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Wiederaufbau der Ukraine | Krieg in der Ukraine | bpb.de

Krieg in der Ukraine Editorial Redaktionelle Anmerkung 24. Februar 2022: Ein Jahr danach Von erwartbaren und überraschenden Entwicklungen Fünf Lehren aus der russischen Invasion Aus Krisen lernen Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine beenden? Frieden schaffen. Europas Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheit Ende der Ostpolitik? Zur historischen Dimension der "Zeitenwende" Erfolg und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland Wiederaufbau der Ukraine. Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen Reden über den Krieg. Einige Anmerkungen zu Kontinuitäten im Sprechen über Krisen, Kriege und Aufrüstung

Wiederaufbau der Ukraine Dimensionen, Status quo und innerukrainische Voraussetzungen

André Härtel

/ 14 Minuten zu lesen

Anders als in der Ukraine selbst hat die Wiederaufbaudebatte international an Schwung verloren. Dabei wären wegen der Komplexität des Unterfangens frühzeitige Planungen notwendig, um die Wiederaufbaukampagne mit den 2014 begonnenen Reformen zu verknüpfen.

Die Debatte um den Wiederaufbau der Ukraine begann schon wenige Wochen nach dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022. Bereits im Juli bekannte sich die Europäische Union zum Wiederaufbau des Landes in enger Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Staat und der Zivilgesellschaft. Seitdem hat die Wiederaufbaudebatte – anders als in der Ukraine selbst – international an Dynamik verloren. Der anhaltende Krieg und die Frage der Waffenlieferungen überlagern die Thematik, zudem fehlt es gerade innerhalb der EU an politischer Führung und entsprechenden Ressourcen. Dabei wären aufgrund der Erfahrungen mit früheren Wiederaufbaukontexten und der Multidimensionalität derartiger Kampagnen ein früher Start und umfangreiche Investitionen in eine strategische Planung nötig. Schon jetzt müsste in die erforderlichen Kapazitäten investiert werden, die einen Beginn des Wiederaufbaus erst ermöglichen. Auch werden in der Ukraine schon heute die politischen und rechtlichen Grundlagen für den Wiederaufbau und damit folgenreiche Tatsachen geschaffen. Die internationalen Partner sollten ihre Anstrengungen daher umgehend intensivieren und auf eine enge Verknüpfung der Kampagne mit dem seit 2014 in der Ukraine begonnenen Reformprojekt sowie einem eventuellen EU-Beitrittsprozess achten.

Dimensionen der Wiederaufbaudebatte

Die neben dem laufenden Krieg vielleicht größte Herausforderung sind die vielen Dimensionen, die sich hinter dem Konzept Wiederaufbau verbergen. Hierzu zählen unter anderem die Themen Sicherheit, Modernisierung, Zeithorizont, innerukrainische und internationale Voraussetzungen sowie die (immateriellen) Kriegsfolgen.

Erstens sind sich im Grunde alle Beobachter einig, dass Wiederaufbau und Sicherheit zwei Seiten derselben Medaille sind. Ersterer wird nur gelingen, wenn die Ukraine ein akzeptables Minimum an sicherheitspolitischer Stabilität aufweist und somit langfristige Investitionen in das Land sinnvoll sind. Dabei geht es sowohl um die kurzfristige Ertüchtigung der ukrainischen Luftabwehr zur Beruhigung der Gebiete jenseits der Front als auch um langfristige Sicherheitsarrangements. Diese sind – wie auch das unlängst von der "Working Group On International Security Guarantees for Ukraine" veröffentlichte Dokument zu "Sicherheitsgarantien" oder ein zukünftiger Nato-Beitritt – momentan noch kaum Gegenstand internationaler Debatten.

Zweitens wurde bereits bei der ersten Wiederaufbaukonferenz in Lugano, bei der im Juli 2022 mehr als 40 Staaten zusammen mit internationalen Organisationen über Hilfe beim Wiederaufbau berieten, festgehalten, dass es sich im Fall der Ukraine nicht um einen klassischen Wiederaufbau handeln kann. Denn dies würde bedeuten, ein oft dysfunktionales und stark von postsowjetischen Hinterlassenschaften geprägtes Gemeinwesen wiederherzustellen. Vielmehr müsse der historische Moment genutzt werden, um eine "neue Ukraine" entstehen zu lassen. Diese solle sich an der Entwicklung der konsolidierten Demokratien und Marktwirtschaften des Westens orientieren und die neue Frontlage des Landes berücksichtigen. Eine sehr ambitionierte Position ist hier diejenige, dass die Ukraine als "Green Ukraine" beziehungsweise umwelt- und energiepolitisches Vorzeigeprojekt wiederaufgebaut werden soll.

Eine der umstrittenen Fragen ist drittens, wann mit dem Wiederaufbau der Ukraine begonnen werden sollte. In der Ukraine sind sich staatliche und nicht-staatliche Akteure darüber einig, dass dies unmittelbar und bereits während des laufenden Krieges passieren sollte und auch kann. Viele Projekte jenseits der Front belegen das. Die Befürchtung ist hier groß, dass ein Verschieben von entsprechenden Maßnahmen auf die Zeit nach dem Krieg den Menschen die Hoffnung nehmen und Geflüchtete von einer Rückkehr abhalten könnte. Die internationalen Partner sind skeptischer und wollen sich zunächst auf die militärische Unterstützung sowie auf Sofortmaßnahmen konzentrieren, die die Ukraine durch den zweiten Kriegswinter bringen.

Bezüglich der innerukrainischen Voraussetzungen gilt viertens, dass die Ukraine bereits heute nicht mehr das Land ist, das sie bis zum 24. Februar 2022 war. Neben den Zerstörungen der Infrastruktur haben der Krieg und das herrschende Kriegsrecht die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten deutlich verändert. Im politischen System ist ein starker Trend zur weiteren Stärkung der Exekutive und damit auch zur Marginalisierung anderer Verfassungsinstitutionen offensichtlich. Weite Teile der zentralstaatlichen und lokalen Administration sind durch Flucht ausgedünnt und durch die Bewältigung des Kriegsalltags überlastet. Die Zivilgesellschaft ist vor allem damit beschäftigt, den Abwehrkampf zu unterstützen. Die Wirtschaftsleistung ist um mindestens ein Drittel zurückgegangen, das Land von externer Budgethilfe abhängig.

Fünftens hat sich die internationale Gemeinschaft einerseits klar zum Wiederaufbau der Ukraine bekannt, andererseits ist unklar, ob sie die enormen Mittel und den anhaltenden politischen Willen für dieses außerordentlich große Projekt aufbringen kann. Anders als in der jüngeren Vergangenheit sind Wille und Möglichkeiten, hohe Milliardenbeträge für jahrzehntelange Wiederaufbaukampagnen aufzubringen, begrenzt. Zu hoch sind die Kosten der Hilfsprogramme, die westliche Staaten schon angesichts der energiepolitischen Folgen des russischen Angriffskrieges schultern müssen. Entsprechend mangelt es an Führungsbereitschaft gerade innerhalb Europas und an externen strategischen Impulsen für den Wiederaufbau.

Zu einem umfassenden Verständnis von Wiederaufbau nach einem Krieg gehört sechstens auch die Überwindung der immateriellen Kriegsfolgen. Hierzu zählen die Therapie der Traumatisierungen von Kämpfern und übriger Gesellschaft, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen (transitional justice) und die Demilitarisierung der politischen Kultur. Langfristig sind es diese "weichen" Faktoren, die den infrastrukturellen Wiederaufbau erst nachhaltig machen. Momentan spielt diese Dimension, abgesehen von den Rufen nach einem Sondertribunal für russische Kriegsverbrecher, eine stark untergeordnete Rolle.

Post-Lugano-Vakuum: Wo stehen die Wiederaufbaubemühungen?

Die ukrainische Präsidialadministration hat im Frühjahr 2022 ein Dokument vorgelegt, das den ukrainischen Wiederaufbauplan skizziert. Demzufolge sollen Wiederaufbau und Modernisierung in drei Phasen, beginnend unmittelbar mit einer als "Kriegsökonomie" bezeichneten Phase, innerhalb von zehn Jahren umgesetzt werden. Von der Modernisierung des Verteidigungssektors bis hin zu einer effektiven Sozialpolitik wurden hier bereits konkrete Projektvorhaben eingebracht. Für die Umsetzung des Plans soll ein dem Präsidenten unterstehender Nationaler Wiederaufbaurat verantwortlich sein. Die Ukraine gab in Lugano an, für den gesamten Wiederaufbau bis zu 750 Milliarden Euro zu benötigen. Auch die ukrainische Zivilgesellschaft, repräsentiert durch über einhundert ukrainische NGOs, hat mit dem "Lugano Manifesto" eine langfristige Vision für den Wiederaufbau entworfen und damit gleichzeitig ein wichtiges Signal an die eigene Regierung gesendet. Demnach soll die Ukraine als "europäischer Staat", "repräsentative Demokratie" und "offene Marktwirtschaft" gestärkt und weiterentwickelt, "monopolistische" Tendenzen in Politik und Wirtschaft aber entschieden bekämpft werden. Die zivilgesellschaftlichen Akteure wollen eine aktive Rolle bei der Umsetzung des Wiederaufbaus spielen und nicht nur als "Watchdog" dienen.

Die EU wollte laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "Nukleus" der Wiederaufbaubemühungen sein. Nach der Konferenz in Lugano und der dortigen Ankündigung, eine Plattform aus politischen Vertretern, hohen Beamten und Experten schaffen zu wollen, war aus Brüssel aber nur wenig Substanzielles zu vernehmen. Keiner der Mitgliedstaaten hat bisher Führungsinitiative erkennen lassen, und offenbar fehlt es auch an Geld. Das im August 2022 erschienene "Rapid Damage and Needs Assessment" von Weltbank und EU-Kommission bezifferte die notwendigen Mittel auf rund 350 Milliarden Euro, davon 100 Milliarden Euro kurzfristig. Ende 2022 schätzte die Weltbank die Kosten aber schon auf über 500 Milliarden
Euro. Angesichts der russischen Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur verdrängten bei Konferenzen in Berlin, London und Paris Sofortmaßnahmen die langfristige Wiederaufbauplanung. Lediglich in der Debatte über die strukturelle Umsetzung der Zusammenarbeit mit der Ukraine zeichnete sich im Dezember 2022 Bewegung ab. So scheinen – entgegen der frühen EU-Ambitionen – die G7-Staaten mit einer "Multi-Agency Donor Coordination Platform" die koordinative Führung übernehmen zu wollen.

Die Bundesregierung hatte mit einer Expertenkonferenz im Oktober 2022 den Faden von Lugano aufgenommen. Die Konferenz sollte eine belastbare Strategie der EU für diese "Kraftanstrengung für Generationen" entwerfen und eine Geberkonferenz vorbereiten. Die konkreten Vorarbeiten für eine deutsche Rolle beim Wiederaufbau sind dabei auch in den betreffenden Ministerien angelaufen. Im federführenden Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurde unlängst eine Projektgruppe Ukraine gegründet, auch im Bundeswirtschaftsministerium, im Bundesbauministerium und bei der Staatsministerin für Kultur und Medien diskutiert man mögliche Beiträge. Ähnlich wie in der EU-Kommission stehen für die Bundesregierung derzeit aber noch der laufende Krieg und die unmittelbare Nothilfe für Geflüchtete im Vordergrund. Strategisch müsse sich der Wiederaufbau aus Sicht der Bundesregierung auf die zukünftige Sicherheit der Ukraine und deren Europäisierung konzentrieren, den Schwerpunkt bei der Finanzierung sieht sie auch bei privatwirtschaftlichem Investment. Erste gedankliche Vorarbeiten leistete auch die deutsche Wirtschaft, die sich einen "grünen, innovativen und EU-orientierten" Wiederaufbau wünscht.

Die ukrainische Regierung und die Zivilgesellschaft haben eine klare, wenn auch nicht deckungsgleiche Vorstellung vom Wiederaufbau. Bemerkenswert ist, mit welcher Dynamik und intellektuellen Tiefe Ukrainer in- und außerhalb des Landes trotz des Kriegsalltags an diesen Themen arbeiten. Gleiches kann von der internationalen Gemeinschaft nicht gesagt werden. Insbesondere auf Ebene der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten mangelt es nach Lugano an Dynamik. Es fehlen eine Konkretisierung des weiteren Vorgehens, verbindliche finanzielle Zusagen und Personalentscheidungen.

Zentralisierung und Erschöpfung: Politik und Gesellschaft der Ukraine im Krieg

In den westlichen Wiederaufbaudebatten dominieren die Fragen danach, wie die enormen Mittel für eine solche Kampagne aufzubringen sind, wie diese verwaltet werden sollen und wer die politische Führung übernimmt. Eine marginale Rolle spielen bisher die innerukrainischen Voraussetzungen des Wiederaufbaus. Nach den bemerkenswerten militärischen Erfolgen des ersten Kriegsjahres herrscht ein stark gestiegenes Vertrauen in die ukrainische Führung, in die einst für ihre Schwäche belächelten Institutionen und vor allem in die Zivilgesellschaft, der eine besondere Rolle beim Wiederaufbau zukommen soll. Allerdings hat der Krieg diese Akteure und ihr Zusammenspiel stark beeinflusst, weshalb hier im Hinblick auf einen erfolgreichen Wiederaufbau eine tiefere Analyse angebracht ist.

Auf institutioneller Ebene hat der Krieg eine Tendenz zur Stärkung der Exekutive gegenüber den anderen Verfassungsinstitutionen begünstigt, die bereits vor der Invasion zu beobachten war. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich so schon bis Ende 2021 die Kritik progressiv-liberaler Kräfte zugezogen, er würde einer Art "populistischem Autoritarismus" anhängen. Dafür sprach seine Nutzung der bereits großen Machtfülle des Präsidentenamtes und der absoluten Parlamentsmehrheit seiner Partei Sluga Narodu zum Ausbau von Präsidialamt und Sicherheitsrat zu faktisch der Gewaltenteilung entzogenen Machtzentren. Hinzu kam der Ausbau der Medienmacht des Präsidenten, zuletzt durch das "Anti-Oligarchengesetz". Während diese Schritte vor dem Krieg eher zur Konfrontation mit den anderen Gewalten und zu niedrigen Umfragewerten für Selenskyj führten, halfen ihm der Kriegskontext und das Kriegsrecht bei der Umsetzung dieser Ziele. Selenskyj ist heute ein unumstrittener Oberbefehlshaber mit sehr hoher Popularität, er dominiert nach der Zusammenschaltung der großen TV-Sender kurz nach Kriegsbeginn im "Telemarathon" den öffentlichen Raum und muss sich derzeit weder bedeutsamer politischer Opposition noch unbequemer institutioneller Einschränkungen erwehren.

Für den Wiederaufbau ist diese Machtstellung des Präsidenten, die auch nach einem möglichen Friedensschluss lange Schatten werfen wird, nicht unproblematisch. Es ist bereits ersichtlich, dass die Präsidialadministration ihre eigene Version eines Wiederaufbaus entworfen hat, der es an Inklusivität und an Rückbezug auf das 2014 vereinbarte Reformprogramm mangelt. So wurde der hastig entworfene Nationale Wiederaufbauplan im Grunde unter nur symbolischer Mitarbeit der Zivilgesellschaft verfasst und weist daher vor allem eine starke Neigung zu politisch nützlichen Großprojekten auf. Das Parlament, das sich vor Februar 2022 trotz der Mehrheitsverhältnisse eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt hatte, wird seit Kriegsbeginn immer mehr vom Präsidialamt dominiert. Die meisten Gesetze – auch im Bereich der von der EU geforderten Reformen – werden ohne politische Debatte im Rekordtempo verabschiedet. Als Kontrollinstrument, das gerade für einen gerechten und effektiven Wiederaufbau dringend notwendig wäre, droht die Verchovna Rada auszufallen. In eine ähnliche Richtung gehen die administrativen Reformen, die der Präsident trotz des Krieges im Bereich des Regierungsapparates anstrengt. Beobachter kritisieren das populistische Beharren des Staatsoberhauptes auf einer massiven Verschlankung des Apparats, die bereits im vergangenen Jahr zu einer funktional kaum nachvollziehbaren Fusion mehrerer Ministerien führte. Hier stellt sich die Frage, mit welchen Ressourcen sich die staatlichen Institutionen an der verwaltungstechnischen Großaufgabe des Wiederaufbaus beteiligen sollen.

Die Beziehung zwischen Zentrum und Regionen spielt im politischen System der Ukraine eine zentrale Rolle und hat sich in den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit immer mehr zur Sollbruchstelle eines funktionierenden Staatsaufbaus entwickelt. Daher ist sie auch für den Wiederaufbau von zentraler Bedeutung. Seit 2014 hat das Land eine Dezentralisierungsreform eingeleitet, die Subsidiarität und finanzielle Autonomie auf Gemeindeebene entscheidend gestärkt hat. Der Erfolg der Dezentralisierung gilt als eine der Grundlagen des erfolgreichen Abwehrkampfes der Ukrainer gegen die russische Invasion und für die anhaltende Stabilität des Landes. Die neue Machtbalance wurde allerdings von einem Großteil der politischen Eliten des Zentralstaates noch nicht verinnerlicht. Gerade Präsident Selenskyj und seinen engsten Vertrauten wird ein konfrontatives Verhalten gegenüber lokalen Eliten wie den mächtigen Bürgermeistern der Großstädte nachgesagt. Diese werfen dem Zentrum vor, die Beziehungen zu den Regionen und Kommunen stark zu politisieren und den Dezentralisierungsprozess auszubremsen. Der Konflikt hat sich während des Krieges durch zunehmende Ressourcenknappheit und den Durchgriff des Präsidenten über Militärverwaltungen auf die lokale Ebene noch verstärkt. Für ein Gelingen des Wiederaufbaus braucht es sowohl starke lokale Eigenverantwortung als auch ein funktionierendes Zusammenspiel zentraler und regionaler wie lokaler Körperschaften und Eliten.

Die westliche Vorstellung eines inklusiven Wiederaufbaus hebt stets auf die zentrale Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft ab. In der Tat hat sich die Zivilgesellschaft des Landes insbesondere nach der "Revolution der Würde" von 2014 eine Stellung innerhalb des politischen Systems erarbeitet, die im postsowjetischen Raum und darüber hinaus einzigartig ist. Nach 2014 wurden spezialisierte NGOs teilweise in den politischen Institutionenlauf eingebunden. Der Krieg hat die Zivilgesellschaft allerdings stark beeinträchtigt. Einerseits gab es eine Verschiebung weg von professionalisierten NGOs hin zu Freiwilligen, andererseits ist die überwiegende Mehrzahl der zivilgesellschaftlich Aktiven heute in den Kriegsalltag, die Unterstützung der Armee und die Bewältigung der humanitären Kriegsfolgen eingebunden. Überlastung und organisatorische Defizite sprechen derzeit eher gegen die der Zivilgesellschaft pauschal zugedachte Rolle beim Wiederaufbau. In jedem Fall müsste bereits jetzt erheblicher Aufwand betrieben werden, um die notwendigen Aufnahmekapazitäten für die enormen Mittel zu schaffen, die für den Wiederaufbau notwendig werden. Freiwillige müssten darin geschult werden, Organisationen zu gründen, Anträge zu stellen und größere Projekte zu implementieren. Letztlich ist von entscheidender Bedeutung, die Zusammenarbeit zwischen zentralstaatlichen, regionalen sowie lokalen Behörden und der Zivilgesellschaft zu verbessern. Bei aller berechtigten Kritik an den defizitären staatlichen Institutionen ist es eine Illusion, dass ein nachhaltiger Wiederaufbau durch eine einseitige Konzentration auf nicht-staatliche Akteure gelingen kann. Die internationale Gemeinschaft sollte deshalb auf ein schnelles Vorantreiben der ukrainischen Verwaltungsreform drängen, die Rekrutierung und Ausbildung professioneller Bürokraten durch spezifische Projekte fördern und Kapazitäten für inklusive Trialoge schaffen.

Zukunftsstrategie: Das Dreieck Wiederaufbau, Reformen, EU-Beitrittsprozess

Aus Sicht des neutralen Beobachters war die Vergabe des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine am 23. Juni 2022 eine erstaunliche Entwicklung – vor allem, weil die Umsetzung des Assoziierungsabkommens von 2014 bis zum Kriegsbeginn 2022 ins Stocken geraten war. So ging es Präsident Selenskyj, ähnlich wie seinem Vorgänger Petro Poroschenko, vor allem um den mittelfristigen Machterhalt. Die entscheidende Reform des Justizwesens beispielsweise wurde nur bis zu dem Punkt von der Regierung unterstützt und vorangetrieben, ab dem die Interessen der Abgeordneten der präsidentiellen Mehrheitsfraktion beziehungsweise der Angehörigen des Präsidialamtes bedroht waren. Mit der Generalstaatsanwaltschaft und dem mächtigen Inlandsgeheimdienst steuerte der Präsident der Autonomie der von der internationalen Gemeinschaft stark unterstützten neuen Antikorruptionsinstitutionen geschickt entgegen. Der Krieg verstärkte diesen Trend und führte zu einer schleichenden, größtenteils jedoch unbeabsichtigten Entfernung von den 2014 für sämtliche Politikfelder vereinbarten Reformen.

Die EU stand dieser Entwicklung vor dem Krieg mehr oder weniger machtlos gegenüber. Da eine Mitgliedschaft nicht zur Debatte stand und sich in der Ukraine der Eindruck verfestigte, dass mehr als ein Assoziierungsabkommen mittelfristig nicht realistisch sei, war die Konditionalitätspolitik der Union ausgehöhlt. Diese Entwicklung ist durch den Krieg noch verstärkt worden, da der erfolgreiche Abwehrkampf das Selbstbewusstsein der Ukrainer gegenüber der Außenwelt noch verstärkt hat und man Brüssel in der moralischen Bringschuld sieht. Der voraussichtlich Hunderte Milliarden Euro teure Wiederaufbau der Ukraine muss in diesem Spannungsfeld zwischen der limitierten Reformbereitschaft ukrainischer Eliten und fehlender Konditionalität externer Akteure analysiert werden. Im Zweifel tragen die enormen Mitteltransfers dazu bei, eine von den derzeitigen Kreisen um Präsident Selenskyj entworfene exklusive Version der Entwicklung der Ukraine zu verwirklichen und über lange Zeit festzuschreiben.

Für die EU ist ein baldiger Beginn des Beitrittsprozesses aus diesen Gründen fast schon alternativlos. Er ist wohl die einzige Möglichkeit, die Verwendung der jetzt schon investierten Ressourcen in Form von Waffen und Budgethilfen in einem festgesetzten rechtlichen Rahmen zu kontrollieren. Dies trifft umso mehr auf die Wiederaufbaumittel zu – hier hatten Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft schon vor der Entscheidung über den Kandidatenstatus betont, dass nur ein Beitrittsverfahren dafür sorgen könne, dass die Mittel in der Ukraine nicht zweckentfremdet werden. Die Risiken bleiben erheblich. Auch ein Beitrittsverfahren bliebe wohl stark von geopolitischen und moralischen Fragen und damit hohem öffentlichen Druck überschattet, der entsprechende negative Spielraum ukrainischer Regierungen hoch. Um sich aus dieser Zwangslage zu befreien, bleibt der EU im Grunde nur die Option einer Neugestaltung des Beitrittsverfahrens. So ließe sich darüber nachdenken, den Weg zur formalen Mitgliedschaft abzukürzen, für viele der zu erwartenden Beitrittsvorteile – wie etwa den Zugriff auf Strukturfonds – aber längere Übergangsfristen einzuführen. Ein alternativer Ansatz wäre, zweigleisig zu fahren und der Ukraine jenseits des üblichen EU-Beitrittsverfahrens langfristige Unterstützung im sicherheitspolitischen Bereich zuzusichern (über sogenannte Security Compacts bis hin zu Sicherheitsgarantien von EU-Mitgliedern). So könnte die Union den Beitrittsprozess wie in der Vergangenheit glaubhaft als Anpassungsprozess gestalten – ohne sich der Kritik auszusetzen, man erkenne die historische Tragweite der Unterstützung Kyjiws nicht. Die EU gewönne somit auch mehr strategischen Zugriff auf den Wiederaufbau und könnte die ukrainische Regierung wieder stärker auf das Reformprogramm von 2014 verpflichten.

Schluss

Nach mehr als einem Jahr Krieg stellen sich die Kriegsparteien und ihre Verbündeten zunehmend auf eine langfristige, mehrjährige Konfrontation ein. Auch aus diesem Grund genießt das Thema Wiederaufbau der Ukraine derzeit keine Priorität. Die westlichen Partner der Ukraine, darunter auch die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten, denken derzeit stärker in Sofortmaßnahmen, um das unmittelbare Überleben des ukrainischen Staates zu sichern. Der Wiederaufbau des Landes, als "Jahrhundert-Projekt" beschworen, sollte trotzdem auf der Agenda der internationalen Gemeinschaft bleiben. Die Ukrainer brauchen die Vision einer besseren Zukunft, um den Kampf gegen die russische Invasion durchstehen zu können. Die westlichen Partner des Landes sollten daran interessiert sein, dass die Nachkriegsukraine nicht durch dauerhafte Instabilität oder autoritäre Tendenzen zum politischen Bumerang für das europäische Projekt wird. Deshalb sollten vor allem die europäischen Partner der Ukraine schon jetzt in Strategie und Kapazitäten einer Wiederaufbaukampagne investieren und diese eng mit dem 2014 begonnenen Reformprojekt und einem zügig zu beginnenden EU-Beitrittsverfahren verknüpfen.

ist Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
E-Mail Link: andre.haertel@swp-berlin.org