeteiligung und in Veränderungen des Abstimmungsverhaltens.
Zu den früheren Konfliktlinien zählt diejenige zwischen Zentrum und Peripherie. Sie entstand im Zuge der Nationalstaatsgründung – in Deutschland im 19. Jahrhundert – zwischen der zentralstaatlichen Elite und Repräsentanten von ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten. Ferner wurde ein Stadt-Land-Konflikt als Folge der Industrialisierung identifiziert. Wir nehmen an, dass die Wahlergebnisse in der Lausitz Ausdruck eines neuen Zentrum-Peripherie-Konflikts sind, wenngleich in einer an die Gegenwart angepassten Form. Im Landtagswahlkampf ging es weniger um die Globalisierung, sondern vor allem um die (vermeintlich) fehlende Responsivität der Politik gegenüber strukturellen Interessen des ländlichen Raums speziell jenseits der Ballungsgebiete. Zu diesem Befund passt die Zentrum-Peripherie-Metapher besser als andere Konfliktlinien.
Die Parteien und der Braunkohleausstieg
In ihren Programmen für die Landtagswahlen 2019 präsentierten die Parteien mögliche Lösungen für die Probleme, die in der Gesellschaft Unzufriedenheit auslösen: mangelnde Bürgernähe von Verwaltung und Politik, Unterrichtsausfall, fehlende Arztpraxen, sporadische Busverbindungen, schlechte Digitalversorgung und die Ausdünnung der Polizeipräsenz in der Fläche. Viele dieser Probleme sind in der ländlichen Peripherie – wie der Lausitz – besonders relevant. Die Versprechen von Parteien, die in Land oder Bund bereits regier(t)en und damit die Chance hatten, die Schwierigkeiten zu beheben, werden dabei naturgemäß kritischer betrachtet als Forderungen von neuen Akteuren wie der AfD.
Analog zur Asylpolitik auf der Bundesebene gab es bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen mit der Gegnerschaft zum Kohleausstieg ein neues Thema, bei dem sich die AfD von den anderen Parteien in besonderer Weise abhob und dadurch profilieren konnte. Es ist vor allem in der Lausitz als Braunkohlerevier hoch emotionalisierbar, denn schon mit dem Systemwechsel 1989/90 erlebten die Menschen dort einen umfassenden Strukturbruch, der sich neben der neu erlangten politischen Freiheit in einem massiven Verlust an Arbeitsplätzen äußerte. Da auch das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der DDR weitgehend über die Arbeitskollektive organisiert war und sich gleichwertige Beschäftigungsformate nur mühsam schaffen ließen, zog der wirtschaftliche Umbruch erhebliche Konsequenzen bis weit in das persönliche Leben nach sich. Es folgte eine umfassende Abwanderung, die die regionale Gesellschaftsstruktur änderte, denn es gingen vor allem Höhergebildete, Junge und Frauen.
Dennoch ließen spätestens seit 2014 die meisten Parteien in Brandenburg und Sachsen keinen Zweifel daran, dass sie über kurz oder lang eine Energiewende anstreben, die einen erneuten Strukturwandel in der Lausitz erforderlich macht. Inhaltlich lagen dabei die Positionen von Bündnis 90/Die Grünen und jene der AfD am weitesten auseinander. Die brandenburgischen Grünen, die 2014 einen Ausstieg aus der Braunkohleförderung bereits für 2030 anvisiert hatten, verzichteten 2019 zwar auf ein konkretes Datum, forderten aber einen verbindlichen, raschen Ausstiegsfahrplan. Demgegenüber blieb der Landesverband in Sachsen bei 2030 als dezidiertem Ziel.
Im Gegensatz dazu forderte die AfD im Wahlkampf 2019 die Beibehaltung des Braunkohleabbaus. Sie übernahm damit eine Position, die zuvor lange CDU und FDP vertreten hatten, und wählte weit schärfere Worte als noch vor den Landtagswahlen 2014: "Wahnsinn Kohleausstieg: linksgrüne Ideologen opfern die Lausitz – Niedergang vorprogrammiert", hieß es etwa im Programm der brandenburgischen AfD.
Während vor den Landtagswahlen 2014 oft noch nicht erkennbar gewesen war, wie die Parteien den Strukturwandel in der Lausitz wirtschaftlich und sozial bewältigen wollten, waren fünf Jahre später alle Wahlprogramme in dieser Hinsicht ausführlicher. Dadurch versuchten die Parteien, dem Eindruck entgegenzutreten, sie setzten ihr ökologisches Ziel scheinbar planlos gegen die Interessen der betroffenen Menschen durch. Allerdings wurden durch die umfassendere Thematisierung auch der Aufwand, die Komplexität und Abhängigkeit der Pläne von externer Finanzierung deutlicher sichtbar – von der nötigen Ansiedlung gleichwertig entlohnter Industriearbeitsplätze bis hin zur Beschaffung von Bundes- und EU-Fördergeldern.
Zu den Vorschlägen hinsichtlich der Bewältigung des Strukturwandels zählten die Fortsetzung der Sanierung der (ehemaligen) Tagebaue und der Ausbau des Tourismus, um Arbeitsplätze zu schaffen, die Förderung der Forschung zu innovativen Technologien an den Hochschulen (unter anderem der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg), der Ausbau von Bahnstrecken und die Verbesserung der digitalen Infrastruktur. Diese Wirtschaftsförderungsmaßnahmen sollen durch weitere flankiert werden. In den östlichen Bundesländern haben allerdings viele Menschen bereits erlebt, dass ähnliche Aktivitäten trotz großer politischer Anstrengungen nicht wie gewünscht fruchteten.
Die AfD in Brandenburg und Sachsen sowie die sächsische FDP schlugen vor den Wahlen jeweils die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone vor, um die Lausitz frühzeitig auf ein mögliches Ende der Kohleförderung vorzubereiten. Die brandenburgische AfD sprach sich zur Stärkung der Lausitz auch für eine weitere Lehramtsausbildungsstätte für naturwissenschaftlich-technische Fächer und Berufsschullehrer in Cottbus aus, die sächsische AfD für Infrastrukturverbesserungen. Damit versuchten die Landesverbände der Partei, sich als Energiewendegegner zu profilieren und zugleich, wie die anderen Parteien auch, standortpolitische Vorschläge zu formulieren.
Polarisierte Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung
In Brandenburg gehört in zehn der 44 Wahlkreise die Mehrheit der Städte und Gemeinden zur Lausitz; in Sachsen trifft dies auf neun der 60 Wahlkreise zu. Damit lebt in Brandenburg fast jeder fünfte und in Sachsen fast jeder siebte Wahlberechtigte in der Lausitz. Das ist eine strukturelle Minderheit, die dennoch Relevanz entfalten kann. Die Menschen dort zeigten sich bereits seit Längerem aktiv in der Vertretung ihrer Interessen. Bei den meisten Urnengängen seit 1990 lag hier die Wahlbeteiligung über dem Landesdurchschnitt, wobei die Unterschiede zwischen den Lausitzer Wahlkreisen und dem landesweiten Wert bis zu 2,4 Prozentpunkte betrugen (Tabelle 1).
Auch an den Landtagswahlen im September 2019 beteiligten sich die Lausitzer mit 64,9 Prozent etwas stärker als alle Bürgerinnen und Bürger in Brandenburg und Sachsen (64,5 Prozent) sowie deutlich häufiger als die Einwohner anderer ländlicher Regionen, wie Ostprignitz-Ruppin (55,1 Prozent), Uckermark (55,2 Prozent), Nordsachsen (61,0 Prozent) und Vogtland (62,3 Prozent). In Sachsen gehören die Lausitzer Landkreise Bautzen (67,6 Prozent) und Görlitz (66,9 Prozent) zu den Gebieten mit einer über dem landesweiten Durchschnitt liegenden Wahlbeteiligung (66,5 Prozent). Gleiches gilt in Brandenburg (61,3 Prozent) für Cottbus (61,6 Prozent) und den angrenzenden Landkreis Spree-Neiße (65,5 Prozent). Es gibt also offenbar eine erhöhte Motivation, Signale an die Politik auszusenden.
Auch die Wahlentscheidungen selbst deuten auf eine neue Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie hin. Als wichtigste Protagonisten treten dabei AfD und Bündnis 90/Die Grünen hervor. In der Lausitz lag die AfD mit 32,6 Prozent der Zweitstimmen fast sieben Prozentpunkte über dem Gesamtwert für Brandenburg und Sachsen. Demgegenüber hatte vor allem Bündnis 90/Die Grünen unterdurchschnittliche Stimmenanteile zu verbuchen; die Umwelt- und Klimaschutzpartei ist hier nur etwa halb so stark wie auf Landesebene. Mit zwei bis drei Prozentpunkten ist die Differenz zum landesweiten Abschneiden bei Die Linke geringer, aber immer noch erkennbar. Für die CDU (mit Ausnahme der Erst- beziehungsweise Direktstimmen), die SPD, Freie Wähler und FDP sind keine großen Differenzen zu beobachten (Abbildung 1).
Ist die Lausitz repräsentativ für den ländlichen Raum?
Auf den ersten Blick scheint das Wahlverhalten in der Lausitz für Besonderheiten auf dem Land zu stehen. So lag in den sächsischen Landkreisen Bautzen und Görlitz der Listenstimmenanteil der AfD (zusammen 34,8 Prozent) vergleichsweise graduell über dem Durchschnittswert für alle Landkreise von 31,2 Prozent und zeigte damit nur kleine Abweichungen zu anderen Orten im ländlichen Raum. Auf den zweiten Blick offenbart sich jedoch, dass die Ergebnisse das Wahlverhalten speziell in der östlichen Peripherie und besonders das der peripheren ländlichen Räume repräsentieren.
Auffallend hohe Stimmengewinne der AfD traten bislang überwiegend im Osten Deutschlands auf, und dort wiederum in den infrastrukturell schlechter gestellten und von Abwanderung betroffenen Gebieten. Zudem zeigt sich in Brandenburg ein differenziertes Muster: Hier lag der Zweitstimmenanteil der AfD in den Lausitzer Landkreisen Oberspreewald-Lausitz und Spree-Neiße (zusammen 32,5 Prozent) weit über dem landesweiten Mittel der ländlichen Wahlkreise (24,3 Prozent). Auch in Cottbus (26,8 Prozent) schnitt die AfD wesentlich besser ab als im Durchschnitt der vier kreisfreien Städte in Brandenburg (19,4 Prozent). Dies spricht für eine gewisse Sonderstellung der Lausitz; innerhalb des Bundeslandes ergibt sich kein konsistentes "ländliches" und "städtisches" Wahlverhalten.
Der Kontrast der Lausitz zum Rest des Landes entsteht – wenngleich in abgeschwächter Form – auch mit Blick auf Bündnis 90/Die Grünen: In den Landkreisen Oberspreewald-Lausitz und Spree-Neiße (zusammen 4,5 Prozent) war der Stimmenanteil für die Partei halb so hoch wie in allen Landkreisen (9,9 Prozent), wobei die einzelnen Wahlkreise in Brandenburg stark differierten. Bei den kreisfreien Städten unterscheidet sich Cottbus (8,3 Prozent) – ungefähr auf dem Niveau von Frankfurt/Oder (9,1 Prozent) und Brandenburg an der Havel (11,9 Prozent) liegend – deutlich von der Landeshauptstadt Potsdam mit 22,2 Prozent. Es bestehen also erhebliche Differenzen zwischen der Lausitz und anderen strukturschwachen Regionen jenseits der prosperierenden Großstädte Berlin und Potsdam einerseits sowie den Gebieten, in denen das urbane Berlin einen Abstrahleffekt entfaltet beziehungsweise großstädtische Wählerinnen und Wähler diffundieren, andererseits. Diesem Muster entsprechen auch die Uckermark (26,0 Prozent für die AfD) oder in Sachsen der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (33,9 Prozent).
In den "Speckgürteln" und Einzugsgebieten großer Städte wird anders gewählt, durchaus auch in Dörfern. Die beschriebenen Abweichungen lassen sich als "Hinweis auf die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen" interpretieren: "In der Lausitz hat die Zukunft der gesellschaftlichen Konflikte schon begonnen",interpretierte Günter Platzdasch in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" das Wahlergebnis. Es besteht die Gefahr, dass sich diese Konflikte zwischen der ländlichen Peripherie und den urbanen Verdichtungsräumen in den kommenden Jahren verstärken und verfestigen.
Motivlagen: Lausitz-spezifische Interessen und allgemeiner Protest
Die beschriebenen Indikatoren des Wahlverhaltens deuten darauf hin, dass lausitzspezifische Interessen die Wahl der AfD nicht vollständig erklären, sondern allgemeiner Protest gegen "die" Politik und (frühere) Sparmaßnahmen der Landesregierungen mitsamt des (auch von anderen Parteien) kritisierten Rückzugs des Staates aus der Fläche ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Ob zutreffend oder nicht – viele Wählerinnen und Wähler haben den Eindruck, dass großstädtische Eliten über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Gleichzeitig verzichten sie darauf, über die Mitgliedschaft in Parteien oder anderen Organisationen dauerhaft Interessenkanäle in die Politik zu nutzen. Aber auch (teils ehemalige) Mitglieder von Regierungsparteien sind nicht selten von ihrer Partei enttäuscht, da diese aus ihrer Sicht zu viele Kompromisse gegenüber den Koalitionspartnern eingehen.
Bei den Wahlen unterstützten viele Menschen die AfD, die kein geschlossenes rechtes Weltbild haben und die in der Vergangenheit Parteien wählten, die bereits regier(t)en. Dies spricht dafür, dass sie die Bilanz der Politik für ihr Lebensumfeld skeptisch betrachteten. Sie begrüßen die parlamentarische Präsenz einer Partei, die in besonderer Weise anstehende politische Entscheidungen in Zweifel zieht, weiteren Wandel rhetorisch drastisch abwehrt und für bisherige Politik nicht verantwortlich ist. Infolge ihrer Position im Parteiensystem muss die AfD keine Kompromisse mit Koalitionspartnern und keine finanziellen Spielräume im Blick behalten.
Genau lassen sich die Wahlmotive allerdings nicht bestimmen, denn die Datenlage speziell zur Lausitz ist begrenzt. Landesweiten Wahltagbefragungen zufolge votierten 70 Prozent aller AfD-Wählerinnen und -Wähler in Sachsen und 43 Prozent jener in Brandenburg "wegen ihrer politischen Forderungen" für die Partei. Welche inhaltlichen Positionen genau gemeint sind, bleibt jedoch offen, denn die AfD äußerte sich in den Wahlkämpfen zu vielen Themen. Im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Braunkohle ist aufschlussreich, dass es sachsenweit 88 Prozent und in Brandenburg 90 Prozent der AfD-Wählerinnen und -Wähler begrüßten, dass die Partei "in der Klimadebatte den anderen Parteien etwas entgegensetzt". Dies galt offenbar besonders für die ländlichen Räume der Peripherie, wo die Bündnisgrünen weit unterdurchschnittlich abschnitten.
Ähnlich hoch war mit 87 beziehungsweise 83 Prozent der Anteil der AfD-Wählerinnen und -Wähler, für die die AfD ausweislich der Befragungen die einzige Partei ist, um "meinen Protest gegenüber der Politik ausdrücken" zu können. In Brandenburg befürchteten acht von zehn Personen, die ihre Stimme der AfD gegeben hatten, dass sich das Leben zu stark verändern werde; eine Verschlechterung in den vergangenen Jahren konstatierte fast ein Viertel. Beide Werte sind über alle Parteien hinweg die höchsten. Nochmals unterstreicht dies, dass lausitzspezifische Motive allein die AfD-Wahl nicht erklären.
Mit ihrer Wahlentscheidung nahm die große Minderheit der AfD-Wählerschaft in Kauf, dass die Partei nicht nur Interessenpolitik für die ländliche Peripherie betreibt, sondern auch eine dezidiert rechtspopulistische, gegen bestimmte Minderheiten gerichtete Programmatik vertritt. Dass die anderen Parteien infolgedessen eine Koalition mit ihr ablehnten, war durch die Medienberichterstattung allen klar.
Lausitzinterne Unterschiede
Der Fokus auf das starke Abschneiden der AfD in der Lausitz verstellt indes den Blick darauf, dass die Mehrheit der Menschen auch dort andere Parteien wählte. Dabei zeigen sich starke intraregionale Differenzen. Dies spricht gegen das Vorhandensein einer homogenen politischen Lausitzer Identität. Die möglicherweise im Entstehen begriffene neue Konfliktlinie zwischen Zentrum und Peripherie erklärt demnach nicht das gesamte Wahlverhalten in der Lausitz, sondern in erster Linie den Erfolg der AfD und das schlechte Abschneiden von Bündnis 90/Grünen.
Dass in Brandenburg die SPD und in Sachsen die CDU ebenfalls besonders gut abschnitten, ist durch unterschiedliche Pfade je nach politisch-administrativer Zuordnung zu erklären. In den brandenburgischen Wahlkreisen der Lausitz war die SPD seit 1994 bei den Zweitstimmen die stärkste politische Kraft; auch hinsichtlich der Direktmandate dominierten lange Zeit die Sozialdemokraten respektive Mitte-Links-Parteien (SPD, PDS beziehungsweise Die Linke). Demgegenüber gewann in den sächsischen Teilen der Lausitz bis 2014 (fast) ausschließlich die CDU die Direktmandate. Es genoss also in der Lausitz jeweils die Partei des Ministerpräsidenten große Unterstützung, wobei im brandenburgischen Teil der Rückhalt für die SPD wesentlich stärker variierte als jener für die CDU im sächsischen Teil ( Abbildung 2 und Tabelle 1 ).
Mit Blick auf die Landtagswahlen 2019 ist zu erwähnen, dass sich beide Ministerpräsidenten – Dietmar Woidke (SPD) in Brandenburg und Michael Kretschmer (CDU) in Sachsen – in Lausitzer Wahlkreisen um Direktmandate bewarben. Dies war jedoch nicht ohne Risiko, denn beiden wäre eine Kandidatur in als sicherer geltenden Wahlkreisen möglich gewesen. Das Risiko galt vor allem für Kretschmer, der 2017 seinen Bundestagswahlkreis in Görlitz verloren hatte, nun erstmals bei einer Landtagswahl antrat und sein Direktmandat – ebenso wie Woidke – in einem Wahlkreis mit der AfD als stärkster Partei bei den Zweitstimmen gewann.
Auch die PDS beziehungsweise die Linke schnitt innerhalb der Lausitz unterschiedlich ab. In den brandenburgischen Gebieten konnte sie bei mehreren Wahlen jeweils deutlich höhere Stimmenanteile als auf sächsischer Seite verbuchen. Bei den beiden vorherigen Abstimmungen vor ihrer Beteiligung an der Regierung in Potsdam im Herbst 2009 gewann sie die Direktmandate in fünf beziehungsweise sechs der zehn Wahlkreise. Mit ihrem verstärkten Engagement für den Kohleausstieg ging die Linke in den vergangenen Jahren ein zunehmendes Risiko ein, die Interessen von Teilen ihrer eigenen Wählerschaft nicht mehr abzudecken.
In Sachsen gewann die PDS hingegen lediglich 2004 – also in der Hochzeit der Proteste gegen die Agenda 2010 der damaligen Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Grünen – ein Direktmandat in Hoyerswerda. Im sächsischen Teil der Lausitz erzielten die rechts der CDU zu verortenden Parteien, zu denen neben DVU, NPD und Republikanern auch die AfD zählt, seit Beginn des Jahrtausends wesentlich bessere Ergebnisse als auf der brandenburgischen Seite.
Diese Befunde lassen sich so interpretieren, dass die einen Lausitzer dezidiert links und die anderen dezidiert rechts wählten, um ihren Protest gegenüber den etablierten Parteien auszudrücken oder ein Votum für abweichende Politikinhalte abzugeben. Die beschriebenen Unterschiede führten letztlich bis einschließlich 2014 dazu, dass in den beiden Teilen der Lausitz unterschiedliche politische Lager die (relative) Mehrheit der Zweit- beziehungsweise Listenstimmen auf sich vereinen konnten. Erst in Gestalt der Wahlerfolge der AfD erfolgte eine Annäherung des Wahlverhaltens der Lausitzer in Brandenburg und Sachsen; dies geschah jeweils zulasten der Partei des Ministerpräsidenten (Tabelle 1).
Auch wenn ein Teil der AfD-Mitglieder- und -Wählerschaft durchaus ein geschlossenes rechtes Weltbild hat, sollte keineswegs ohne tiefer gehende Analysen konstatiert werden, dass es in der Lausitz "[b]raune Wurzeln" und "ein tief verwurzeltes extrem rechts wählendes Milieu" gibt, wie unmittelbar nach den Landtagswahlen 2019 mit Blick auf ganz Ostdeutschland behauptet wurde. Gegen diese Annahme spricht, dass die Stimmenanteile der rechts der Union zu verortenden Parteien seit 1990 erheblich variierten und somit keine Indizien für eine größere Stammwählerschaft liefern ( Tabelle 1 ). Hier bedarf es weiterer Forschung, um Zusammenhänge zu verstehen.
Polarisierung auch infolge mangelnder Kontakte
Wesentlich ist, dass sich die Polgruppen in dem sich abzeichnenden Konflikt – Anhänger von Bündnis 90/Grünen beziehungsweise AfD – im Alltagsleben wenig begegnen. Sie tragen diesen Kampf also kaum direkt, sondern eher virtuell-medial aus; den ländlichen Wahlkreisen der Lausitz stehen die Zentren und hier zuvorderst die jeweilige Landeshauptstadt, Potsdam und Dresden, gegenüber. Wie in den ländlichen Lausitzer Wahlkreisen lag auch in den Landeshauptstädten die Wahlbeteiligung mit 72,2 Prozent in Dresden und 69,3 Prozent in Potsdam deutlich über dem Durchschnitt des jeweiligen Bundeslandes von 66,5 beziehungsweise 61,3 Prozent. Bündnis 90/Die Grünen waren hier, wie erwähnt, viel erfolgreicher als im Rest des jeweiligen Landes. In Potsdam und Dresden konnten die Grünen ebenso wie in Leipzig erstmals bei einer Wahl in Ostdeutschland Direktmandate gewinnen. Für diesen Wahlerfolg war die Profilierung als erklärte Gegner der AfD sehr wichtig.
Die alte Kontakthypothese, die postuliert, dass wenig Kontakte zwischen gesellschaftlichen Gruppen wechselseitige Ängste und Abwehr befördern, während stabile Interaktionen und gemeinsame Erfahrungen ihnen entgegenwirken können, wurde in der deutschen Debatte der vergangenen Jahre überwiegend angeführt, um die im Vergleich weiter verbreitete Fremdenfeindlichkeit respektive Rassismus in den östlichen Bundesländern zu erklären. Sie lässt sich aber auch als Annahme hinsichtlich einer Spaltung der Gesellschaft zwischen peripheren Räumen und verdichteten urbanen Zentren (nicht nur) in Ostdeutschland übertragen. Bleibt es bei diesen eher spärlichen Kontakten und fehlenden gemeinsamen Handlungszielen, würde dies zur Verstetigung der Konflikte beitragen.
Eine neue Konfliktlinie?
Die aufscheinende neue Konfliktlinie repräsentiert einen an die Gegenwart angepassten Konflikt zwischen Zentren und (insbesondere ländlicher) Peripherie, nimmt aber auch Elemente eines Stadt-Land- und Globalisierungskonflikts auf. In den Landtagswahlprogrammen der Parteien spielten vor allem Interessen der ländlichen strukturschwachen Regionen im Kontext der Energiewende und des Gefühls des "Abgehängtseins" eine wichtige Rolle. Die AfD ist mittlerweile die einzige politisch relevante Partei, die die Energiewende ablehnt und damit den Menschen in der Lausitz verspricht, sich dafür einzusetzen, dass alles "beim Alten" bleibt.
Die Grenzen des Konfliktlinienansatzes sehen wir darin, dass er zwar das Erstarken neuer Parteien – hier der AfD – erklärt, nicht aber die Wahl der anderen Parteien und das unterschiedliche Abschneiden von SPD und CDU innerhalb der Lausitz. Um einen Sieg der AfD zu verhindern, unterstützte die Mehrheit der Wählerschaft unterschiedliche Parteien. Hierfür müssen andere Faktoren, wie regionale Pfade, hinzugezogen werden. Wir konnten außerdem zeigen, dass sich Konfliktlinien nicht in einer Region selbst manifestieren müssen, sondern im Kontrast der Region zu anderen Landesteilen. Die Ortsverschiedenheit der Wählerschaften kann zu ihrer Verstetigung beitragen.
Ob dies tatsächlich geschieht, hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist daher nicht prognostizierbar. Dass sich im Gegensatz zu 2014 alle Parteien in Brandenburg und Sachsen in ihren Wahlprogrammen zur Lausitz explizit und zunehmend konkret äußerten, kann ein Zeichen dafür sein, dass die Politik auf erhebliche Stimmenverschiebungen bei Wahlen reagiert und eine höhere Sensibilität für die Interessenlagen vor Ort entwickelt. Die Landtagswahlprogramme lesen sich als Beiträge zu einem entsprechenden Diskurs. Durch eine höhere Responsivität der politischen Entscheidungen gegenüber der regionalen Wählerschaft, eine stärkere Präsenz der Entscheidungsträgerinnen und -träger vor Ort sowie überregionale Begegnungs- und Dialogangebote könnte die Konfliktlinie möglicherweise abgemildert werden. Dann wäre der elektorale Erfolg der AfD in der Lausitz nicht der Startpunkt einer nachhaltigen Änderung im Parteiensystem, sondern ein vorübergehender Trend, um in drastischer Form auf spezifische Interessenlagen hinzuweisen.