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Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden?

Nicole Deitelhoff

/ 16 Minuten zu lesen

Ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine wird zunehmend unwahrscheinlicher. Statt einer Verhandlungslösung zeichnet sich ein langer Abnutzungskrieg ab, in dem die Ukraine auf Jahre hinaus wirtschaftlich, finanziell und militärisch unterstützt werden muss.

Der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clausewitz formulierte einmal, der Krieg beginne erst mit der Verteidigung. Dieses Bonmot muss dem frisch gewählten brasilianischen Präsidenten Lula da Silva im Ohr geklungen haben, als er Ende Januar 2023 den deutschen Bundeskanzler bei einer gemeinsamen Pressekonferenz zur Frage der Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland wissen ließ, dass sich zwei nicht streiten könnten, wenn einer nicht wolle. Die Logik ist bestechend, und man hört sie bisweilen auch im deutschen Mediendiskurs. Würde die Ukraine die Kampfhandlungen einstellen, hätte sie sie gar nicht erst aufgenommen oder würde der Westen seine Unterstützung der Ukraine einstellen, so die Argumentation, gäbe es diesen Krieg nicht, würde er die Welt nicht so in Mitleidenschaft ziehen oder wäre er doch längst mit weit weniger Opfern beendet worden. In ihrer Konsequenz und nach allem, was sich in der Ukraine seit Ausbruch dieses Krieges beobachten lässt und vom Angreifer, Russland, zu hören ist, wäre es wohl darauf hinausgelaufen, dass es die Ukraine als unabhängigen Staat heute nicht mehr gäbe. Nicht der Streit wäre verschwunden, sondern der Streitgegner. Und auch hinsichtlich der Frage, wie viele Opfer dieser Krieg kostet, gibt es mit Blick auf die russische Militär- und vor allem Besatzungspraxis in der Ukraine keine eindeutige Antwort.

Das alles weist darauf hin, dass die Frage, wie sich dieser Krieg beenden lässt, nicht losgelöst von der Frage erörtert werden kann, welches Ende man dafür in Kauf zu nehmen bereit ist. Enden gibt es viele, aber nicht alle sind gleichermaßen wünschenswert. Aus der Perspektive einer auf Status quo, Kooperation und Menschenrechtsschutz setzenden europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung ist das oben skizzierte Ende nicht akzeptabel, würde es doch die grundlegenden Prinzipien der europäischen und der internationalen Friedensordnung mit Füßen treten: das Prinzip, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert werden dürfen, das damit einhergehende Recht auf territoriale Integrität, das allen Staaten gleichermaßen zukommt, und nicht zuletzt das Bekenntnis zu Menschenrechten. Es würde mithin die Sicherheit aller europäischen Staaten gefährden.

Wie steht es aus dieser Perspektive um die Frage, wie dieser Konflikt beendet werden kann? Der Blick auf die Entwicklungen in der Ukraine und ein knapper Durchgang durch die Forschung zu Kriegsbeendigungen legen nahe, dass ein baldiges Ende des Konflikts zu Beginn des Jahres 2023 unwahrscheinlicher wird. Stattdessen zeichnet sich ein langer Abnutzungskrieg ab, in dem die westlichen Staaten die Ukraine auf Jahre hinaus massiv wirtschaftlich, finanziell und vor allem militärisch unterstützen müssen.

Wie Kriege enden

Die Wege, auf denen Kriege enden können, sind zahlreich: Sie reichen von der militärischen Entscheidung, im Sinne einer Entscheidungsschlacht oder schlicht einer erdrückenden militärischen Überlegenheit, über Waffenstillstände und Demobilisierungsmaßnahmen zu Friedensabkommen mit und ohne Vermittlung Dritter bis hin zur Erschöpfung beziehungsweise dem Einfrieren von Konflikten ohne eindeutiges Ergebnis. Diese unterschiedlichen Enden – oder besser: Ausgänge – sind nicht vollständig unabhängig voneinander, sondern stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander. Während in Verhandlungen um ein Friedensabkommen gerungen wird, gehen oftmals die Kämpfe weiter, weil die Parteien hoffen, einen entscheidenden militärischen Vorteil auf dem Schlachtfeld erringen zu können, der ihre Verhandlungsposition stärkt. Waffenstillstände leiten oftmals keinen Frieden ein, sondern eher eine Ruhephase in einem Abnutzungskrieg, die dann endet, wenn eine oder beide Parteien wieder über hinreichend Ressourcen verfügen, um die Kämpfe fortzuführen. Viele Kriege haben kein eindeutiges Ergebnis, sondern gehen eher durch eine Reihe von Kriegsepisoden, die unterschiedliche Formen der (Zwischen-)Beendigungen aufweisen, bevor es zu einem dauerhaften Frieden kommt. Beispiele dafür sind etwa die Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarn, die teilweise bis heute keinen formalen Friedensschluss kennen oder erst jüngst in einen Friedensprozess überführt wurden.

Obwohl eine breite, datengestützte Forschung zu Gewaltkonflikten existiert, gilt das nicht in gleichem Maße für die spezifische Analyse von Kriegsbeendigungen. Allerdings gibt es Datensätze und -analysen, die sich mit der Frage der Beendigung von Gewaltkonflikten befassen. Dazu zählen beispielsweise das Conflict Termination Dataset des Uppsala Conflict Data Project (UCDP) oder auch die Daten der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg. Die Datensätze weisen zwar einige Unterschiede hinsichtlich der Zählung (Kodierung) gewaltsamer Konflikte und Konfliktbeendigungen auf, dennoch lassen sich grobe Muster der Kriegsbeendigung aus ihnen ablesen.

Um das mit Blick auf den aktuellen Konflikt in der Ukraine zu tun, muss aber beachtet werden, dass die Datensätze differenziert nach Konflikttypen ausgewertet werden müssen. Das ist wichtig, weil dort weitaus mehr innerstaatliche Konflikte als zwischenstaatliche kodiert sind. Schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich das Kriegsgeschehen immer mehr zu innerstaatlichen Konflikten hin verlagert, während zwischenstaatliche Kriege, wie jener zwischen Russland und der Ukraine, kontinuierlich in ihrem Anteil am Kriegsgeschehen abgenommen haben. Da zu vermuten ist, dass die beiden Kriegsformen unterschiedliche Dynamiken in ihren Ursachen, Verläufen und eben auch Enden aufweisen, ist es wichtig, zwischen ihnen zu differenzieren, um eine Verzerrung in den Ergebnissen zu vermeiden. Tut man das, gibt es aber gleichwohl einige Erkenntnisse, die auch für die aktuelle Debatte um den Russischen Angriffskrieg in der Ukraine von Relevanz sind.

Anders als vielfach argumentiert, wird dann deutlich, dass fast die Hälfte der vom UCDP kodierten Ausgänge zwischenstaatlicher Konflikte auf eine Form von Verhandlung verweisen. Die Kriegsbeendigungen durch Verhandlung steigen dabei nach Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren deutlich an, pendeln sich aber in den 2000er Jahren wieder auf dem Niveau des Kalten Krieges ein. Zu den Kriegsbeendigungen, die mit Verhandlungen zusammenhängen, zählt der Conflict-Termination-Datensatz sowohl begonnene und beendete Friedensverhandlungen beziehungsweise Abkommen (16 Prozent) als auch Waffenstillstandsabkommen (30 Prozent).

Nur 20 Prozent der zwischenstaatlichen Konflikte enden dagegen mit einem militärischen Sieg beziehungsweise einer Niederlage. Das steht in deutlicher Diskrepanz zu innerstaatlichen Konflikten, bei denen militärische Entscheidungen immerhin mehr als 30 Prozent der Fälle ausmachen. Für beide gilt aber, dass ein erheblicher Anteil der Konflikte ohne klares Ergebnis endet: Bei zwischenstaatlichen Konflikten sind es über 30 Prozent, bei innerstaatlichen Konflikten 40 Prozent. Hierbei handelt es sich um Konflikte, bei denen die Kriegshandlungen eher aus Erschöpfung erlahmen, aber bei entsprechendem Ressourcenzufluss auch schnell wieder aufflammen können. Es sind mithin eingefrorene Konflikte, wie wir sie in Russlands Nachbarschaft, etwa im Kaukasus, vielfach beobachten.

Allerdings sagen diese Zahlen nur wenig über die Nachhaltigkeit von Kriegsbeendigungen aus. Dazu zeichnen die jeweiligen Datensätze kein allzu optimistisches Bild: Wenn wir als Grundlage für einen dauerhaften Frieden annehmen, dass fünf Jahre keine Kriegshandlungen mehr stattfinden, so zeigt sich, dass in innerstaatlichen Konflikten militärische Siege beziehungsweise Niederlagen die höchste Wahrscheinlichkeit für einen nachhaltigen Frieden nach sich ziehen. In zwischenstaatlichen Konflikten, in denen militärische Siege noch einmal seltener auftreten und Verhandlungslösungen stärker vertreten sind, führen immer noch 37 Prozent aller Verhandlungslösungen zu einem Rückfall in die Gewalt.

Insgesamt weisen innerstaatliche Kriege durchschnittlich eine höhere Dauer auf als zwischenstaatliche Kriege. Dabei zeigt sich, dass Kriege, die mit einer militärischen Entscheidung (Sieg oder Niederlage) enden, statistisch gesehen von kürzerer Dauer sind, während solche, die in Verhandlungen enden, länger andauern. Das lässt sich umdrehen: Kommt es binnen der ersten Wochen und Monate nicht zu einer klaren militärischen Entscheidung zugunsten einer Seite, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der jeweilige Konflikt von langer Dauer sein wird. Das gilt auch für asymmetrische Kriege, bei denen eine Großmacht gegen einen konventionell stark unterlegenen Gegner antritt. Kommt es in solchen Konflikten nicht zu einer schnellen militärischen Entscheidung, ziehen sie sich lange hin, weil Großmächte, mit asymmetrischer Kriegsführung konfrontiert, lange brauchen, um eine Niederlage zu akzeptieren beziehungsweise die Unmöglichkeit des Gewinnens einzusehen und einen Rückzug einzuleiten.

Kommt es nicht zu einem raschen Sieg einer Seite in einem Konflikt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Verhandlungslösung, wenn für beide Konfliktparteien die Kosten der Kriegsführung jene der Verhandlungen systematisch übersteigen. Das ist der sogenannte Reifungsmoment in einem Konflikt, der allerdings theoretisch sehr viel klarer erscheint, als er empirisch zu beobachten, geschweige denn zu prognostizieren ist. Der klassische Fall für einen solchen Reifungsmoment ist der sogenannte mutually hurting stalemate, der dann entsteht, wenn die Konfliktparteien in einem Patt gefangen sind, in dem keine Seite mehr nennenswerte militärische Erfolge erzielt, aber beide erhebliche Verluste erleiden.

Ebenfalls möglich sind Situationen, in denen sich Präferenzen der Kriegsparteien deutlich verändern. Das kann zum Beispiel geschehen, wenn es auf einer Seite zum Regierungswechsel kommt oder die innenpolitische Unterstützung für den Kriegskurs zusammenbricht – oder auch durch das Verhalten dritter Akteure, die Druck ausüben können, indem sie Sanktionen verhängen oder militärisch unterstützen, und damit Anreize für Verhandlungen setzen. Dazu kann auch die Androhung der Beendigung externer Unterstützung zählen. Mit Blick auf die AKUF-Daten zeigt sich etwa, dass es bei externem Druck gerade der Wegfall dieses Drucks ist, der eine Kriegsbeendigung beschleunigt.

Die Lage am Ende des ersten Kriegsjahres

Was bedeuten nun diese Trends und Muster für eine Beendigung des Krieges in der Ukraine? Sie sind zuallererst das: Trends und Muster, die keine konkrete Vorhersage für einen speziellen Konflikt zulassen. Was sie aber erlauben, sind Aussagen über eher wahrscheinliche und eher unwahrscheinliche Szenarien für einen konkreten Konflikt, und um die soll es im Folgenden gehen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert mittlerweile seit mehr als einem Jahr an, obwohl diese "militärische Spezialoperation" nach den Vorstellungen des Kremls in wenigen Wochen hätte erfolgreich beendet sein sollen. Für diese Entwicklung, die mit Blick auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Gegnern – eine militärische Großmacht gegen eine "Nicht-mal"-Mittelmacht – für viele überraschend ist, sind mindestens zwei Faktoren mitverantwortlich: zum einen der Widerstandswille der ukrainischen Bevölkerung und seines Militärs, der vor allem den Kreml, aber auch viele Beobachter:innen im Westen verblüfft hat, zum anderen, und nicht unbedingt minder verblüffend, die schnelle und bis heute anhaltende politische, ökonomische, finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten.

Der Krieg war in den vergangenen Monaten von großer Dynamik geprägt. Nach anfänglichen Erfolgen der russischen Seite in der Eroberung großer Teile des Donbass kam es im Frühherbst 2022, nach der Regruppierung ihrer Kräfte im Osten, zu einer erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte. Seit Spätherbst/Winter ist diese Offensive ins Stocken geraten, was einerseits an den winterlichen Bedingungen, andererseits an der systematischen Bombardierung der ukrainischen zivilen Infrastruktur durch die russische Seite und dem Nachschub an russischen Soldaten infolge der Teilmobilisierung im Herbst liegt. Mittlerweile hat die Kriegsdynamik stark nachgelassen. Obgleich es gerade im Osten des Landes in der Gegend um Bachmut mit dem Jahreswechsel zu schweren Kämpfen mit erheblichen Verlusten für beide Seiten gekommen ist, verändern sich die Frontlinien nur mehr wenig. Es hat eine Abnutzungsdynamik eingesetzt, die gegenwärtig vor allem die russische Seite begünstigt, weil sie weit mehr Soldaten mobilisieren kann als die ukrainische und weil sie bereit ist, auch massive Verluste hinzunehmen.

Szenarien für ein Ende des Krieges

Diese knappe Lagebeschreibung verdeutlicht, dass aus Sicht der Kriegsbeendigungsforschung ein schneller Sieg für eine der beiden Seiten eher unwahrscheinlich ist. Eine eindeutige militärische Überlegenheit gab es schon in den ersten Monaten der Auseinandersetzung nicht, stattdessen ist auch über die Unterstützung der Ukraine durch den Westen eine Situation entstanden, in der keine Seite einen eindeutigen Vorteil hat. Das spricht für einen langwierigen Konflikt.

Sieg oder Niederlage

Die Unterstützung der Ukraine seitens des Westens ist in der Summe und in ihrer Konstanz zwar enorm, sie reicht aber gegenwärtig nicht aus, um das Kräfteverhältnis entscheidend zu verändern. Auch die Entscheidung im Januar 2023, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken, ändert daran vermutlich wenig. Die Kampfpanzer, die mit einiger Verzögerung vor Ort sein können, werden die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine sicherstellen – das heißt: verhindern helfen, dass sie den militärischen Konflikt verliert –, ihr aber nicht zum Sieg verhelfen.

Eine massive Steigerung gerade der militärischen Unterstützung der Ukraine ist derzeit unwahrscheinlich und wäre auch durchaus problematisch. Eine rasche und deutliche Steigerung der militärischen Unterstützung, etwa durch die Lieferung von Kampfflugzeugen, U-Booten oder Langstreckenwaffen, würde die Ukraine in eine deutlich bessere Position bringen. Dabei werden aber häufig zwei Aspekte vergessen: Zum einen die schwierige Materiallage vieler Bündnispartner, Deutschland eingeschlossen, was verfügbares Material betrifft sowie die Fähigkeit, schnellen Ersatz für die eigenen Streitkräfte zu beschaffen. Es herrscht schlicht ein Mangel an Munition und Ersatzteilen. Zum anderen besteht das Risiko einer ungewollten Entgrenzung des Konflikts auf Nato-Gebiet. Seit Beginn des Krieges hat Wladimir Putin auf jede Entscheidung westlicher Staaten, ein neues Waffensystem an die Ukraine zu liefern, mit der Drohung reagiert, man betrachte einen solchen Schritt als Kriegseintritt der Nato. Auf keine dieser Drohungen sind bislang Taten gefolgt. Das heißt jedoch nicht, dass das so bleiben wird. Eine massive Unterstützung durch zahlreiche Waffensysteme, die das Potenzial haben, tief in das russische Territorium vorzudringen, könnte einen Kipppunkt auslösen – oder auch nicht. Wir wissen es einfach nicht. Gerade in einer solchen Lage ist ein schrittweises Vorgehen ratsam, bei dem immer wieder geprüft wird, welche Konsequenzen Entscheidungen haben und ob sich die Lage dadurch verändert. Das führt nicht in die Selbstabschreckung, bremst aber die Dynamik der Waffenlieferung, wie sich an den Positionen wichtiger Unterstützerländer ablesen lässt, etwa, wenn US-Präsident Joe Biden deutlich macht, dass er keine Waffen liefern will, die die Ukraine nutzen könnte, um tief in russisches Territorium vorzudringen. Ähnlich äußerten sich auch der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Nato wird nicht direkt in diesen Krieg eingreifen, solange es nicht zu einem Angriff auf Nato-Territorium kommt, und die Nato-Staaten werden, mit guten Gründen, alles tun, um genau dies zu verhindern. Zu groß ist das Risiko einer nuklearen Auseinandersetzung. Trotz aller Unterstützung für die Ukraine gilt, dass die Nato-Staaten zuallererst eine Verantwortung für ihre Bevölkerungen tragen, die sie nicht suspendieren können oder sollten.

Auch für die russische Seite ist ein militärischer Sieg derzeit nicht sehr wahrscheinlich. Russland hat mit massiven Nachschubproblemen im Bereich Material, sowohl bei der Bereitstellung von Ersatz als auch von Ersatzteilen, zu kämpfen. Ebenso schwierig dürfte es hinsichtlich der Munitionslage aussehen. Daher ist auch von russischer Seite eine erfolgreiche Offensive in der nächsten Zeit eher nicht zu erwarten. Entsprechend lässt sich seit Längerem beobachten, dass Russland seine Verteidigungsstellungen ausbaut. Es stellt sich also weniger auf eine Offensive, sondern eher auf eine Langzeitverteidigung ein.

Ebenso unwahrscheinlich ist der kurzfristige Entzug der westlichen Unterstützung für die Ukraine, der ebenfalls, wie die Kriegsforschung zeigt, einen Einfluss auf eine schnelle Beendigung des Krieges haben könnte. In einem solchen Szenario, in dem der Westen Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung kappt, würde sich die Ukraine vermutlich nicht mehr lange behaupten können und auf eine militärische Niederlage zusteuern. Angesichts der bisherigen Kriegstaktiken der russischen Streitkräfte sowie der Äußerungen des Kremls zu den Kriegszielen ist in einem solchen Fall nicht davon auszugehen, dass die russische Seite sich mit den erreichten Gebietsgewinnen zufriedengeben würde. Wahrscheinlicher wäre eine Einnahme Kyjiws, der Sturz der Regierung und die Einsetzung einer russlandfreundlichen beziehungsweise von Russland gelenkten Regierung, die im nächsten Schritt dann – analog zu den kürzlich widerrechtlich annektierten Regionen im Donbass – einen Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation stellen würde. Dieses Ergebnis ist aus Sicht westlicher Staaten, die an einer regelbasierten europäischen und internationalen Ordnung festhalten, inakzeptabel. Daher ist auch dieses Szenario eher unwahrscheinlich.

Verhandlungslösung

Aber was bleibt dann noch? Ein Reifungspunkt, der Verhandlungen hervorbringen könnte, ist im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegenwärtig nicht zu erkennen. Zwar erlahmt die Dynamik des Konflikts seit dem Jahreswechsel deutlich, und die Verluste an Material und Personal nehmen auf beiden Seiten enorm zu, sodass wir es durchaus in Grundzügen mit einem Abnutzungskrieg zu tun haben. Aber beide Seiten setzen (noch) darauf, im Frühjahr die Dynamik wieder zu ihren Gunsten verändern zu können: Russland, indem es immer mehr Soldaten an die Front bringt und diese rücksichtslos als Kanonenfutter verschleißt, um die ukrainischen Streitkräfte durch schiere Masse zu erschöpfen; und die Ukraine, indem sie darauf hofft, so lange gegenhalten zu können, bis weitere Waffenlieferungen aus dem Westen eintreffen. Darüber hinaus haben sich beide Seiten auch öffentlich so stark hinsichtlich ihrer Kriegsziele gebunden, dass sie kaum noch Zugeständnisse machen können. Das gilt für Putin, der mit der Anerkennung der vier "Volksrepubliken" in der Ostukraine als russisches Territorium und seine fortwährende Propaganda Hardliner gezüchtet und gefördert hat, die ihm ein Zurückweichen kaum mehr gestatten würden, selbst wenn er es denn wollte. Das gilt aber ebenso für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der per Dekret festgelegt hat, dass mit Putin nicht verhandelt werden darf. Auch hier steht zu vermuten, dass seine Regierung Zugeständnisse in dieser Frage politisch nicht überleben würde.

Ohne eine deutliche Einflussnahme von außen – die entweder aus guten Gründen nicht gewünscht ist, wenn sie mit einer Verringerung der Unterstützung der Ukraine einherginge, oder nicht absehbar ist, weil etwa der "Friedensclub", wie er Lula da Silva vorschwebt, aufgrund des mangelnden Interesses wesentlicher Akteure wie China nicht zu erkennen ist – sind die Chancen für Verhandlungen gegenwärtig gering. Dennoch bleibt es wichtig, Gesprächskanäle mit der russischen Führung offenzuhalten, um zum einen deutlich zu machen, dass es für Russland immer noch einen gangbaren Weg aus diesem Konflikt gibt, wenn es Grundbedingungen erfüllt (den Rückzug seiner Truppen aus ukrainischem Staatsgebiet), und zum anderen Kommunikationsroutinen aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass Missverständnisse über Schritte der anderen Seite in Eskalationsspiralen führen. Denn diese Gefahr steigt, je länger der Krieg andauert.

Kein Ende

Angesichts dieser Ausgangslage ist gegenwärtig eine Nichtbeendigung des Konfliktes, der zwischen eingefrorenen und heißen Phasen wechselt, ein wahrscheinliches Szenario. In diesem wird der derzeitige Frontverlauf – von punktuellen Durchbrüchen abgesehen – relativ stabil bleiben, und beide Seiten werden vor allem in die Verteidigung gehen. Ein formales Ende des Konflikts würde das nicht bedeuten, sondern ein bewusstes Offenhalten, was für beide Seiten auf lange Zeit mit hohen Verlusten einhergehen wird.

Für die westlichen Verbündeten, insbesondere die EU-Mitgliedstaaten, heißt das in der Konsequenz, dass sie die Ukraine einerseits noch sehr lange mit erheblichen ökonomischen, finanziellen und militärischen Mitteln unterstützen müssen, damit sich diese gegen Russland behaupten kann und perspektivisch EU-, eventuell auch Nato-fähig wird. Andererseits wird es darum gehen, Russland weiterhin militärisch effektiv abzuschrecken, zugleich politisch zu isolieren und ökonomisch maximal zu schwächen, damit sich dessen Wirtschaft und insbesondere seine Rüstungswirtschaft nicht wieder erholen kann. Das wird den Unterstützerstaaten erhebliche Mittel abverlangen, die für andere Ziele und Herausforderungen nicht zur Verfügung stehen. Politisch wird wichtig sein, gerade auch die Länder des Globalen Südens für sich zu gewinnen. Wie sich Ende Januar bei der Reise des Bundeskanzlers nach Lateinamerika deutlich zeigte, vermeiden viele noch eine klare Parteinahme gegen Moskau. Daher gilt es, sie zumindest davon zu überzeugen, dass eine Anlehnung an Russland nicht in ihrem Interesse sein kann, weil damit die regelbasierte internationale Ordnung selbst zur Disposition steht. Dafür braucht es aber glaubwürdige Angebote an diese Länder, die deutlich machen, dass sie Russland (und China) für ihr Wohlergehen nicht benötigen. Der Westen müsste insbesondere deutlich mehr in den (Wieder-)Aufbau und die Pflege der Beziehungen zu Ländern des Globalen Südens auf allen Kontinenten investieren und endlich auf Augenhöhe mit ihnen über vertiefte Kooperationen verhandeln.

Fazit

Die Lage in der Ukraine ist für einen Friedensschluss gegenwärtig nicht günstig, eine Beendigung des Krieges unter akzeptablen Bedingungen für eine stabile europäische Friedensordnung eher unwahrscheinlich. Das kann sich ändern. Gewaltkonflikte stellen hochdynamische Konstellationen dar, deren Verlauf und Ergebnis sich selten genau prognostizieren lassen. Dennoch oder gerade deswegen ist es von Bedeutung, in Szenarien zu denken und die Implikationen dieser Szenarien zu durchdenken und vorauszuplanen. Derzeitig wird öffentlich kaum über die Implikationen einer Langzeitkonfrontation diskutiert, obwohl sie ein wahrscheinliches Szenario darstellt. Das ist verständlich, weil man die Unterstützung der Öffentlichkeit für die Ukraine nicht gefährden will. Zugleich aber wäre die öffentliche Diskussion einer Langzeitstrategie wichtig, um für Verständnis für zukünftige Belastungen zu werben und zugleich der russischen Seite zu signalisieren, dass man auch langfristig nicht nachgeben wird.

ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien Globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
E-Mail Link: deitelhoff@hsfk.de