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Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperations-Politik | APuZ 36/1973 | bpb.de

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APuZ 36/1973 Gesamteuropäische Kooperation 1970-1973. Versuch einer Zwischenbilanz Die Vorbereitungsgespräche in Helsinki für eine „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" Möglichkeiten und Grenzen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Osteuropa Zur Praxis der wirtschaftlichen Zusammenarbeit *) Die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Osteuropa Die wissenschaftlichen Austauschbeziehungen zu den osteuropäischen Ländern Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR Intersystemare Kooperation und Frieden in Europa. Hypothesen zum gesamteuropäischen Regionalismus Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperations-Politik Auswahlbibliographie zu Fragen der Zusammenarbeit zwischen Ost und West in Europa

Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperations-Politik

Lothar Brock

/ 8 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Lothar Brock: Zur Aufgabenstellung einer gesamteuropäischen Kooperations-Politik Die neo-funktionalistische Schule erwartet von einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung zwischen West-und Osteuropa eine Entmilitarisierung der Systemkonkurrenz. Das ist jedoch keine zwangsläufige Konsequenz. Soll die gesamteuropäische Kooperation sich friedlich entfalten, so bedarf sie der bewußten und planvollen Steuerung.

Die gegenwärtigen Ansätze eines Wandels in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten haben dem interessierten Zeitgenossen ein weites Feld der Spekulation über die Zukunft Europas erschlossen. Während die einen fast euphorisch in der gesamteuropäischen Kooperation bereits den Kern einer neuen Friedensordnung sehen, verweisen die anderen mit demonstrativer Abgeklärtheit darauf, daß die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis — soweit sie dessen ökonomische Basis beträfen — viel zu gering seien, als daß sie aus sich heraus zu einer Neubestimmung der Interessenlagen der beteiligten Staaten führen könnten. Während die einen im Übergang von der Konfrontation zur begrenzten Kooperation eine Chance für einen konstruktiven Wettbewerb der Systeme sehen, ist den anderen die Kooperation als Vorform eines neuen Herrschaftskartells der etablierten Bürokratien in Ost und West suspekt.

Diese Unterschiede in der Einschätzung der gegenwärtigen Lage und ihrer zukünftigen Entwicklung können nicht einfach als das Produkt der Vielfalt subjektiver Meinungen abgetan werden. Sie sind vielmehr Ausdruck der im Verhältnis von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung besonders deutlich hervortretenden Ambivalenz internationaler Zusammenarbeit als Mittel zur Lösung universaler Mangelprobleme und zur Verwirklichung partikularer Interessen. Was besagt diese Ambivalenz für die Gestaltung einer inter-systemaren Kooperation in Europa auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet?

Versuchen wir zunächst, die Zweideutigkeit des Begriffs internationale Zusammenarbeit für dessen Präzisierung nutzbar zu machen, so können wir meines Erachtens zwischen drei „Idealtypen" der Zusammenarbeit unterscheiden : 1. Solidarische Kooperation, die sich überwiegend als kollektive Problemlösung vollzieht, das soll hier heißen: die darauf ausgerichtet ist, den Widerspruch zwischen möglicher und wirklicher Bedürfnisbefriedigung im Verhältnis der kooperierenden Einheiten zueinander und damit zugleich die Konkurrenz um knappe Güter zwischen ihnen aufzuheben. Ihre Funktion ist die Herstellung von Gerechtigkeit.

Friedliche Kooperation 2), die sich als begrenzte kollektive Problemlösung im Rahmen systemspezifischer Interessenpolitik vollzieht, wobei die an den jeweiligen Erfolgskriterien gemessene „Belohnung" der Kooperation dahin wirkt, Drohung und Zwang als Mittel zur Durchsetzung spezifischer Interessen zu reduzieren. Ihre Funktion ist die wechselseitige Nutzenmaximierung.

Antagonistische Kooperation 3), die mit einseitigen Vorteilen verbunden ist, einseitige Abhängigkeiten schafft, aufgrund ungleicher Verhandlungspositionen selbst zum Druckmittel wird (Ausnutzung von Zwangslagen bei der Verhandlung über Kooperationsbedingungen) und im Endeffekt dazu beiträgt, den der kollektiven Problemlösung zugänglichen Bereich durch die Verschärfung der Interessen-widersprüche zwischen den Trägern der Kooperation zu verkleinern und sich damit selbst die Basis zu entziehen. Ihre Funktion ist die Herstellung oder Perpetuierung von Zwangs-verhältnissen (zu denen auch die latente wechselseitige Bedrohung mit militärischen Mitteln gehört).

Mit Blick auf diese zugegebenermaßen sehr grobe Unterscheidung wird man zunächst feststellen müssen, daß es gegenwärtig keinen Anlaß gibt, die kollektive Problemlösung sozusagen als „Hauptseite" der gesamteuro-päischen Kooperation zu betrachten. Die inter-systemare Kooperation in Europa ist nicht auf die Aufhebung, sondern auf die Modifizierung der Konkurrenz zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten gerichtet und dient letztlich der Aggregation einander widersprechender Interessen: der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des sozialistischen Systems auf der einen Seite, der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des kapitalistischen Systems auf der anderen Seite. Sie kann allein schon hinsichtlich dieses fundamentalen Interessenwiderspruchs nicht als solidarische Kooperation verstanden werden.

Zwar gibt es Bereiche der Zusammenarbeit auch zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, die für sich genommen nicht jene spezifischen Interessenkonflikte berühren, die sich aus der Unterschiedlichkeit der Systeme ergeben. Zu denken wäre hier vor allem an den Bereich der medizinischen Forschung, der Gesundheitspflege, des Umweltschutzes. Bezogen auf die Totalität der Beziehungen zwischen den auf diesen Gebieten kooperierenden Staaten wäre es jedoch irreführend, hier von solidarischer Kooperation zu sprechen. Das liefe — um einen überspitzten Vergleich zu ziehen — auf dasselbe hinaus, als wenn man aus der Einhaltung bestimmter Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen auf die Solidarität der kriegführenden Parteien schließen wollte.

Daraus folgt, daß bei der Erörterung der Aufgabenstellung gesamteuropäischer Kooperation im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung das Erkenntnisinteresse nicht darauf zu richten ist, was man tun muß, um die spezifischen Interessen der sozialistischen und kapitalistischen Staaten auf den gemeinsamen Nenner der Existenzsicherung von entwickelten Industriestaaten zu bringen, sondern darauf, wie im Rahmen der durch die unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen vermittelten Interessengegensätze Problemlösungsprozesse in Gang gebracht werden können, die langfristig zu einer Entmilitarisierung der System-konkurrenz im Sinne friedlicher Kooperation beitragen können.

Die funktionalistische oder neo-funktionalistische Schule macht das Problem der Entmilitarisierung der Systemkonkurrenz in erster Linie am Problem der Interdependenz fest: je größer das Ausmaß der materiellen Verflechtung, desto mehr gerät der Gebrauch von militärischer Gewalt oder politischer Erpressung in Widerspruch zu den Existenzinteressen aller Beteiligten. Galtung hat diese These bekanntlich dahingehend modifiziert, daß die friedensstiftende Wirkung der Interdependenz von der Symmetrie der inputs und Outputs der Kooperation abhänge und davon, daß die betroffenen Staaten in gleicher Weise auf die Kooperation angewiesen sein müßten Demgegenüber weist Gerda Zellentin unter Bezug auf Etzioni zu recht darauf hin, daß Asymmetrien in der Ausgangslage von Kooperationsverhältnissen politisch kompensierbar seien Aber diese Feststellung enthebt uns nicht der Frage, ob eine Folge wirtschaftlicher Verflechtungsprozesse nicht auch darin bestehen könnte, daß entgegen der Annahme der funktionalistischen Schule die militärische Rüstung als Mittel der Rückversicherung gegen eine politische Ausnutzung der neuen Abhängigkeiten von der jeweils anderen Seite an Bedeutung gewinnt.

Die Fortsetzung des Wettrüstens in der gegenwärtigen Phase der Entspannung zeigt meines Erachtens, daß die Intensivierung wirtschaftlicher Austauschprozesse von sich aus keinesfalls zu einer Reduktion der Mittel kollektiver Gewaltpolitik oder gar zur Revision dieser Politik selbst führt. Das bedeutet nicht, daß eine friedliche Kooperation im Verhältnis von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung unmöglich sei. Es bedeutet vielmehr, daß friedliche Kooperation als eine politische Aufgabe verstanden werden muß, die sich nicht durch die bloße Kumulation gemeinsamer Problemlösungsaktivitäten in Teilbereichen der einzelgesellschaftlichen Entwicklung von selbst erledigt. Soll eine gesamteuropäische Kooperation auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet sich als friedliche entfalten und nicht zur Perpetuierung der Drohpolitik oder doch zumindest zu ihrer Legitimation beitragen, so bedarf sie der bewußten und planvollen politischen Steuerung — einer Steuerung, die u. a. die folgenden Problembereiche einbeziehen müßte:

1. Die Bestimmung der generellen Prioritäten einer gesamteuropäischen Kooperation: Man würde gegenwärtig das Zustandekommen von Kooperationsvereinbarungen auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet zweifellos verhindern, wollte man solche Vereinbarungen von der vorherigen multilateralen oder auch nur bilateralen Einigung über eine gemeinsame gesamtwirtschaftliche Zielsetzung der Kooperation abhängig machen. Aber es dürfte in dem Maße, in dem die Kooperation an Bedeutung gewinnt, immer wichtiger werden, gemeinsame Kriterien für eine planvolle Weiterentwicklung der einzelgesellschaftlichen Produktivkräfte unter dem Gesichtspunkt der internationalen Arbeitsteilung zu erarbeiten. Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium käme es vor allem darauf an, die verschiedenen Kooperationsbereiche miteinander in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und z. B.den Umfang des Austauschs von Personen und Informationen mit den konkreten Erfordernissen der internationalen Arbeitsteilung zu vermitteln. Ohne eine solche Vermittlung bleibt die Forderung nach mehr Freizügigkeit entweder abstrakt oder diskreditiert sich selbst als Versuch der Einflußnahme.

2. Die Regulierung der gesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen der Kooperation (spin-off-Effekte): Aufgabe einer gesamteuropäischen Kooperationspolitik ist es, zu verhindern, daß im Wege der Ausnutzung von ungleichen Verhandlungspositionen bei der Aushandlung von Kooperationsbedingungen eine indirekte Fremdbestimmung in Teilbereichen der sozial-ökonomischen Entwicklung des Kooperationspartners erfolgt. (Zu denken ist hier z. B.

an den Funktionsverlust der Arbeiterselbstverwaltung bei „joint ventures" in Jugoslawien.) Diese Aufgabe betrifft auch die Lösung des Problems, daß durch die Verlagerung von arbeitsintensiven Produktionen ein vor allem in Krisenzeiten sich bemerkbar machender Lohndruck in den betreffenden Industriebranchen der kapitalistischen Staaten ausgeübt wird. Die Regulierung der gesamtwirtschaftlichen spin-off-Effekte schließt darüber hinaus die Aufgabe ein, alle Formen der Kooperation zu vermeiden, die eine Vertiefung struktureller Entwicklungsdisparitäten durch Spezialisierung zur Folge hätten oder neue schaffen würden.

3. Der politische Ausgleich strategischer Abhängigkeiten: Hier geht es darum, daß neue Formen der institutionalisierten Konflikt-regelunggefunden werden müssen, die geeignet sind, strategische Abhängigkeiten vor allem auf dem Sektor der Energieversorgung, die im Zuge einer verstärkten gesamteuropäischen Kooperation entstehen, zu neutralisieren. Wenn diese Aufgabe vernachlässigt wird oder zu keinen Ergebnissen führt, wird die Rüstung auf beiden Seiten in einen funktionalen Zusammenhang mit der Intensivierung der Kooperation treten (d. h.: militärische bzw. machtpolitische Kompensation strategischer Abhängigkeiten) oder es wird von vornherein zu keiner Kooperation kommen, die dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Produktivkräfte und dem durch sie implizierten Ausnaß der internationalen Arbeitsteilung auch nur annähernd entspricht.

4. Die Demokratisierung einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit: Soll sich die gesamteuropäische Zusammenarbeit als friedliche entfalten, so kann sie nicht den Top-Managern vermeintlicher industriegesellschaftlicher Sachzwänge in Ost und West überlassen bleiben. Die Forderung, friedliche Kooperation als politische Aufgabe zu begreifen, impliziert für sich bereits die Beteiligung aller, die von der Kooperation betroffen sind. Diese Beteiligung wird aber nicht „gewährt“, sie muß durchgesetzt werden: z. B. durch die Gewerkschaften, die allmählich beginnen, die Internationalisierung der Produktion für ihre Strategiebildung konstitutiv werden zu lassen. Eine Demokratisierung der gesamteuropäischen Kooperation impliziert im weiteren Sinne darüber hinaus auch die Einbeziehung der Länder der Dritten Welt in den Entscheidungsprozeß über diese Kooperation. Denn die Entwicklungsländer sind zum einen direkt durch eine gesamteuropäische Kooperation betroffen — man denke z. B. an die Vertriebs-kooperation auf Drittmärkten; sie sind zum anderen insoweit indirekt betroffen, als ein interessenpolitisches Arrangement zwischen den entwickelten Industriestaaten — welche subjektiven Intentionen einem solchen Arrangement auch immer zugrunde liegen mögen — die Verhandlungsposition der armen Länder gegenüber den reichen schwächt. Hinsichtlich dieses Sachverhalts sollten auf einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auch Vertreter der Dritten Welt zumindest bei den sie unmittelbar betreffenden Fragen ein Mitspracherecht haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur weiteren Ausführung und Erläuterung dieser Unterscheidung siehe den Aufsatz des Verfassers: Problemlösung und Interessenpolitik. Friedenspolitische Funktionen einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit, in: Jahrbuch für Friedens-und Konfliktforschung, Bd. III, Düsseldorf 1973 (im Erscheinen).

  2. Vgl. Johan Galtung, A Theory of Peaceful Co-operation, in: ders. (Hrsg.), Co-operation in Europe, Oslo 1970.

  3. In der frühen amerikanischen Konfliktsoziologie bezeichnete „antagonistische Kooperation" ein Verhalten, bei dem zwei Parteien die zwischen ihnen bestehenden Konflikte zurückstellen, um gemeinsam gegenüber einer dritten Partei vorzugehen. W. G. Sumner, Folkways, Boston 1906, S. 18. Zur Rezeption vgl. L. Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied und Berlin 1965, S. 167 f. Vgl. ferner W. v. Bredow, Vom Antagonismus zur Konvergenz? Studien zum Ost-West-Problem, Frankfurt 1972.

  4. Galtung, a. a. O., und ders., Europa — bipolar, bizentrisch oder kooperativ?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41 vom 7. Oktober 1972 (Originalfassung in Journal of Peace Research 1972/Nr. 1).

  5. Gerda Zellentin, Europäische Friedensordnung, in: Jahrbuch für Friedens-und Konfliktforschung, Bd. II, Düsseldorf 1972, S. 72 ff., auf S. 77.

Weitere Inhalte

Lothar Brock, geb. 30. 1. 1939, Dipl. -Politologe, Wiss. Assistent am Fachbereich PolitischeWissenschaft der Freien Universität Berlin.