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Architektur (Er)Sinnen | Bauen und Wohnen | bpb.de

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Architektur (Er)Sinnen Ein Spaziergang mit einer Architektin, einem blinden Kulturwissenschaftler und der Stadt

Fabian Korner Merve Yıldırım

/ 17 Minuten zu lesen

Wie wird Stadt wahrgenommen? Eine Architektin und ein blinder Kulturwissenschaftler haben einen Stadtspaziergang durch Frankfurt am Main unternommen. Entstanden ist ein essayistischer Dialog über Stadt, Architektur und ihre Wirkung auf unsere Sinne.

"Aber wenn Sie ein Projekt entwerfen, berücksichtigen Sie dann nicht die Behinderten?" – "Wenn ich ein Projekt entwerfe, werfe ich den Behinderten aus dem Fenster."

Merve, brauchen wir eine Einführung oder soll ich einfach losgehen?

Fabian Korner – Ich betrete den Frankfurter Hauptbahnhof vom Südeingang aus. Der Bahnhof ist ein riesiges akustisches Durcheinander. Da er ein Kopfbahnhof ist, befinden sich alle Gleise in einer sehr hohen Halle. Alles echot durcheinander, klares Abgrenzen verlangt Konzentration. Die Spitze meines Stocks – ein typischer Blindenlangstock mit Rollspitze – streift über den Boden und findet die eingelassenen Leitlinien. Ein geriffeltes Stück Bodenbelag, das einen zielsicher zu Gleisen und Ausgängen führen soll. Da die Gleise nebeneinander liegen, geht es geradeaus. Welches Gleis es ist, muss jedoch abgezählt, erfragt – oder errochen werden. Letzteres ist vor allem möglich, weil rechter Hand verschiedene Läden mit kulinarischer Bahnhofsraffinesse locken. Die Abzweigung, die ich nehmen muss, markiert der Brezelbäcker "Ditsch" mit seinem typischen Geruch von herzhaften Backwaren. Immer wieder stehen Menschen auf den Leitlinien, am häufigsten dort, wo sie zur Bahnhofsinformation führen. Standstreifen sehen anders aus. Gefühlt wird indes nicht nur mit dem Stock, der eine anderthalb Meter große Verlängerung der Hand darstellt, sondern auch mit den Füßen. Mein Ziel ist die B-Ebene und dann die S-Bahn. Der Weg ist ein Rechteck – folgt man den Leitlinien. Die Rolltreppe, die den Abgang markiert, kann gehört werden, wenn es nicht zu laut ist.

Merve Yıldırım – Ich beobachte Fabian, wie er durch die von zwei Säulen aus Travertin flankierte schmale Eingangstür des Südeingangs in die Haupthalle des Bahnhofs tritt. Der Bereich zwischen den Säulen wird durch Wartende, Ver(w)irrte und Bettelnde noch schmaler, und ich bin verwundert darüber, wie schnell und trittsicher er an allem vorbei und hindurchgeht, denn Leitlinien gibt es hier (noch) nicht. Diese findet Fabian mit seinem Stock erst ein paar Meter weiter in der Halle. Warum es am Eingang keine gibt, kann man sehen, aber nicht in einem Radius von anderthalb Metern erspüren: Es gibt einen zweiten Südeingang, wenige Schritte neben dem, durch den wir gegangen sind, einen, an dem die Leitlinien direkt an der Eingangstür beginnen. Was Fabian wiederum spürt, und was offensichtlich keiner zu sehen vermag, sind ebendiese Leitlinien. Sie sind in den Bodenbelag integriert, grenzen sich sogar durch Farbe, Material und Struktur vom restlichen glatten Grau ab. Ungestört von dieser Grenze gehen und stehen an der Abzweigung Richtung B-Ebene viele Koffer und Füße mit Beinen und sind dabei immer im Weg. Der vorgezeichnete Weg zur Rolltreppe führt um die sich in der Mitte der Halle befindenden Imbisse herum. Den letzten Stand erkennt Fabian am Geruch, aber was ist mit denen, die er weder kennt noch erkennt, die, zu denen weder Leitlinien führen noch bekannte Gerüche? Ob der Snack besser schmeckt, wenn man nicht mit einer Brezel in der Hand auf die größeren und salzigeren der anderen schielt oder sich nicht ein paar Schritte weiter darüber aufregt, nicht den Kaffee aus dem Laden mit der besseren Maschine, dem günstigeren Preis und der kürzeren Schlange geholt zu haben?

F.K. – Durch ihre geringere Deckenhöhe klingt die B-Ebene ruhiger. Hier gibt es kein Leitliniensystem. Als Orientierung dienen Wände, Raumwissen und Raumgefühl. So dient zunächst die linke Wand als Orientierungsgrenze. Bald öffnet sie sich aber zum ersten U-Bahn-Abgang. Dies erspürt man am Luftzug, am Zurückweichen der Wand und dem Klang der Rolltreppe. Der Tunnel zu den S-Bahnsteigen kommt erst danach. Es gilt also, weiterzugehen und auf die erneute Veränderung des Raumklangs zu lauschen. Neben menschlichen Stimmen hilft das Geräusch des Stockes, um Umgebungsänderungen zu hören. Sobald sich das Gefühl eines weiten Raumes einstellt, heißt es: abbiegen. Noch mehr als in einer leitliniengestützten Umgebung ist es nun wichtig, das Wissen über den eigenen Standort stets mit der Umgebung abzugleichen. Erklingen die Rolltreppen nah oder fern? Sind sie links oder eher vor mir? Ist eine Wand links und rechts oder bin ich bereits im Vorraum der S-Bahnsteige? 101 und 102 sind links, für 103 und 104 müsste ich stärker nach rechts abbiegen. Zur Hauptwache gilt: Immer nach links gehen.

M.Y. – Gänge, Zirkulationsräume, Verbindungstunnel; deutet der Name dieser Räume zwar auch auf ihre Funktion hin, bleiben sie für uns doch mehr oder weniger breite Durchgänge. Im besten Falle sind sie aber breit genug für einen reibungslos kurzen Weg. Solange aber der Bodenbelag reibungslos glatt bleibt, können materielle und strukturelle Unterschiede nur akustisch wahrgenommen werden. Gibt es keine dieser Unterschiede, an denen man sich orientieren könnte, verlieren auch die Namen dieser Räume ihre Bedeutung. Bedeutung haben in Fabians Kontext aber gerade diese Unterschiede und sogar die Existenz von Hindernissen, mehr noch als ihre Beseitigung oder ihre Nicht-Existenz. In einem offenen Raum, dessen Zirkulationswege nicht auf der Höhe unserer Füße materiell strukturiert werden, wird Fabians Stock selbst zum Hindernis, bis er auf eines trifft. Findet er aber auf Bodenhöhe keine Widerstände, leistet nur noch der sonst in der Planung der Architekten unerwünschte Windzug Hilfe als wiedererkennbarer Widerstand. Auf meinem Weg über die Rolltreppe zu den Gleisen weiche ich anderen aus und andere mir, ich sehe sie alle, während Fabian sich aufmerksam an ihnen vorbei hört.

Fabian, kannst du Räume hören oder nur ihre Grenzen finden?

F.K. – Wir betreten die Hauptwache, vermutlich auf Gleis 2. Wichtig sind die Leitlinien, in die ich mich sofort einklinken kann. Der Einstieg am Hauptbahnhof bestimmt den Ausstieg an der Hauptwache. So verlasse ich mich darauf, dass, nach links gewendet, bald die Treppe und Rolltreppe in die B-Ebene auftauchen. Eine Leitlinie sowie die Rolltreppenakustik führen einen sicher zum Ziel. Menschen kreuzen meinen Weg, ich versuche, auszuweichen. Unterwegs spricht mich eine Person, vermutlich männlich, mittelgroß, an, ob er helfen könne. Ich verneine, passt ja alles. Fragen und ein "Nein" akzeptieren ist in Ordnung; übergriffig ist es, wenn jemand nicht fragt und mich direkt berührt. Während ich die Rolltreppe hochfahre, verklingen die Geräusche des Bahngleises und machen der Nebelakustik der Hauptwache Platz. Der Raum klingt weit. Ohne Orientierungstraining wüsste ich nun nicht, dass sich rechts ein Kiosk und links die Haupttreppe befindet. Ein Luftzug auf der Haut, ein Geruch, spezifische Umgebungsgeräusche, Oberflächen von Säulen, Wänden und Schildern sind sinnliche Momente, die eine Unübersichtlichkeit in ein taktiles Raumerleben verwandeln. Alle Sinne sind im Einsatz, um sicher zum Ziel zu gelangen. In der Hauptwache gibt es immer Lärm und Musik. Die Musik ist zugleich ein gutes akustisches Leuchtfeuer, überdeckt aber auch viele andere Geräusche. Um durch den freien Raum zu navigieren, suche ich nach Wänden, Begrenzungen aller Art. Ich richte mich an ihnen aus, laufe durch den Raum und hoffe, an einer bekannten Begrenzung anzukommen. Vom mittleren Aufgang an orientiere ich mich an Fahrkartenautomaten, um zum McCafé zu gelangen. Zu weit links: ein Kiosk und seine Absperrungen; zu weit rechts: Wand oder Tunnel oder etwas Unbekanntes, das mich zwingt, den Rückzug anzutreten, um nicht verloren zu gehen. Durch die Hauptwache selbst führen Gerüche, Luftströme und das Auf und Ab der Rolltreppen. Hin und wieder Säulen, denen es auszuweichen gilt, ohne dabei den Laufwinkel zu vergessen.

M.Y. – Dabei scheint die Hauptwache wirklich auf das Vergessen hin entworfen worden zu sein. Wir befinden uns an einem Ort, der in erster Linie als "Ebene" bezeichnet wird. In diesem offenen Labyrinth ohne Wände, das weitere labyrinthartige Ab-, Ein- und Ausgänge erschließt, ist es besser, seinen Weg nicht erst finden zu müssen, sondern bereits zu kennen. Sich in dieser gleichfarbigen Weite visuell orientieren zu müssen, führt trotz, wahrscheinlich aber gerade wegen seiner sich wiederholenden und teilweise fehlenden Beschilderung eher zu Orientierungslosigkeit.

Verzichtet man auf visuelle Bezugspunkte, lässt sich die Ebene zwar nicht in Räume, zumindest aber in akustische Zonen unterteilen. Die akustische Gestaltung solcher Orte orientiert sich aber ebenfalls am Raumerlebnis Sehender: Flächen, Decken insbesondere, werden auf das Absorbieren und gerade nicht auf das Reflektieren von Geräuschen hin konzipiert und konstruiert. Akustische Unterschiede lassen sich aber trotzdem wahrnehmen, was sich architektonisch unter anderem auf die unterschiedlichen Deckenhöhen zurückführen lässt. Diese sind aber meist weniger Resultat eines akustischen Entwurfansatzes als vielmehr Ergebnis einer im Kampf mit Ingenieuren um die Minimierung technischer Gebäudeausrüstung errungenen (maximalen) Deckenhöhe. Neben solch geplanten und gebauten Kompromissen ist hier vor allem die nicht geplante Aneignung der Nutzer unerwartet hilfreich: Als ob man der gebauten Gleichförmigkeit der B-Ebene etwas entgegensetzen wollte, entstehen in der realen Nutzung dieses Ortes ephemere akustische Räume. Auf der Ebene, die mit ihren Säulen nur punktuelle vertikale Elemente aufweist, bilden akustische Räume einen weiteren Orientierungs- und Zonierungsrahmen. Gegen das schlammige Beige-Grau von Boden, Wänden, Säulen und Decke spielt heute jemand das Partisanenlied "Bella Ciao". Fast zu laut und schon zu weit geht dieser, nennen wir ihn "Bella-Ciao-Raum", in jenen der Rolltreppe über. Diese kann man nicht nur sehen, sondern auch hören. Aber hört man auch, in welche Richtung sie fährt? Leider nicht. Ich gehe gemeinsam mit Fabian auf die Treppe zu.

F.K. – Um nun zur Zeil, der berühmten Frankfurter Einkaufsstraße, zu gelangen, kenne ich nur eine große Treppe und einen ebenso großen wie unübersichtlichen Platz. In sehender Begleitung erklimme ich die Treppen. Die hallende Raumakustik der Hauptwache weicht einer Draußenakustik, mit entferntem Autoverkehr und einer eher geringen Anzahl an akustisch zu verortenden Menschen.

M.Y. – Eine Treppe führt uns, unterbrochen von einer weiteren Ebene, auf die Höhe der Zeil. Wir befinden uns am Platz der Hauptwache, und nur wenige Schritte weiter, dort, wo die Zeil beginnt, enden jegliche Orientierungsgrenzen und damit potenzielle Wege für Sehbeeinträchtigte. Eigentlich aber endet der Weg hier für die meisten, und das ziellose "Schlendern" beginnt.

Im Fall von Sehbeeinträchtigten veranschaulicht das Fehlen von Leitlinien und Grünstreifen sehr genau, wie stark die Wahrnehmung unserer Umwelt von Architektur beeinflusst wird, ohne dass wir diese zunächst selbst beeinflussen können. Dieser von Gebäudefassaden umgebene Platz der Hauptwache vermittelt, anders als die bisherigen Orte, Sehenden das Gefühl eines offenen, baulichen Stadtraumes, der sich zu zwei Seiten der Einkaufsstraße Zeil öffnet. Aber wie lässt sich dieser Raum in der Vorstellung von Sehbeeinträchtigten rekonstruieren, wenn die Unterscheidung von Platz und Straße, Hauptwache und Zeil primär eine visuelle ist? Es sind Fassaden, die dem Platz einen Rahmen, unserem Blick eine Richtung und der Straße eine Flucht geben. An dieser Flucht reihen sich die Fassaden aneinander und beziehen sich mal mehr, mal weniger auf das Gebäude hinter ihnen, das sie repräsentieren. Nicht weniger kompliziert sind jene Beziehungen zwischen benachbarten Fassaden und die von Gebäude/Fassade und Nutzer*innen. Alle diese Beziehungen haben gemeinsam, dass sie von Architekt*innen bestimmt werden. Da diese Beziehungen visuell funktionieren, wirken sie für uns auch über größere Entfernungen – nicht aber auf der Höhe des Bodens im 1,5-Meter-Radius eines Langstocks. Was aber bedeutet das für das Funktionieren dieser Beziehungen? Funktionieren sie nur in eine Richtung? Werden uns Fluchten und Bezüge aus der Vergangenheit vorgeschrieben, oder erlauben die Stadtstrukturen den nötigen Freiraum für neue Beziehungen, Bezüge und Neubezug? Wann beziehen wir uns als Nutzer*innen auf den Raum und vor allem wie – und inwiefern beziehen sich zuerst Architekt*innen durch die Architektur auf uns als Nutzer*innen und definieren diese Beziehung vor?

F.K. – Oben am Treppenabsatz brauche ich wieder viel Konzentration. Um auf der Zeil einen Vorstellungsraum zu entwickeln, braucht es von Beginn an ein Gefühl für Wahrnehmungsdifferenz. Ich weiß, dass die Zeil ungefähr schräg links liegen muss, aber wie nun zum Geschäft meiner Wahl gelangen? Eine Strategie ist, einfach jemanden zu fragen. Was einfach klingt, ist deutlich schwieriger umzusetzen: Kontakt muss hergestellt werden, die Menschen müssen wissen, dass sie angesprochen wurden. Dann beginnt die Arbeit erst richtig, da das Umweltwissen der Sehenden in das eigene Umweltwissen übersetzt werden muss – geradeaus ist nicht immer geradeaus. Die Welt um mich herum ist eine fiktive Uhr, die als Grundlage meiner kognitiven Karte dient. Die Hauptwache ist jetzt hinter mir, also auf sechs Uhr. Wenn ich einen Passanten frage, ob die Kirche nun auf neun Uhr (links) ist, erhalte ich die Antwort, dass es schon halb zwölf sei. Auch ein "dort entlang" hilft wenig, weil die gezeigte Richtung nur als Sehstrahl gedacht wird. Straßenbiegungen, Mauerwände, auch Bäume oder andere Hindernisse können mir als Orientierung dienen. "Bis zum rechten Rand der Treppe und dann an der Mauer entlang bis zur zweiten Laterne" – das ist selten eine Beschreibung, die man erhält; also gilt es, zu übersetzen. Daneben gibt es digitale Assistenzsysteme, wie zum Beispiel die App Blindsquare. Mit GPS geortet, wird beschrieben, auf welcher Straße man sich befindet und welche weiteren Geschäfte beziehungsweise Orte in der Nähe sind. Treffsicher ist das aber nicht – die fünf Meter GPS-Ungenauigkeit, die im Sehen kompensiert werden kann, führt dazu, dass ich einmal statt im Restaurant in einer Lagerhalle landete.

Merve, siehst du dir Räume nur an oder kannst du sie auch riechen?

F.K. – Wer macht nicht gerne einen Spaziergang durch das Grüne – in Frankfurt zum Beispiel durch den Grüneburgpark. Zur Orientierung dienen mir der Boden sowie der Grünstreifen am Rand. Wann und wo Abzweigungen sind, muss ich wissen oder spüren. Wie zufällig wechsle ich die Seite. Eine Drehung nach neun Uhr, drei Schritte, Drehung nach drei Uhr. Tatsächlich beginnt hier ein Querweg. Ich gehe ihn entlang, hebe meinen Stock langsam an, weil ich einen Augenblick Stille genießen möchte. Die Gleichförmigkeit des Weges lässt mich intuitiv immer fragen, wie viel Wegstrecke zurückgelegt wurde. Ich müsste dafür Schritte zählen.

M.Y. – Hier im Park wird uns beiden ein Weg vorgezeichnet. Der Boden ist kein glatter, geräuschloser wie an der Hauptwache, sondern ein Asphaltboden, der beim Entlangstreifen des Langstocks sogar ziemlich laut wird. Dabei wollen wir gerade im Park eigentlich nicht den Asphalt hören. Aber was wollen wir eigentlich im Park und was wollen wir vom Park? Was ist der Park für ein Raum und vor allem: Was kann er jenseits des Visuellen? Tatsächlich haben wir, wenn wir auf dem Asphalt bleiben, nur wenig Berührung mit dem Park. Es streifen uns weder Äste noch die Blätter der hochgewachsenen Bäume am Rand des Weges, nur auf der Rasenfläche gibt es Gebüsch auf Körperhöhe. Mit dem Wind aber werden die visuellen Informationen teilweise akustisch übersetzt. Somit kann man die Distanz zu Bäumen und das Volumen ihrer Kronen hören, mit etwas mehr Nähe auch die Jahreszeit riechen. Auf diese Art wahrgenommen, bleibt nur das Grün versteckt und auch die Kirche mitten im Park, außer man kommt zur richtigen Zeit und hört ihre Glocken läuten. Eine andere Möglichkeit, diesen Park zu erfahren, wäre als Freizeitraum. Was aber bedeutet unsere Zeit, ob nun frei oder nicht, für einen Raum? Ein Raum hat sicher keine freie oder unfreie Zeit, aber wir können uns in unserer freien Zeit in einem Raum aufhalten. Für diese Zeit werden wir Teil dieses Raumes. Aber haben wir über dies hinaus auch Anteil an ihm? Können wir solche Räume mitgestalten – oder wird unsere Umwelt immer unsere Freizeit gestalten? Müsste es nicht "Freiräume" geben, in denen wir alle unsere gemeinsame Umwelt während unserer Freizeit mitgestalten können? Sind wir nicht erst dann Teil von ihr, wenn wir an ihr Anteil haben können – und ist nicht (Landschafts-)Architektur das, was diese Umwelt drinnen und draußen mitbestimmt? Aber was bestimmt sie? Und für wen, warum und für wie lange sollte und darf sie das? Riechen andere Orte eigentlich auch, und könnten wir sie dazu bringen, besser zu riechen?

F.K. – Menschen scheinen hier kaum oder gar nicht unterwegs zu sein, im Zweifel wäre ich also auf digitale Hilfsmittel und mein Gedächtnis angewiesen. Durch Zufall haben wir eine Runde gedreht. Neben mir weicht die natürliche Leitlinie zurück und öffnet sich auf einen neuen Weg. Wir gehen jetzt zur Bushaltestelle, wieder in sehender Begleitung, eine einfache Leitlinie vom Park zur Haltestelle kenne ich nicht.

Zwischenspiel: Fabian, was sagt man so?

F.K. – Aus der Behindertenbewegung sind die Disability Studies hervorgegangen, die im Kern zwischen zwei Modellen von Behinderung unterscheiden. Das erste ist das medizinische oder individuelle Modell, nach dem eine Person ohne funktionierende Augen blind beziehungsweise sehbehindert ist. Die Diagnose stellt der Arzt. Behinderung ist ein physiologisches Defizit, das durch Rehabilitation ausgeglichen werden muss. Im zweiten, sozialen Modell der Behinderung geht es hingegen darum, dass die Gesellschaft durch Barrieren eine Beeinträchtigung erzeugt. Wie zum Beispiel fehlende Leitlinien oder Ampelsysteme. Man wird also behindert oder auch verhindert, um der Wortbedeutung einmal nachzuspüren. "Behindert" ist dann die medizinische Kategorie und "beeinträchtigt" die soziale. Ein Stadtraum, der Sehbeeinträchtigungen oder allgemein Beeinträchtigungen nicht mitdenkt, ist Teil dieses sozialen Verständnisses. Die Beeinträchtigung als Defizit wird durch eine als normal angesehene Stadtarchitektur erst produziert.

M.Y. – Wie könnte ein solcher Stadtraum aussehen, in dem es keine Beeinträchtigung mehr gibt?

F.K. – Auf großen Plätzen könnten systematisch Leitliniensysteme verlegt werden, wie beispielsweise in der Hauptwache oder dem Platz davor. Alle Ampelsysteme sollten mit akustisch-taktilen Sensoren ausgerüstet werden, sodass man weiß, wann die Straße sicher überquert werden kann. Zurzeit sind Elektroroller ein großes Verletzungsproblem, es wird Zeit, dass sie nicht mehr irgendwo stehengelassen werden dürfen. Große Straßen mit vielen Autos und komplexen Übergängen sorgen zusätzlich für Stress, die Umstellung auf mehr ÖPNV könnte diesen Stressfaktor, zusammen mit autofreien Zonen, reduzieren. Dann müssten aber auch die ÖPNV-Haltestellen alle barrierefrei gebaut sein, was in Frankfurt für etwa 50 Prozent aller Haltestellen, vor allem Bushaltestellen, leider immer noch nicht gilt.

M.Y. – Du sprichst von Uhrzeiten, sehender Begleitung und Leitlinien. Was bedeuten diese Begriffe?

F.K. – Ich und viele andere Sehbeeinträchtigte ordnen das Geschehen im Verhältnis zu einem Standpunkt. Die Welt um einen herum wird dann, wie bei einer Uhr, in verschiedene Bereiche eingeteilt, um sich eine Vorstellung von der Umgebung zu machen. Wenn ich weiß, dass etwas auf neun Uhr erklingt, kann ich einen Raum entwerfen, vor allem, wenn ich andere Geräusche, zum Beispiel eines auf sieben oder drei Uhr, damit verbinde. Leitlinien sind bewusst angebrachte Bodenelemente, an denen sich mit einem Blindenlangstock gut orientieren lässt. Wenn es nicht bewusst installierte Linien sind, können Bürgersteige, Grünstreifen oder vieles andere genauso funktionieren. Und wenn all dies nicht erfolgreich ist, dann kann ich bei jemandem in "sehender Begleitung" geführt werden. Dabei greife ich an den Ellenbogen des Menschen, um seine Bewegungen zu spüren. Wenn ich einen halben Schritt hinter der Person bleibe, spüre ich Richtungsveränderungen oder auch Treppenstufen.

M.Y. – Mit der Anerkennung der deutschen Gebärdensprache 2002 wurde die Wahrnehmungs- und Verständigungskultur von gehörlosen und schwerhörigen Menschen offiziell anerkannt. Damit ist sie zentrales Element des kulturellen Selbstverständnisses. Gibt es Vergleichbares für sehbeeinträchtigte Menschen?

F.K. – Unter blinden und sehbeeinträchtigten Menschen herrschen sicherlich andere Kommunikationsformen. So ist man gewohnt, Visuelles, zum Beispiel Gesten, stets zu versprachlichen. Neben klarer Kommunikation bekommen durch den Wegfall des Sehsinns die anderen Sinne – wie der Tastsinn – größere Bedeutung. Darüber hinaus gibt es, glaube ich, viele Überschneidungsbereiche. So erfreuen sich Sehende wie Sehbeeinträchtigte gleichermaßen an Hörbüchern und Hörspielen.

Merve, können wir Räume spüren oder kennen wir nur ihre Namen?

F.K. – Hinter mir liegt die laute Bockenheimer Landstraße. Der Platz an der Alten Oper, Aufenthalts- und Durchgangsort. Für mich nur eine freie Fläche, auf der ein akustisches Koordinatensystem aufgebaut werden muss. Ich gehe von der Straße aus geradeaus über den Platz. Ich höre den Brunnen. Auf dem Boden sind quadratische Felder abgeteilt. Das ist eine zufällige Dekoration des Bodens, mir hilft sie, um auf einem klaren Weg zu bleiben. Drei Uhr neben dem Brunnen hört dieses Muster auf. Es gibt eine Begrenzung, halbhoch, ein Seil oder Ähnliches. Aber auch dieser Orientierungsstreifen endet irgendwo im Nirgendwo. Der Platz franst akustisch und taktil aus, ich kann teilweise keine klaren Grenzen finden, sondern nur Schwellenräume, in denen ich weiß, dass der Platz dort endet. Die Alte Oper begrenzt den Platz nur zum Teil; auch hier eine gute Grenze, die aber nicht zuverlässig ist.

M.Y. – Wie lässt sich der Opernplatz denn zuverlässig abgrenzen, von und durch was? Hören wir genau hin, werden wir feststellen, dass wir gerade einmal die Geräusche in unserer unmittelbaren Umgebung genauer identifizieren und zuordnen können, und diese wiederum sind von jenen an anderen Orten in der Stadt kaum zu unterscheiden. Lediglich in ihrer Dichte und Stärke können sie verschieden sein, aber selbst dieser Unterschied variiert innerhalb eines Tages, zwischen den Tagen, Wochen und Jahreszeiten. Sofern nicht permanent gegrillt wird, ist es auch schwierig, diesen Platz mit einem konkreten Geruch in Verbindung zu bringen. Wie lässt sich also der Platz an der Alten Oper von dem an der Hauptwache unterscheiden, wenn nicht visuell? Gibt es andere Möglichkeiten, diesen Ort wahrzunehmen und, wenn wir ihn anders wahrnehmen können, auch als Stadtraum zu erkennen? Wenn jeder nun aber den Ort anders wahrnimmt, mit anderen Sinnen und Empfindungen, erkennen wir dann nicht unterschiedliche Räume? In diesem Sinne ist Fabian in einem anderen Raum, aber am selben Ort. Anders gefragt: Reicht es, sich am selben Ort zu befinden, um auch im selben Raum zu sein? Höre ich beim Überqueren des Platzes beispielsweise eine Live-Aufnahme eines Konzerts in der Alten Oper – bin ich dann im inneren Vorstellungsraum des Mozart-Saals, sitze ich im digitalen Publikumsraum oder stehe ich immer noch draußen und davor, und mir bleibt nur der Name "Opernplatz"? Schließen diese genannten Räume einander aus, wenn sie sich überlagern, ineinandergreifen und ineinander übergehen? Nein, bestimmt nicht. Denn jeder Sinn kann andere Räume öffnen, so wie wir auch mit allen Sinnen nur einen Raum erfahren können. Ein Raum kann also mit mehreren Sinnen erfahren werden, und mehrere Sinne können auch mehrere Räume erfahren. Können aber mehrere Räume gleichzeitig mit einem Sinn erfahren werden – und welcher Raum hat dann noch Sinn? Wie entscheiden wir, ob ein Raum, etwa der digitale Publikumsraum aus dem Beispiel, für unseren Hörsinn mehr Sinn ergibt als der Opernplatz? Entscheidend ist, mehr als alles andere, mit welchem Sinn wir uns primär orientieren. Erst danach können wir über die Orientierung der restlichen Sinne vom physischen Raum unabhängig entscheiden.

F.K. – Der Opernplatz ist damit ein klassischer Fall meiner Orientierungspraxis. Selbst bei zu vermutenden Orientierungsschwierigkeiten lasse ich mich nicht davon abbringen, einen Ort zu betreten. So muss ich auch hier ab und zu nach Hilfe fragen, wenn ich zum Eingang oder zur Haltestelle will, einen Sitzplatz suche oder in eine benachbarte Straße gehen möchte. Zusätzliche Informationen über Platzbeschaffenheit und Struktur könnten zum Beispiel einfach online zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus ist es schon ein schöner Klangort, wenn am Abend Musik den Platz verziert und das Murmeln vieler Stimmen anzeigt, dass ein zufälliges Gespräch über gemeinsam Gehörtes, ein geteilter Wahrnehmungsraum, möglich ist.

M.Y. – Eine Neugestaltung des Platzbodens könnte für die einen Orientierung für den Spürsinn bieten und für andere einen Sinn zum Erspüren des Platzes. Ist das dann ein guter Opernplatz oder ein besserer Raum? Und wie produzieren Architekt*innen gute Räume, oder können schlechte Räume auch gute Architekt*innen produzieren?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Luigi Snozzi/Fabio Merlini, L’architecture inefficiente, Marseille 2016, S. 20 (Übers. M.Y.).

  2. Siehe hierzu Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V., Orientierung und Mobilität (O&M), Externer Link: http://www.dbsv.org/orientierung-mobilitaet-o-m.html.

  3. Vgl. z.B. die Schriften des Architekten Turgut Cansever zur anthropologischen Bedeutung von Architektur.

  4. Vgl. Siegfried Saerberg, "Geradeaus ist einfach immer geradeaus." Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung, Konstanz 2006.

  5. Für eine weitere Differenzierung siehe Marianne Hirschberg, Modelle von Behinderung in den Disability Studies, in: Anne Waldschmidt (Hrsg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, S. 93–108.

  6. Vgl. z.B. Deutscher Gehörlosen-Bund e.V., Deutsche Gebärdensprache, Externer Link: https://www.gehoerlosen-bund.de/faq/deutsche_gebaerdensprache_(dgs).

  7. Vgl. Fabian Korner, Vom Greifen zum Begreifen, in: Form 3/2022, S. 128–136.

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studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Düsseldorf und nun Ästhetik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Als sehbeeinträchtigter Kulturwissenschaftler interessiert er sich für Wahrnehmungsformen jenseits des Sehens. Sein Schwerpunkt bildet die Tastforschung.
E-Mail Link: fabian.korner@hhu.de

ist Architektin und studiert Ästhetik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Nach ihrem Architekturstudium in München und Rom arbeitete sie als Architektin bei Renzo Piano Building Workshop in Paris, Genua und Istanbul.
E-Mail Link: txt.merveyildirim@gmail.com