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Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa. Hypothesen zum gesamteuropäischen Regionalismus | APuZ 36/1973 | bpb.de

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APuZ 36/1973 Gesamteuropäische Kooperation 1970-1973. Versuch einer Zwischenbilanz Die Vorbereitungsgespräche in Helsinki für eine „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Osteuropa Zur Praxis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit *) Die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Osteuropa Die wissenschaftlichen Austauschbeziehungen zu den osteuropäischen Ländern Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa. Hypothesen zum gesamteuropäischen Regionalismus Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperations-Politik Auswahlbibliographie zu Fragen der Zusammenarbeit zwischen Ost und West in Europa

Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa. Hypothesen zum gesamteuropäischen Regionalismus

Gerda Zellentin

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gerda Zellentin: Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa Die Forschungen zur regionalen Integration haben eine Reihe von Hypothesen ergeben, die zusammengenommen allerdings noch nicht dem Anspruch einer Theorie genügen können. Sie erlauben aber die Formulierung eines Satzes von Variablen, mit dem der angenommene eProzeß einer Assoziierung der unterschiedlichen Systeme in West-und Osteuropa zumindest heuristisch begriffen werden kann.

Die Frage, ob regionale Kooperation und Integration friedensfördernde Wirkungen haben, d. h. ob sie die Konfliktanfälligkeit der beteiligten Länder mindern, ist von der Regionalismusforschung bisher nicht eindeutig beantwortet worden. Die versuchten Antworten beziehen sich zudem ausschließlich auf system-homogene Regionen Die besonderen Probleme der regionalen Kooperation und Verflechtung zwischen divergierenden bzw. antagonistischen Systemen und Akteuren sind von der amerikanischen Forschung überhaupt nicht und von der europäischen bislang vorwiegend unter institutioneilen Gesichtspunkten bzw. bei der Analyse der Formalstruktur der intersystemaren Beziehungen behandelt worden Die funktionalistisch-praxeologischen Prozeßanalysen und Präskriptionen der intersystemaren Beziehungen (ISB) in Europa die in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, waren stark an den Akteuren orientiert; sie erfaßten vornehmlich Vorstellungen, Verhalten, Lernen und Verhandeln der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Eine Grunddeterminante der Friedlosigkeit, nämlich das Verhältnis zwischen struktureller Gewalt innerhalb der Staaten und der regionalen Strukturen zwischen ihnen wurde daher nur mangelhaft reflektiert.

Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, einen Satz von Variablen zu entwickeln, mit dem sich der Prozeß der intersystemaren regionalen Kooperation analysieren und seine Friedensfähigkeit beurteilen läßt. Diese Variablen wurden teilweise den empirisch belegten Generalisierungen entlehnt, die aus komparativen Regionalstudien hervorgingen. Deren analytischen Unzulänglichkeiten sind daher auch in diesem Zusammenhang zu beachten: E. B. Haas bemängelt, daß „die Theorien beklagenswert unspezifisch und inkonsistent (seien). Weder die abhängige Variable noch die unabhängigen Variablen, die zusammengenommen die möglichen Bedingungen darstellen, durch die die abhängige Variable beschrieben wird, (seien) klar formuliert"

I. Die abhängige Variable

Die Formulierung der abhängigen Variable, die als Maßstab für die Beurteilung einer integrativen Wirkung der intersystemaren Transaktionen, Perzeptionen, Lernvorgänge und Institutionalisierung in Europa dient, ist in diesem Zusammenhang besonders problematisch.

Die zumindest temporär angenommene Endsituation der Assoziierung antagonistischer Systeme ist erstens nur heuristisch begreifbar, da kein Präzedenzgeschehen in der Geschichte empirisch nachzuweisen ist. Zweitens ist zu beachten, daß die intersystemaren Beziehungen zum Kreis derjenigen gesellschaftlichen Prozesse gehören, „deren Wesen keineswegs aufgrund der fertigen Gestalt erkannt werden kann und darf, sondern im vornhinein auf jener Entwicklungsstufe erkannt werden muß, auf der ihr Verständnis zu einem wesentlichen Faktor ihres Verlaufs wird" Mit anderen Worten: selbst ein vor-läufiges Ziel der intersystemaren Annäherung kann in Europa bestenfalls ein bewegliches sein, das bei jedem Schritt in seine Richtung neu anvisiert und gesteckt wird. Daraus folgt, daß die (vor allem von den Kritikern der intersystemaren Kooperation oft geforderte) Postulierung idealtypischer bzw. konstitutioneller Endzustände der Kooperation und Integration politisch und wissenschaftlich gleichermaßen zum sterilen, d. h. handlungshemmenden Rigorismus verkommen müßte

Die End-und Etappenziele der intersystemaren Kooperation, die von den politischen Akteuren mit „Europäische Friedensordnung", „europäisches Sicherheitssystem" oder auch „gesamteuropäische Handlungsunion" umschrieben werden, sollen, den offiziellen programmatischen Äußerungen zufolge, graduell und sektoral verwirklicht werden. Der erste Schritt im Bereich der Sicherheit soll zu einer multilateralen Abmachung über Fragen der europäischen Sicherheit (Gewaltverzicht, Kodex des Wohlverhaltens etc.) führen. Daneben ist ein verstärkter Wirtschaftsaustausch geplant, vor allem eine erweiterte intersystemare Koproduktion, die die Beschränkungen des Ost-West-Handels abbaut und Zahlungserleichterungen (z. B. in Form vergrößerter „Swings") dringlich macht. Die entsprechenden Abmachungen auf den Gebieten der Wirtschaft, Sicherheit und wissenschaftlich-technischenZusammenarbeit werden sich, so wird vermutet, dergestalt vermehren, daß schließlich zur Entlastung der Unterhändler ein alle diese Tätigkeiten umfassender Generalvertrag abgeschlossen wird, in dem für die Institutionalisierung der Aufgaben der gesamteuropäischen Konferenz bzw. Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Vorkehrungen getroffen sind. Diese Organisation wird intergouvernementale Beschlüsse im Konsensus fassen, an deren Vorbereitung die gesamteuropäischen und subregionalen Organisationen bzw. neu zu errichtende Kommissionen teilnehmen, die ihr zugeordnet werden. Autorität und Legitimität verbleiben großenteils bei den Nationalstaaten. Auch die subregionalen Autoritätsstrukturen bestehen weiter; sie werden sich allerdings in funktionalen Sektoren (Wirtschaft, Technik, Wissenschaft) intersystemar überlappen.

Die abhängige Variable präsentiert sich folglich als „Sicherheitsgemeinschaft" (K. Deutsch) mit „asymmetrischer regionaler Überlappung" der organisierten Kooperationsbereiche. Die Europäische Friedensordnung ist ein durch die KSZE organisiertes, multistabiles System wachsender, intersystemar geregelter Teilbereiche, in dem der Wert militärischer und struktureller Gewalt bei der Verteilung von Gütern fortlaufend herabgesetzt wird.

II. Die unabhängigen Variablen

Der oben umrissene Kooperationsbereich wird bestimmt durch eine Reihe von unabhängigen Variablen, die die Triebkräfte der intersystemaren Zusammenarbeit anzeigen. Sie wurden formuliert anhand der verifizierten komparativen Thesen über regionale Integration, anhand der marxistisch-leninistischen Ideen zur intersystemaren Kooperation und aufgrund der seit Ende der sechziger Jahre gemachten praktischen Erfahrungen mit der Interaktion zwischen Ost und West

1. Die großräumige Rationalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten in Europa zur vollen Entfaltung der industriell-technischen und wissenschaftlich-technischen Zivilisation wird von wissenschaftlichen Beobachtern und politisch Beteiligten als die säkulare Triebkraft internationaler Kooperation schlechthin postuliert. Diese Internationalisierung erfaßt Sozialismus und Kapitalismus gleichermaßen und schafft Ansätze für eine gemeinsame Bewirtschaftung und Administration ökonomischer oder gesellschaftlicher Teilbereiche Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die monomane Maximierung von Sicherheit in beiden Systemen abgelöst wird von dem Streben nach Wohlfahrtsmaximierung. Erst wenn die ökonomische Rationalität (der Bedürfnisbefriedigung) auch das außenpolitische Verhalten mitbestimmt, kann die industriegesellschaftliche Modernisierung sich voll entfalten.

2. Eng verbunden mit der Internationalisierung des wirtschaftlich-technischen Lebens sind die wachsenden Transaktionen. Die Vermehrung des wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Austausches zwischen Ost und West hat einen unmittelbaren Einfluß auf die Erwartungen und somit auf das Verhalten der Akteure. Wächst das Volumen der Transaktionen im Vergleich zu dritten Ländern beschleunigt an, dann wird die Perzeption der Interdependenz bei den Mitgliedern einer regionalen Gruppierung gestärkt Haas behauptet, die Transaktionen sagten über die Qualität der zustande kommenden Bindungen nichts aus. „Ob sie .. . auf Vertrauen oder Gier gegründet sind, bleibt eine offene Frage."

Immerhin entstehen mit erhöhter Transaktionsfrequenz dauerhafte Interessen an einer reibungslosen Fortführung bzw. Optimierung der Geschäfte, die die Akteure des neuen Systems institutionell abzusichern trachten, damit sie auch künftig auf positive Ergebnisse vertrauen können. Außerdem werden zwischen Zentralverwaltungswirtschaften und Marktordnungen eine Vielzahl von zwischenstaatlichen Abmachungen und Institutionen geschaffen, die die systemischen Unterschiede partiell ausgleichen. Die Basis dieser Bemühungen wird eher durch Kontrolle und Vertrauen (als Entlastungsmechanismen) als durch Gier oder andere konflikttreibende Faktoren gebildet. Da alle Transaktionen zwischen Ost und West politisch-administrativ sanktioniert werden, sind sie enorm wichtige Indikatoren für die Kooperationsbereitschaft der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Mit jeder vermehrten Transaktion entstehen neue standardisierte Prozeduren zur Koordination und Konfliktlösung, Garantien der Investitionen, durch die Regierungen einbezogen werden, und gegebenenfalls intersystemare Organisationen, die das neue Verhalten festlegen.

Die vergleichbaren Transaktionen in system-homogenen Integrationsbereichen sind viel weniger politisch relevant, da sie von den interessierten Produzenten(-gruppen) und Verbänden auch ohne staatliche Intervention hergestellt werden. Intersystemare Transaktionen zeigen mithin einen eingebauten „spillover-effect" (Haas), der eine Kommutation in den sozialökonomischen und den administrativ-politischen Sektoren der antagonistischen Gesellschaften bewirkt.

Die Bedeutung der Struktur der Transaktionen für ihre Konflikt-oder Friedensfähigkeit ist umstritten. Galtung postuliert die Symmetrie der Austauschverhältnisse als friedensför, dernd Dagegen kommt eine Reihe von Forschern aufgrund historischer Analogien zu der These, daß gerade die wirtschaftlich-technologische Ungleichheit zwischen Staaten stark zur Kooperation und Hilfeleistung motiviert, weil der Nutzen an unterschiedlichen Werten — z. B. Prestige und Einfluß für die reicheren, zusätzliche Güter für die ärmeren Länder — von allen Beteiligten positiv perzipiert und die Belastung (wegen der unterschiedlichen Fähigkeiten und Potentiale) als tragbar erachtet wird. Besondere Bedeutung in der Region gewinnen Länder und Gebiete, deren Versorgung mit öffentlichen Gütern (ausgebauter Infrastruktur, Technologie, Know-how, Administration, Sicherheit, Wohlfahrt, etc.) besser ist als die der Umwelt, nämlich die sogenannten Kernbereiche (coreareas) der Transaktionen. In ihnen zeigt sich das Entwicklungsgefälle der Kooperierenden. Die damit verbundene „Ungleichheit vermag die Integration in einigen wirtschaftlichen und militärischen Aufgabenbereichen zu beschleunigen, wenn der Kernbereich besondere Vorteile (pay offs) anzubieten hat (vgl. die Bundesrepublik im Verhältnis zur EWG). Die Ungleichheit behindert die Integration allerdings dann, wenn derartige Vergünstigungen ausfallen." (Vgl. hierzu das Verhältnis der Sowjetunion zum RGW.)

Voraussetzung für die integrationsfördernde Wirkung des Kernbereichs sind finanzkräftige, kreditwillige Gruppen, die bereit sind, materielle „Vorleistungen", d. h. „einen unver-hältnismäßig hohen Anteil der Kosten bei der Bereitstellung öffentlicher Güter zu übernehmen. Werden die Gesamtkosten auf eine zahlenmäßig große Bevölkerung verteilt, dann können die marginalen Kosten, die jedem einzelnen bei der Beschaffung eines ansehnlichen Anteils an öffentlichen Gütern entstehen, so gering erscheinen, daß sich der Aufwand (der Vorleistung) lohnt"

Im gesamteuropäischen System treffen zwei Kernbereiche aufeinander: die Sowjetunion mit hauptsächlich negativen Sanktionen (Repressionen) und die Europäische Gemeinschaft mit positiven Sanktionen (materiellen Vorteilen). „Während der Austausch von Vorteilen zur Stabilität und kontinuierlichen Interaktion tendiert, führt der Austausch von Repressionen (und Bedrohungen) eher zur Instabilität und schließlich zum Abbruch der Interaktion."

Da die Anwendung negativer Sanktionen im gesamteuropäischen System ausgeschlossen wird, bleiben als strukturierende Faktoren nur die materiellen Vorteile; sie sind ein Gestaltungs-(Führungs-) instrument in den Händen derjenigen, die sie in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen und Verwalten können.

3. Kooperationsinitiierende und -fördernde Interessen und Perzeptionen. Die Initiierung von Kooperation und Integration bzw. von intersystemarer Verflechtung verlangt zusätzliche Energien (Potentiale), die in bestimmter — nämlich wachstumsfördernder — Weise geschaffen und umverteilt werden müssen. Hier stellt sich die Frage, welche Akteure aus welchen Interessen diesen Energiestoß abgeben.

Nach dem bereits zitierten Kostenkalkül von Russett und Sullivan kommen nur solche sozialen Gruppen in Frage, die bei der Bereitstellung neuer kollektiver Güter wie Wohlfahrt und Sicherheit für Gesamteuropa privat und als Gruppe langfristig so viele Vorteile erwarten, daß sie zusätzliche Ressourcen zum Start der Kooperation zur Verfügung stellen.

Diese „Vorleistung" wird den Eliten in hoch-entwickelten, reichen Volkswirtschaften leichter fallen als in minder entwickelten. Das gleiche trifft auf die Mehrzahl der Steuerzahler zu; insgesamt jedoch ist das Motivations-potential der Bevölkerung sehr viel geringer als das der Unternehmer, die private Gewinne oder Vorteile erhoffen, bzw. als das der politischen Eliten, die sich durch verbesserte Bedürfnisbefriedigung im Lande eine Chance der wirksameren Systemsteuerung und -Stabilisierung (einschließlich seiner partiellen Änderung) versprechen.

Die Integrations-oder Kooperationsinteressen der Bevölkerung sind u. a.deshalb schwach, weil nicht alle Erwerbsgruppen automatisch von der Annäherung profitieren, sondern einige durchaus Einbußen an ihrem Güterstand erleiden müssen Diese Entwicklung ist allerdings bei der Initiierung der intersystemaren Kooperation weniger zu befürchten als bei den regionalen Integrationsprogrammen. Aus den bisher verfolgten Strategien leitet Nye die These ab, es käme nicht so sehr auf eine Balance der Nutzenvorteile der Kooperierenden an, die in absoluten Zahlen über Ressourcen und deren Zuwachsraten zu messen sei, und die von Galtung zur Voraussetzung friedensfördernder Kooperation erhoben wird sondern vielmehr auf die Perzeption der annähernd gleichmäßigen Verteilung der Vorteile in einigen (nicht simultan in allen) Kooperationsbereichen In dieser These ist die Möglichkeit eingeschlossen, daß die kooperationswilligen und -interessierten Kräfte die ihnen genehmen Informationen über die Nutzenverteilung so vermitteln (Propaganda, Subventionen, etc.), daß eine entsprechende Perzeption bei den betroffenen Massen zustande kommt.

Die Kompatibilität der Interessen (Werthaltungen) der kooperationsfördernden Eliten und ihre strukturelle Kongruenz werden als weitere Bedingungen für regionale Assoziation genannt

Teilt man die Akteure in Ost und West nach ihren gesellschaftlichen und politischen Funktionen ein, dann ergeben sich „funktionale Äquivalente" zwischen Unternehmensleitungen, Verbänden und staatlichen Funktionären, die in beiden Systemen den Austausch mit ihren Konterparts zum Zwecke der optimalen Ausnutzung der großräumigen Produktion bei vergrößerter Effizienz und Produktivität betreiben. Ihr gemeinsames Ziel ist die Vergrößerung des Produktionsvolumens, Erhöhung des Lebensstandards (Massenkon-sum), aber auch die Anhebung des wissenschaftlich-technischen Niveaus der Produktion etc. Von einer Humanisierung der bestehenden Industriegesellschaften durch intersystemare Beziehungen ist keine Rede. Angesichts der verfolgten ökonomischen Ziele ist es durchaus möglich, daß die Chancen der sozialen und individuellen Emanzipation durch diese Zusammenarbeit eher verstellt als gefördert werden. Es ist nämlich fraglich, ob durch die Ausweitung des Verbrauchs, die Freigabe von Zeit zur Verfügung der Menschen, die Verbesserung der Bildung etc. solche Impulse zur Teilhabe an den lenkbaren Prozessen der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Formen freigesetzt werden, die fortlaufend Motive zur Entfaltung des Menschen und zur Humanisierung der Herrschaft produzieren helfen Voraussetzungen dafür wären außerdem demokratische Regelungs-und Partizipationsorgane, die den politischen und wirtschaftenden Eliten in Ost und West die jetzige Position bzw. Bastion ihrer Herrschaft streitig machen würden. Unterstellt man, daß die kooperationsinitiierenden Kräfte auch diejenigen sind, die das neue gesamteuropäische Kooperationssystem erhalten, dann läßt sich unschwer vorstellen, daß der intersystemar erwirtschaftete Mehrwert zwar unter den Arbeitern großzügig verteilt wird, den Belegschaften selbst eine Mitbestimmung an diesen Entscheidungen der Umverteilung aber nicht eingeräumt wird. Die international aufeinander abgestimmten wirtschaftspolitischen Steuerungsmechanismen stellen in den Händen der integrationswilligen Eliten ein mächtiges Instrument zur Erhaltung und Stabilisierung bestehender Verteilungssysteme dar; es bedürfte daher der allerstärksten Solidarität der organisierten Arbeiterschaft und einer schlagkräftigen Organisation, damit die Vorteile aus der multinationalen Streuung der Produktionsstätten im intersystemaren Bereich mehr dem Nutzen der Produzierenden zugute kämen. Im Augenblick gewinnt man allerdings den Eindruck, daß der zur Herstellung von Solidarität notwendige Aufwand an Zeit, Energien und Stimmen von diesen offenbar höher veranschlagt wird als der aus solidarischen Aktionen oder langfristig aus der Mitbestimmung mögliche Zugewinn an Wohlfahrt und Freiheit.

4. Meinungen der Bevölkerung zur intersystemaren Kooperation. Aus dem westeuropäischen Integrationsbereich ist bekannt, daß junge Leute der Internationalisierung eher zustimmen als ältere, und daß die besser ausgebildeten, die zudem mit ihrem Lebensstandard zufrieden sind, zu hohen Prozentsätzen ebenfalls pro-integrativ eingestellt sind Ähnlich spezifizierte Umfragen fehlen in den osteuropäischen Ländern. Immerhin gestatten die Befragungen, die westeuropäische Meinungsforschungsinstitute unter Reisenden aus osteuropäischen Ländern (Touristen und Geschäftsleuten) durchführen eine gewisse Orientierung: ca. 80% der befragten Osteuropäer sprachen sich für eine Annäherung ihrer Länder an die Europäische Gemeinschaft bzw. für eine gesamteuropäische Ordnung aus. Von diesen Einstellungen darf nicht auf eine Bereitschaft bei der europäischen Bevölkerung, materielle Belastungen zugunsten der Kooperation auf sich zu nehmen, kurzgeschlossen werden. Abgesehen von dem fraglichen Wert demoskopischer Umfragen zur Erkundung von Bedürfnissen, dokumentieren sie aber jene überwiegend positive Anteilnahme an der intersystemaren Kooperation in Europa, die es den agierenden Eliten überhaupt erst erlaubt, Transaktionen in größerem Umfang einzuleiten. 5. Die Institutionalisierung der Transaktionen, Erwartungen, Interessen, d. h. ihre fortlaufende gemeinsame Regulierung ist eine Voraussetzung für die Interdependenz der intersystemaren Akteure.

Dieser These wird in der neueren Literatur auch widersprochen. Es wird darauf hingewiesen, daß durch die Proximität der Antagonisten in multilateralen Institutionen die tiefen Widersprüche zwischen ihnen aufbrechen und folglich die konflikttreibenden Kräfte mehr betont würden als die ausgleichenden. Zweifellos eliminieren die Institutionen die Konflikte nicht, aber sie verändern ihre Wirkungen. Diese lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:

— Die wichtigste Funktion gesamteuropäischer Institutionen besteht darin, widersprüchliche Wertsysteme, die die Kumulierung der Konflikte fördern, durch die Regelung von Knappheitsproblemen zu unterlaufen. (Die intersystemare Zusammenarbeit dient der Produktion und dem Austausch knapper Güter wie Sicherheit, Wohlfahrt und Freizügigkeit.) — Die Rangangleichung unterschiedlich mächtiger Staaten ist ein weiterer konfliktmindernder Faktor. Sie wird bewirkt durch das Prinzip „ein Land eine Stimme", d. h. die de jure Gleichberechtigung aller Mitglieder der Institutionen; sie verhindert, daß die wirtschaftliche Ungleichheit politisch auf Kosten der Schwächeren ausgenutzt werden kann.

— Die intersystemaren Institutionen dienen als Appellationsinstanzen, in denen hegemoniale Pressionen der Einsicht der Öffentlichkeit preisgegeben und die reziproken Verdächtigungen der Konterrevolution und Subversion untersucht werden können.

— Für die prestige-orientierten ideologischen und nationalistischen Kräfte in Europa ergibt sich hier die Gelegenheit, durch eine Kompensation von Abstimmungssiegen und -niederlagen den diplomatischen „Gesichtsverlust" zu vermeiden.

— Schließlich ist die Problemlösung der Experten in permanenten intersystemaren Organen ein Mittel, um mögliche diplomatische deadlocks zu überwinden. Die antagonistischen Eliten begeben sich in diese Institutionen, weil sie annehmen, daß sich die dort in Gang gesetzte Entwicklung im Sinne ihres eigenen Systems lenken ließe.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Grenzen der intersystemaren Kooperation. Die zu beobachtende Expansion der Kooperations-und Koproduktionsvorhaben zwischen Ost-und Westeuropa wird dazu führen, daß eine wachsende Anzahl sozialökonomischer Bereiche systemneutral reguliert wird. Grenzpunkte der Kooperation können an verschiedenen Stellen gesetzt sein:

a) dort, wo die begründete Vermutung besteht, daß durch stetige Vermehrung der Kooperationspläne die Grundstrukturen der beteiligten Systeme (Eigentums-, Parteienordnung etc.) angetastet würden, b) Eine weitere Begrenzung ergibt sich aus der Art der Bereiche, in denen kooperiert wird. Es läßt sich beobachten, daß technische, politisch unkontroverse Probleme der Kommunikation, des Transportes, der öffentlichen Gesundheit etc. die Tendenz zeigen, sich in internationalen Organisationen „abzukapseln". Unter Abkapselung versteht man einen Prozeß, in dem die Kooperation in den genannten Sektoren erfolgreich institutionalisiert wird, ohne jedoch die Akteure zu neuen Forderungen anzureizen oder die Umwelt mit ihrer Arbeit anzustecken c) Eingebaute Grenzen oder zumindest Bremsen der Kooperation sehen auch die Vertreter der These der „antagonistischen Kooperation" Sie ist so beschaffen, daß die zunehmende Frequenz und Intensität der Transaktionen nicht zur Konfliktregelung und -minderung führt, sondern zur Verschärfung der systemaren Widersprüche dergestalt, daß es zu immer stärkerer Abgrenzung und mithin zum Konflikt kommt. Geht man von den nachweisbaren Fällen der Abgrenzung aus, dann stellt sich indessen die Frage, ob sie nicht als innenpolitisches Sedativum eine besonders enge Kooperation mit dem Systemgegner begleitet, statt darauf abzuzielen, die Kooperationsbereiche zu verkleinern. Mit den oben angeführten Variablen des Prozesses der intersystemaren Kooperation ist diese letztliche Regression zur Gewalt zwischen den Systemen nicht zu vereinbaren. Die fortlaufende Regulierung der Transaktionen stärkt die Belastbarkeit des gesamteuropäischen Systems und pari passu die Flexibilität der Systeme mit der Folge, daß bewaffnete Auseinandersetzungen immer seltener als funktional angesehen werden.

Offen bleibt allerdings die Frage, ob die „strukturelle Gewalt" innerhalb der Systeme durch intersystemare Kooperation eher abgebaut oder verstärkt wird. Von den Erwartungshorizonten beider Eliten in Ost und West ließe sich ablesen, daß die vorherrschende Form der industriellen Arbeit samt den sie erhaltenen Herrschaftssystemen durch die intersystemare Kooperation wechselseitig garantiert werden sollen, und daß damit die weitere Reproduktion sich abhängig von den Interessen der politischen und wirtschaftlichen Eliten, nicht geleitet von den Bedürfnissen der direkten Produzenten vollzieht. Während die Beziehungen zwischen den Systemen daran ausgerichtet sind, negative Sanktionen offiziell zu pönalisieren und gegen positive auszutauschen, wird gerade innerhalb der Lager — nun durch die Garantie des System-kontrahenten verstärkt — das Gewaltmonopol des Staates und, wenngleich wesentlich relativiert, auch des Blockhegemon weiterhin gesichert. Aus der daraus entstehenden „staatsmonopolkapitalistischen" Copinage zwischen den Eliten beider Systeme könnte sich z. B. im Nord-Süd-Gegensatz ganz unauffällig eine neue Spielart des Imperialismus etablieren. Die strukturelle Gewalt in den europäischen Staaten könnte folglich durch diese Form der Kooperation forciert werden. Hier bleibt nur die Hoffnung, daß die verbesserte „Lebensqualität“ (Bildung, Freizeit) jene kritischen Kräfte freisetzt, die begreifen, daß die intersystemaren Beziehungen in Europa dazu dienen könnten, die durch Herrschaftsbastionen ver-stellte Emanzipation der Menschen in Gang zu setzen. Bis dieser Zustand erreicht ist, bieten die intersystemaren Beziehungen die Chance der großräumigen Produktion und des Austauschs von Gütern, Ideen und Solidarität, die nötig sind, um den friedlichen Wandel in Europa schrittweise zu verwirklichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Grund dafür liegt zweifellos in den neoisolationistischen Tendenzen der amerikanischen Außenpolitik, die in der Forschung reflektiert werden. Nach J. Nye betrachten die Amerikaner die regionalen Integrationsbereiche als „Mittelstück zwischen ihrer Rolle als Weltpolizist und dem Rückzug hinter die Festung Amerika" (J. S. Nye, Peace in Parts, Boston 1971, S. 4). Der intersystemare Regionalismus ist in ihren Betrachtungen nicht eingeschlossen.

  2. Vgl. z. B. J. Galtung (Hrsg.), Co-operation in Europe, Oslo 1970, und die Diskussion über gesamteuropäische Institutionalisierung in: Bulletin of Peace Proposals 3, No. 1.

  3. Vgl. G. Intersystemare Beziehungen Zellentin, in Europa, Leyden 1970, und in Teilen W. von Bredow, Vom Antagonismus zur Konvergenz?, Frankfurt 1972.

  4. E. B. Haas, The Study of Regional Integration: Reflexions on the Joy and Anguish of Pre-Theorizing, in: International Organization 24, 1970, S. 613.

  5. R. Richta u, a., Technischer Fortschritt und die industrielle Gesellschaft, Frankfurt 1972, S. 58.

  6. Hierzu Haas, a. a. O., S. 630; Zellentin, a. a. O., Kap. 4.

  7. Ausführlicher in G. Zellentin, Europäische Friedensordnung: Zielvorstellungen, Strategien und Handlungspotentiale, in: Jahrbuch für Friedens-und Konfliktforschung, Düsseldorf 1972.

  8. Vgl. die Kommuniques von NATO und War-schauer Pakt über die gesamteuropäischen Beziehungen sowie die Vorgespräche der Botschafter in Helsinki seit dem 22. Nov. 1972.

  9. Haas, a. a. O., S. 634.

  10. Analog zur Kybernetik zu formulieren als ein System, das sich aus Subsystemen zusammensetzt, die sich verändern können (z. B. partiell konvergieren), ohne daß das ganze System an Stabilität einbüßt.

  11. Vgl. Haas, a. a. O., S. 614 ff., und: Wohin geht Europa, Berlin (Ost) 1970.

  12. Vgl. M. W. Senin, Sozialistische Integration, Berlin (Ost) 1972, S. 36.

  13. Haas, a. a. O., S. 614.

  14. Haas, a. a. O., S. 627.

  15. F. Vilmar, Kommutation — Friedenspolitische und friedenspädagogische Bedeutung produktiver Lernprozesse zwischen Ost und West, in: Jahrbuch für Friedens-und Konfliktforschung, a. a. O., S. 103 ff.

  16. A. a. O„ S. 11.

  17. A. Etzioni, The Active Society, London 1968, S. 269.

  18. B. M. Russett und J. D. Sullivan, Collective Goods and International Organizations, in: International Organization 25, 1971, S. 860.

  19. G. C, Homans, Social Behavior, London 1961, zit. in: D. A. Baldwin, The Power of Positive Sanctions, in: World Politics 24, 1971, S. 35.

  20. Haas, a. a. O., S. 861.

  21. A. a. O.

  22. Nye, a. a. O., S. 83.

  23. Haas, a. a. O., S. 628.

  24. S. Flechtheims Vorwort zu Richta, a. a. O.

  25. R Inglehart, Public Opinion and Regional Integration, in: International Organization 24, S. 764.

  26. G. Zellentin, Europa 1985. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Gesamteuropa, Bonn 19732.

  27. Haas, a. a. O., S. 615.

  28. Vgl.den Aufsatz von L. Brock in dieser Beilage.

Weitere Inhalte

Gerda Zellentin, geb. 5. 1. 1934, Dr. disc. pol., Prof, für Politische Wissenschaft an der Gesamthochschule Wuppertal.