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Aus Krisen lernen | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Aus Krisen lernen

Tanja Penter

/ 6 Minuten zu lesen

Das Kriegsjahr 2022 in der Ukraine war geprägt von großem Leid. Zugleich brachte es neue und mitunter überraschende Erkenntnisse. Drei unterschiedliche Perspektiven auf einen Krieg, den vor einem Jahr nur die wenigsten für möglich gehalten hatten.

Das schlimme erste Jahr des Krieges in der Ukraine war auch ein Jahr voller Überraschungen. Zu diesen Überraschungen zählen die Brutalität des russischen Angriffs und die zahlreichen Kriegsverbrechen ebenso wie der starke Widerstandswille der Ukrainer:innen und ihre schnelle Selbstbehauptung im internationalen Kommunikations- und Informationsraum. Ebenso unerwartet waren die entschlossene Reaktion der Nato und ihrer Mitgliedstaaten, die rasche Einigung der europäischen Regierungen auf Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine, die Bereitschaft der europäischen Zivilgesellschaften, Millionen von ukrainischen Geflüchteten aufzunehmen, aber auch die offenkundigen Schwächen des russischen Militärs, das bei seinen Planungen offenbar deutlichen Fehleinschätzungen über die Ukraine aufgesessen ist. Der Schrecken über den Grad der "Zombisierung" der russischen Gesellschaft ging zugleich mit der Erkenntnis einher, dass auch unter der mit nackter Gewalt regierenden Putinschen Diktatur ziviler Protest niemals vollständig ausradiert werden kann.

Die Geschichte, deren Ende 1989 von Francis Fukuyama voreilig vorausgesagt worden war, ist 2022 mit solcher Wucht zurückgekehrt, dass selbst Historiker:innen überrascht waren. Das Ausmaß und die extreme Geschwindigkeit, mit der die "Zeitenwende" voranschritt und neue Tatsachen von voraussichtlich langanhaltender Wirkung schuf, kam auch für viele Osteuropaexpert:innen unerwartet. Der entscheidende Treiber für die gewalttätige Rückkehr der Geschichte war ein russischer Präsident, der seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in bizarren Geschichtsaufsätzen und Reden mit historischen Bezügen zu legitimieren versuchte und seine Politik unter anderem in die Tradition der Expansionspolitik des Russischen Imperiums seit Peter I. stellte. Geschichte war von Wladimir Putin bereits vor seinem Angriff auf die Ukraine instrumentalisiert worden, um von wachsenden innergesellschaftlichen Problemen und der gescheiterten Modernisierung des Landes abzulenken. Während ideologisch aufgeladene Geschichtsbilder und -klitterungen in Putins Russland zunehmend als Legitimationsquelle für staatliche Politik instrumentalisiert wurden, wuchs auch das Berufsrisiko strafrechtlicher Verfolgung für kritische Historiker:innen.

Beschleunigte Verflechtung und Entflechtung

Der russische Angriffskrieg setzte auf vielen gesellschaftlichen Ebenen eine ukrainisch-deutsche Verflechtung in Gang oder beschleunigte sie, die in der Wissenschaft erst nach 2014 langsam begonnen hatte. Viele deutsche Universitäten nahmen geflüchtete ukrainische Wissenschaftler:innen und Studierende auf; deutsche Stiftungen starteten bemerkenswert schnell und unbürokratisch entsprechende Hilfsprogramme. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklung ist, dass die Internationalisierung und Vernetzung der ukrainischen Geschichtswissenschaft, die Stärkung der Ukraineexpertise an deutschen Universitäten und der Aufbau zukünftiger neuer Kooperationen beschleunigt und befördert wurde.

Mit ebenso großer Geschwindigkeit vollzog sich zugleich, vorangetrieben durch Putins Politik der Isolation, eine Entflechtung der russisch-deutschen Beziehungen, von der auch die Wissenschaft betroffen ist. So ist es etwa schwieriger geworden, Visa und Fördermittel für russische Kolleg:innen zu bekommen. Gleichwohl ist es wichtig, die letzten Brücken nicht abzubrechen, sondern die Kontakte zu kritischen russischen Wissenschaftler:innen aufrechtzuerhalten. Nicht wenige von ihnen sind inzwischen in Staaten des Kaukasus und Zentralasiens migriert, die sich zu neuen Zentren des russischen Massenexodus entwickeln. Die georgische Hauptstadt Tiflis, die bereits einige internationale Organisationen beherbergt, könnte zukünftig noch stärker in den Fokus der internationalen Wissenschaftskooperation rücken und zu einer Art Begegnungsort für Forscher:innen aus dem postsowjetischen Raum werden.

Wir lernen aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres, dass Prozesse der Verflechtung und Entflechtung, wenn sie auf einem breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens beruhen, mit großer Geschwindigkeit erfolgen können. In der Krise ist schnelles Handeln möglich, wie nicht zuletzt die erfolgreiche Abwendung der Energienotlage und die Verringerung der deutschen Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen verdeutlichen. Dies lässt hoffen, dass mit diesen Erfahrungen und Lerneffekten auch andere internationale Großkrisen zukünftig gemeistert werden können.

Lernprozesse

Ich möchte den Blick auf diese Lernprozesse richten, weil sie, trotz aller berechtigten düsteren mittelfristigen Zukunftsprognosen, auch etwas Hoffnung machen. Zu Beginn des Krieges waren es vor allem die Lehren und Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, die uns halfen, die neuen Herausforderungen anzugehen. Die digitale Kommunikation in Form von Video-Konferenzen, Webinaren oder der Nutzung von Messenger-Diensten war in der Pandemie für uns selbstverständlich geworden, und daran konnte nach dem 24. Februar 2022 angeknüpft werden: Vom ersten Kriegstag an hielten wir Historiker:innen und Osteuropa-Expert:innen enge Kontakte zu unseren ukrainischen Kolleg:innen, die auf zahlreichen Videokonferenzen das Publikum unmittelbar an ihren Kriegserfahrungen teilhaben ließen und diese zugleich wissenschaftlich einzuordnen versuchten. Allen russischen Angriffen zum Trotz konnten ukrainische Kolleg:innen weiterhin am internationalen wissenschaftlichen Austausch teilhaben und hier wichtige Impulse setzen. Bemerkenswert ist auch, wie es ukrainischen Autor:innen, die kraftvoll gegen den Krieg anschreiben, in kurzer Zeit gelungen ist, den deutschen Buchmarkt zu erobern.

In der deutschen Osteuropawissenschaft hat der Ukrainekrieg nicht nur eine kritische Selbstreflexion im Hinblick auf die bisherige starke Russland-Fokussierung und Diskussionen über eine notwendige Dekolonisierung der Osteuropäischen Geschichte angestoßen, sondern auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wissenstransfers in eine breite Öffentlichkeit geschärft. Angesichts der Vielzahl neuer Aufgaben, die der Krieg mit sich brachte – angefangen bei der Wissensvermittlung in die Öffentlichkeit über die Präsenz in (digitalen) Medien bis hin zur konkreten Unterstützung geflüchteter Kolleg:innen und Studierender –, erwies es sich als hilfreich, die Ressourcen und Kompetenzen in gemeinsamen (digitalen) Veranstaltungsformaten zu bündeln. Zudem reifte die Erkenntnis, dass wir als Fach enger zusammenstehen müssen, um medienwirksamen "Expert:innen" auch öffentlich stärker zu widersprechen. Dahinter steht auch die Feststellung eines Vermittlungsproblems und die Einsicht, dass die Osteuropawissenschaft nicht erst seit 2014 mit ihren Forschungserkenntnissen Politik und Öffentlichkeit nicht ausreichend erreicht hat. Im Ergebnis könnte der Krieg in der Ukraine also positive Impulse sowohl für den Zusammenhalt im Fach als auch für den Wissenstransfer in die Öffentlichkeit setzen.

Ausblick

Nur eine Randnotiz war in diesem schlimmen vergangenen Jahr der Tod von Michail Gorbatschow am 30. August, der im Schatten der Zeitenwende des 24. Februars ebenfalls das Ende einer Epoche besiegelte. Die Erinnerung an Gorbatschow, der, wie der russische Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratov in einem Nachruf festhielt, den Krieg verachtete und seinem Land und der Welt das unglaubliche Geschenk des Friedens bereitet hatte, lässt hoffen, dass in Russland irgendwann in der Zukunft auch wieder friedliche Entwicklungen möglich sein werden. Vielleicht kann dann nachgeholt werden, was 1991 nach dem Ende der Sowjetunion nicht gelungen ist und sich heute als hochexplosives Erbe der Sowjetepoche erweist: die gemeinsame Aufarbeitung der geteilten Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts durch Historiker:innen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – mit dem Ziel, Verständigung und Aussöhnung zu befördern und zu einer geteilten Erinnerungskultur zu finden. Angesichts des andauernden Krieges, der den Menschen in der Ukraine größte Opfer abverlangt, ist dies derzeit aber nur eine ferne Wunschvorstellung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff der Zombisierung steht für die Manipulation der russischen Gesellschaft durch die Staatspropaganda.

  2. Einige mutige Beispiele finden sich bei Michael Thumann, Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, München 2023, Kapitel 12.

  3. Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.

  4. Vgl. Andreas Kappeler, Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 7/2021, S. 67–76; siehe auch Putins Reden vom 21. sowie vom 24. Februar 2022 in: Osteuropa 1–3/2022, S. 119–135, S. 141–148.

  5. Vgl. Klaus Gestwa, Putin, der Cliotherapeut. Überdosis an Geschichte und politisierte Erinnerungskonflikte in Osteuropa, in: Neue Politische Literatur 67/2022, S. 15–53; Guido Hausmann/Tanja Penter, Der Gebrauch der Geschichte. Ukraine 2014: Ideologie vs. Historiographie, in: Osteuropa 9–10/2014, S. 35–50.

  6. Davon zeugen zum Beispiel die regelmäßigen Länder- und Jahresberichte des Network of Concerned Historians, Externer Link: http://www.concernedhistorians.org.

  7. Dazu zählen große Stiftungen wie etwa die VW-Stiftung, die schon 2016 ein Programm zur Förderung ukrainisch-russisch-deutscher Forschungskooperationen aufgelegt hatten, oder die Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung für verfolgte Wissenschaftler:innen, aber auch die kleinere Vector-Stiftung, die bis dahin hauptsächlich Forschung und Bildung im MINT-Bereich förderte.

  8. In Tiflis plant nun auch die Max Weber Stiftung, ein neues Büro zu eröffnen. Ein dringendes Desiderat bleibt die Einrichtung eines Standortes der Stiftung in Kyjiv.

  9. Siehe zum Beispiel die Online-Seminarreihe der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission "Historians and the War: Rethinking the Future", Externer Link: http://www.duhk.org/historians-and-war.

  10. Siehe zum Beispiel die Teilnehmer:innen des deutsch-ukrainischen Schriftsteller:innentreffens in Weimar: Externer Link: http://www.klassik-stiftung.de/ihr-besuch/veranstaltung/eine-bruecke-aus-papier. Auch in der russischsprachigen Literatur erfährt Antikriegslyrik eine expressive Blüte. Siehe z.B. den Sammelband "Poesie der Endzeit": Jurij Leving, Poezija poslednego vremeni. Chronika, St. Petersburg 2022.

  11. Siehe unter anderem die Diskussionsbeiträge zur Lage des Faches in Ab Imperio 1/2022, der Historischen Zeitschrift 2/2022 sowie im demnächst erscheinenden Band der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas (JGO) 1/2023.

  12. Siehe zum Beispiel die Wortmeldungen von Fachvertreter:innen zu den Vorträgen von Gabriele Krone-Schmalz: Franziska Davies, Desinformationsexpertin. Russland, die Ukraine und Frau Krone-Schmalz, in: Osteuropa 9–10/2022, S. 245–265; Heidelberger Podiumsdiskussion "Desinformation, Social Media und die Rolle von Expert:innen", Externer Link: http://www.youtube.com/watch?v=Lw72t0ohfyQ.

  13. Vgl. Dmitrij Muratov, Gorbatschow, 31.8.2022, Externer Link: https://novayagazeta.ru/articles/2022/08/31/gorbachev.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Tanja Penter für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
E-Mail Link: tanja.penter@zegk.uni-heidelberg.de