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Bauen und Wohnen Editorial Architektur (Er)Sinnen. Ein Spaziergang mit einer Architektin, einem blinden Kulturwissenschaftler und der Stadt Wohnungspolitische Instrumente ohne Wirkung? Aktuelle Herausforderungen der sozialen Absicherung des Wohnens Generation Miete. Wohnungspolitik, Wohneigentum und Städtebau im Spannungsverhältnis Umverteilung statt Neubau. Skizze einer sozialökologischen Wohnungspolitik "Nicht in meinem Kiez!". Wohnen, Widerstand und soziale Zielkonflikte Marktferne Eigentumsmodelle. Potenziale und Grenzen gemeinwohlorientierter Immobilienentwicklung Bezahlbares Wohnen. Der steinige Weg über das kommunale Bodeneigentum Wien ist anders? Das Modell Gemeindebau

Wien ist anders? Das Modell Gemeindebau

Jens Wietschorke

/ 15 Minuten zu lesen

Kommunaler Wohnungsbestand ist mehr als nur das Tafelsilber einer Stadt, er ist Teil des sozialpolitischen Rückgrats einer Stadtgesellschaft. Gleichwohl ist umstritten, ob der Wiener Gemeindebau als Vorbild und Zukunftsmodell für andere Städte in Europa taugt.

In der Diskussion über steigende Mietkosten und die Frage, ob man sich Wohnraum überhaupt noch leisten kann, fällt immer wieder der Name einer Stadt: Wien. "Wien ist anders", lautet ein bekannter Slogan der städtischen Fremdenverkehrswerbung, und auch in Bezug auf die Wohnungsbaupolitik scheint an diesem Befund etwas dran zu sein. Wollte man die Sonderstellung der Stadt Wien in Wohnungsfragen in einer einzigen Zahl ausdrücken, dann wäre dies wohl die 26. Denn 26 Prozent des Wohnungsbestandes in Wien befinden sich heute im Eigentum der Gemeinde, die damit die größte Immobilienbesitzerin Europas ist. Darüber hinaus unterliegen 60 Prozent aller Mietwohnungen in Wien einer dauerhaften sozialen Bindung. Während etwa Berlin dadurch in die wohnungspolitischen Schlagzeilen geraten ist, dass die Stadt erst weite Teile ihres kommunalen Wohnungsbestandes abgestoßen hat und nun – legitimiert durch einen erfolgreichen Volksentscheid – die Möglichkeiten einer Enteignung und Vergesellschaftung privater Wohnungsbaugesellschaften sondiert, hat die Gemeinde Wien mit ihrem Immobilienbesitz ein zentrales Instrument der Wohnungsmarktregulierung immer in der Hand behalten.

Ein solcher kommunaler Wohnungsbestand ist mehr als nur das Tafelsilber einer Stadt, das man notfalls verscherbeln kann, wenn die Kassen leer sind. Er ist Teil des sozialpolitischen Rückgrats der Stadtgesellschaft, und er sichert einer Stadtverwaltung die Macht und die Handlungsfähigkeit, die sie braucht, um den freien Kräften des Marktes etwas entgegensetzen zu können. Dabei gibt es auch kritische Stimmen. Wien eigne sich nicht als Vorbild in der Wohnungspolitik, urteilte etwa der Ökonom Matthias Benz: Zu reguliert, zu ungerecht, zu teuer sei das System. Es begünstige sozialdemokratische Klientelwirtschaft und führe zu überhöhten Steuerbelastungen. Der vorliegende Beitrag diskutiert das Pro und Contra der Wiener Politik der Wohnraumversorgung und stellt den Gemeindebau als historische Errungenschaft, stadträumliche Intervention und Zukunftsmodell zugleich vor.

Vom Zinshaus zum Gemeindebau

Die Geschichte des Wohnens in Wien war mindestens seit dem 18. Jahrhundert von massiven Problemen hinsichtlich der Wohnraumversorgung geprägt. "Schon zur Zeit Maria Theresias herrschten in Wien äußerst unbefriedigende Wohnverhältnisse. Die Wohnungsknappheit sollte für die folgenden zwei Jahrhunderte den Alltag der Wiener Bevölkerung maßgebend bestimmen." So reagierte der Wohnungsmarkt auf die massive Zuwanderung und den Wandel der Sozialstruktur infolge der Industrialisierung nur mit großen Verzögerungen; für weite Teile der Arbeiterschaft war kein angemessener Wohnraum verfügbar. Gleichzeitig wurde die Stadt zum Terrain privater Grundstücks- und Immobilienspekulation: Wie in anderen europäischen Metropolen entstanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Wien weitläufige Arbeiterviertel, dicht überbaut mit Zins- und Mietshäusern. Für den Zeitraum zwischen 1856 und 1917 zählte man 460000 neu errichtete Wohnungen, die insbesondere die Vorstädte außerhalb des Linienwalls "zu Zonen extremer sozialer und baulich-räumlicher Enge" verdichteten. In diesen Außenbezirken lebten vier Fünftel der Bevölkerung, in Kleinstwohnungen, die lediglich aus einem Wohnraum mit oder sogar ohne Küche bestanden.

Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herrschten in Wien die schlechtesten Wohnverhältnisse aller europäischen Metropolen. Die Kleingarten- und Siedlerbewegung, die in Wien schon vor 1914 und während des Krieges eine wichtige Rolle gespielt hatte, reagierte darauf mit einer Ausweitung des informellen Wohnens: Von 1918 bis 1921 entstand ein regelrechter Gürtel von illegal errichteten "Bretteldörfern" um die Stadt, teils auf verfügbaren städtischen Freiflächen, teils auf neuen Rodungen am Wienerwaldrand. Aus den wilden Siedlungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit wurde ein Modell für das Wohnen der Zukunft entwickelt: Die neue sozialdemokratische Wiener Stadtregierung berief den deutschen Gartenstadt-Pionier Hans Kampffmeyer zum Leiter des Siedlungsamts, Adolf Loos wurde dessen Chefarchitekt.

Auch darüber hinaus versammelte sich um die Wiener Siedler- und Gartenstadtbewegung damals ein Who is Who der zeitgenössischen Reformarchitektur – von Josef Frank bis Margarete Schütte-Lihotzky, von Heinrich Tessenow bis Josef Hoffmann. Sie plädierten für den Bau von Gartenstädten nach britischem Vorbild, bestehend aus Reihenhäusern mit Selbstversorgergarten sowie einer kleinen Siedlungs-Infrastruktur. In der Stadtregierung setzten sich indessen bald die Befürworter des günstigeren und praktikableren Geschosswohnungsbaus durch. Mit Gemeinderatsbeschluss vom 1. September 1923 wurde ein historisches Wohnbauprogramm verabschiedet, das ab 1924 den Bau von 5000 neuen Kleinwohnungen pro Jahr vorsah, insgesamt ging es um ein Volumen von 25000 Wohnungen. Obwohl auch der Siedlungsbau seitens der Gemeinde weiter gefördert wurde, entstanden nun vor allem großformatige Wohnhöfe und "Superblocks", unter denen bis heute der Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt der bekannteste ist – ein gewaltiger, über einen Kilometer langer Gebäuderiegel mit insgesamt 1300 Wohneinheiten, dessen Schaufassade mit ihren breiten Tordurchgängen, ihrer Farbgestaltung und den hoch aufragenden Fahnentürmen ein spektakuläres Bild abgibt.

Ermöglicht wurde die massive Bautätigkeit der Gemeinde Wien durch die Finanzpolitik der neuen sozialdemokratischen Stadtregierung, für die der von Konservativen als "Steuerbolschewist" verschriene Finanzstadtrat Hugo Breitner stand. Die scharf progressiv gestaffelte Wohnbausteuer traf insbesondere die Besitzer von Villen, Stadtpalästen und Luxuswohnungen hart. Für die teuersten 0,5 Prozent der potenziellen Mietobjekte in Wien mussten sie fast die Hälfte des gesamten Wohnbausteueraufkommens der Stadt entrichten. Die Mittel flossen in den Wohnungsbau, während der auf das Niveau von 1914 eingefrorene "Friedenszins" und ein ausgedehnter Mieterschutz die Position der Mieter*innen auf dem Markt stärkten – beides ein Erbe der späten Monarchie, die sich 1917 angesichts von Inflation und Krieg zu dieser Konzession gezwungen sah. Durch all diese Regelungen wurden Grundstücks- und Immobilienspekulation so gut wie unmöglich, das Vermieten unrentabel. "Die Wohnung verlor ihren Warencharakter." Durch das drastische Absinken der Bodenpreise konnte die Gemeinde wertvollen innerstädtischen Baugrund erwerben, ihren Grundbesitz multiplizieren und in großem Stil Neubauten errichten. 1934 gab es in Wien bereits 65000 Gemeindewohnungen. Damit war die Bautätigkeit der Gemeinde sogar über ihre selbst gesetzten Planziele hinausgeschossen.

Das neue Gesicht der sozialen Stadt

Einig waren sich die austromarxistischen Akteure der Wiener Wohnungspolitik nach 1919 vor allem darin, wie die neue Stadt nicht aussehen sollte. Man wandte sich dezidiert gegen das im Wien des 19. Jahrhunderts übliche "Bassenahaus", mit stickigen Gangküchen und einer zentralen Wasserentnahmestelle pro Stockwerk. Keine dunklen, engen Höfe, Gänge und Stiegenhäuser mehr, sondern Licht und Luft. Allerdings waren auch die neuen Wohnungen alles andere als großzügig geschnitten, sondern veritable "Wohnungen für das Existenzminimum": kleine Ein-, Zwei- oder Dreiraumwohnungen mit Wasseranschluss und WC, aber ohne Badezimmer. Von einigen deutschen Architekten kam harsche Kritik: Bruno Taut etwa mokierte sich über das "tiefe Niveau" des Wiener Wohnungsbaus und sprach von der "schlimmsten Zusammenpferchung". Dabei übersah er einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Wiener Gemeindebau und vielen Wohnbauten, wie sie Taut, Martin Wagner, Fritz Schumacher oder Ernst May in den 1920er Jahren in deutschen Städten planten: Die Wiener Wohnungen konnten sich Arbeiterfamilien auch tatsächlich leisten, die Mieten waren im internationalen Vergleich sensationell niedrig. Während es in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main in der Regel Mittelschichtsfamilien waren, die in die neu gebauten Wohnungen einzogen, gelang es im "Roten Wien", die Wohnungsnot breiter Bevölkerungsschichten zu beseitigen, wie der Architekturhistoriker Gert Kähler in seiner Gesamtbeurteilung festhält: "Das hervorstechendste Merkmal des Wiener Gemeindewohnungsbaus jener Zeit war nicht die Bevorzugung der einen oder der anderen Architekturströmung, sondern die Tatsache, daß hier – so weit ich sehe zum einzigen Mal in Europa – ein Wohnungsbau für die Masse der Arbeiter und Angestellten, für das ‚Proletariat‘, durchgeführt wurde, der infolge der niedrigen Mieten diesen tatsächlich das Wohnen auch erlaubte: Nur zwei bis sieben Prozent des normalen Einkommens mußte für eine Monatsmiete aufgebracht werden. (…) Was also in Deutschland nur zögerlich begonnen wurde, die Wohnung vom Spekulationsobjekt zum sozialen Recht zu machen, das verwirklichte man in Wien."

Die Architekten des Roten Wien der Zwischenkriegszeit prägten das Stadtbild mit einer eigenen Ästhetik. Denn bei aller Diversität der Wohnarchitektur im Einzelnen lässt sich eine einheitliche Signatur ausmachen. Der Kunsthistoriker Andreas Nierhaus hat von einem "Habitus" gesprochen, der die Wiener Gemeindebauten miteinander verbindet, und dessen architektonische Elemente klar benannt werden können: "Einfügung großflächiger Volumina in den Stadtraum bei gleichzeitiger Kontrastwirkung zur bestehenden Bebauung, denkmalartige Wirkung durch eigens entworfene Inschriften samt Widmung an bedeutende historische Persönlichkeiten, große, zusammenhängende Putzflächen mit sparsam eingesetzter Profilierung und Bauplastik, charakteristische, zeichenhafte Fensterformen, große, oft dramatisch inszenierte Tordurchgänge, die in das dichte Grün der Gartenhöfe führen, in denen die geringe Bebauungsdichte visuell-räumlich erfahrbar gemacht wird; präzise gestaltete und hochwertige kunsthandwerkliche Details – Gitter, Handläufe, Beleuchtungskörper etc., die sich bis in die Stiegenhäuser fortsetzen."

Auch hier gilt das Motto "Wien ist anders": Mit den avancierten Wohnungsbauprogrammen der internationalen Moderne hatten die Gemeindebauten des Roten Wien ästhetisch nicht allzu viel gemein. Von den Planspielen des modernistischen Städtebaus anderer Metropolen waren sie ebenso weit entfernt wie von der elitären Einfamilienhausarchitektur des Dessauer Bauhauses. Darüber hinaus waren sie auch nicht in nennenswertem Umfang mit moderner Verkehrsplanung verknüpft, was auch an der spezifischen Positionierung der Gemeindebauten im Wiener Stadtraum lag. Somit repräsentieren die Gemeindebauten einen ganz eigenen, moderaten und pragmatischen Zugang zur Moderne. Ihre Monumentalität bleibt stets bodenständig, ihre Sachlichkeit behält ornamentale Züge. Ihr "Corporate Design" hat wesentlich dazu beigetragen, dass das Rote Wien spätestens zu Beginn der 1930er Jahre zu einer europaweit bekannten Marke wurde.

Wohnen als soziale Disziplinierung

Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass das sozialpolitische Programm des Roten Wien mit spezifischen Strategien der Sozialdisziplinierung verknüpft war. Für den Historiker Siegfried Mattl war das Rote Wien eine "öffentliche Moralanstalt", und der Geschichtswissenschaftler Reinhard Sieder hat den Gemeindebau als "Locus sozialdemokratischer Volkspädagogik" bezeichnet. Zentral dafür war das bürgerliche Modell der heteronormativen, patriarchalen Ehe und Familie, das eine Verpflichtung der Ehefrauen auf die Aufgaben von Hausarbeit und Mutterschaft mit einschloss. Innovative und emanzipatorische Wohnformen wie das Einküchenhaus, in dem Hausarbeit zentralisiert und erwerbstätige Frauen entlastet wurden, spielten im Roten Wien so gut wie keine Rolle. Im Gemeindebau gab es dagegen Zentralwäschereien mit einem festgelegten, von einem angestellten "Waschmeister" überwachten Zeitplan, der den Frauen einen Waschtag pro Monat zuwies. Auch die sonstigen Infrastruktureinrichtungen der Gemeindebauten folgten einem sozialdemokratischen Programm sozialer Fürsorge, in dem für Lebensformen jenseits der normativen Kernfamilie kaum Platz war. Kinderbetreuungseinrichtungen, Bäder und Büchereien dienten der Versorgung der Wohnbevölkerung, waren aber zugleich volkspädagogische Einrichtungen, ebenso wie die SPÖ-Parteilokale, die ein fester Bestandteil der meisten größeren Wohnanlagen waren und die kulturelle Hegemonie der Sozialdemokratie vor Ort festigen sollten. Hausmeister, Wohnungsinspektoren und Fürsorgerinnen fungierten als Kontrollinstanzen. Insgesamt war das neue Wohnen im Roten Wien ein Top-down-Prozess, in dem kaum Elemente von Eigenverantwortung und Mitbestimmung vorgesehen waren. Für viele zeitgenössische Kritiker führte dieser "Paternalismus der Wiener Kommunalpolitik" zur "Verkleinbürgerlichung" der Arbeiterklasse. Viele Bewohner*innen freilich erlebten gerade diese Verbürgerlichung als Befreiung aus den unsicheren und elenden Verhältnissen der Vorkriegszeit.

In den 1930er Jahren stagnierte der kommunale Wohnungsbau in der politisch zerrissenen Stadt. Die neue christlich-soziale Stadtregierung errichtete noch einige "Familienasyle" mit Kleinwohnungen für sozial schwache Familien, nach 1938 kam der Bau von Gemeindewohnungen so gut wie ganz zum Erliegen. Nach 1945 waren dann wieder neue Anstrengungen notwendig, um die durch Kriegsschäden entstandenen Lücken zu schließen und die Grundlagen für eine Stadterweiterung im Zeichen der "gegliederten und aufgelockerten Stadt" zu schaffen. Im Bezirk Favoriten wurde ab 1947 die Per-Albin-Hansson-Siedlung errichtet – zunächst der Bauteil West, dann ein kleinerer Bauteil Nord und schließlich zwischen 1966 und 1977 die Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost. Dieses Gebiet lässt sich heute als ein Musterbuch des Wiener Kommunalwohnungsbaus der Nachkriegszeit lesen, das die gesamte stilistische Bandbreite von den frühen Reihenhaus- und Zeilenbauten bis hin zu den Großwohnungsbauten der späten 1960er und 1970er Jahre mit ihren Infrastruktureinrichtungen abbildet.

Das Wiener Modell erregte weiterhin internationale Aufmerksamkeit; 1969 besuchte sogar die britische Königin Elizabeth II. mit Bürgermeister Bruno Marek und einer kleinen Delegation den an sich unspektakulären Marshallhof in Kaisermühlen und besichtigte eine exemplarische Zweizimmerwohnung im elften Stock. In den Jahrzehnten danach war die große Zeit des Wiener Gemeindebaus vorbei. Im Zeichen der Postmoderne und einer Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Wohnbedürfnissen und Wohnformen wurde der klassische soziale Wohnungsbau zu Beginn des neuen Jahrtausends verabschiedet, man konzentrierte sich seitens der Gemeinde auf den geförderten und genossenschaftlichen Wohnungsbau. Eine Renaissance erlebte das Modell Gemeindebau allerdings wieder 2015, als die Wiener Stadtregierung den Bau von 4000 neuen Gemeindewohnungen beschloss – eine politische Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen am Wohnungsmarkt und die gesteigerte Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum. Die ersten 120 "Gemeindewohnungen neu" wurden 2019 im 10. Bezirk fertiggestellt, viele weitere Wohnanlagen befinden sich im Bau.

Wiener Melange: Heterotopien der kapitalistischen Stadt

Es war eine der historischen Leistungen des Roten Wien, preisgünstiges Wohnen zum sozialen Recht zu erheben. Darüber hinaus hat die kommunale Bautätigkeit der Gemeinde aber auch das sozialräumliche Gefüge der Stadt nachhaltig verändert. Sie beschränkte sich nämlich keineswegs auf die klassischen Arbeiterviertel, sondern sorgte für eine relativ breite Streuung der Gemeindewohnungen über das gesamte Stadtgebiet. Auch wenn die Schwerpunkte des kommunalen Wohnungsbaus eindeutig in alten Arbeiterbezirken wie Favoriten, Meidling, Margareten, Ottakring und Floridsdorf lagen, befinden sich selbst in den besten Lagen gemeindeeigene Wohnkomplexe. Das noble Hietzing beispielsweise ist durchsetzt mit 51 Gemeindebauten, darunter mit den Siedlungen Lockerwiese, Hermeswiese sowie der Kongresssiedlung auch drei größere Anlagen. Das ebenfalls noble Döbling ist Standort mehrerer Tausend Gemeindewohnungen, und sechs Gemeindebauten mit insgesamt über 300 Wohnungen befinden sich sogar im ersten Bezirk, wo in den 1950er Jahren Baulücken in absoluter Innenstadtlage genutzt wurden. Infolge der systematischen Grunderwerbungen der Stadtverwaltung konnten kommunale Wohnanlagen also nicht nur an der Peripherie, sondern auch mitten in der Stadt verwirklicht werden – anders als etwa in Hamburg, wo in den 1920er Jahren der nördliche Stadtrand mit Großsiedlungen bebaut wurde. Innerstädtische Baulücken wurden geschlossen, aufgelassene Militärareale der Monarchie genutzt: Die gründerzeitliche Stadt erfuhr eine im europaweiten Vergleich ungewöhnliche Nachverdichtung, und diesem Prinzip folgte auch die Wohnbaupolitik der Stadt nach 1945. Die Gemeindebauten wurden gleichsam zu sozialdemokratischen Heterotopien innerhalb der überkommenen kapitalistischen Stadtstruktur.

In der Terminologie Pierre Bourdieus kann argumentiert werden, dass mit dem Wiener Kommunalbau die konventionelle Ordnung von Raum- und Lokalisationsprofiten in der Stadt produktiv gestört wurde. Während teilweise selbst Angehörige der obersten Einkommensklasse in unmittelbarer Nachbarschaft von Gemeindebaukomplexen wohnen, ermöglicht das Wiener Modell den Gemeindebaubewohner*innen bis heute eine Teilhabe an der Stadt, die auf der Inklusionsfunktion von gemeinsam geteilten öffentlichen Räumen basiert. Einerseits sind viele Gemeindebauten ganz selbstverständlicher Bestandteil bevorzugter Wohngebiete, andererseits halten die Bauten in ihrer architektonischen Anordnung den Kontakt zur Öffentlichkeit: Im weitläufigen Rabenhof etwa kann sich jede*r aufhalten, ebenso wie auf den Sitz- und Spielplätzen des George-Washington-Hofes oder dem Karl-Seitz-Platz in Floridsdorf, der von einer monumentalen Gemeindebauanlage umschlossen wird. Die Höfe haben hier nicht den geschlossenen Charakter privater Wohnkomplexe, sondern sind explizit als halböffentliche Räume konzipiert: Der Gemeindebau ist zur Stadt hin geöffnet. Dieser doppelte sozialräumliche Effekt kommt in der vorliegenden Literatur oftmals zu kurz, dabei ist er für die Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt der Stadt von entscheidender Bedeutung. "Das Bauprogramm", so die Einschätzung des Historikers Wolfgang Maderthaner, "erschloss der Arbeiterschaft politische Kontrolle über das städtische Gefüge, die über ganz Wien verteilten Bauten eröffneten einen diskursiven Raum zwischen ihnen selbst und der historischen Stadt. Zum ersten Mal wurde die Arbeiterschaft zum Subjekt ihres unmittelbaren lebensweltlichen Umfelds."

Diese Neuformatierung der sozialen Räume wirkt sich bis heute aus. So ist der Grad der sozialen Segregation in Wien deutlich geringer als in anderen Metropolen, in denen die Gesetze des freien Wohnungsmarktes nie wirkungsvoll ausgebremst wurden. Das Wiener Prinzip der sozialen Durchmischung schlägt sich aber nicht nur in der sozialräumlichen Verteilung im Stadtgebiet nieder, sondern auch im Gemeindebau selbst. Die Mittelschicht ist nach den derzeit geltenden Verdienstobergrenzen nämlich keineswegs vom Zugang zu den Gemeindewohnungen ausgeschlossen. Der alleinstehende Rechtsanwalt wohnt hier durchaus neben der Reinigungskraft, die türkische Kunsthistorikerin neben dem ägyptischen Trafikanten. Diese relative soziale Bandbreite sorgt wiederum dafür, dass mit dem Wohnen im Gemeindebau keine ausgeprägte soziale Stigmatisierung verbunden ist. Im Wiener Reumannhof oder Karl-Seitz-Hof zu wohnen, hat längst nicht den schlechten Ruf, den etwa das Wohnen im Märkischen Viertel oder in Gropiusstadt in Berlin noch immer hat. Das Wiener Modell hat die Bewohner*innen der Gemeindebauten vor dem Ghetto-Image beschützt, wie es den Stadtrandsiedlungen anderer Großstädte durchaus anhaftet. Im Umkehrschluss zeigt das aber auch, dass der Wiener Gemeindebau heute kein ganz und gar niederschwelliges Angebot darstellt, das den von Armut betroffenen Bürger*innen der Stadt prinzipiell zugänglich wäre. Wie das Rote Wien mit seinem volkserzieherischen Ansatz und seiner Fokussierung auf die heteronormative, "respektable" Arbeiterschaft, so produziert auch die Wohnraumpolitik der derzeitigen sozialdemokratischen Stadtregierung neue soziale Ausschlüsse. Auch der "Wohnraum für alle" ist de facto limitiert, er richtet sich an die, "die bestimmten Kriterien von Arbeitsmarktintegration, Aufenthaltsstatus und Familiensituation genügen". Das soziale Wohnen in Wien ist demnach eine "Inklusion (…), die gleichzeitig ausgrenzt".

Modell Gemeindebau?

Trotz all dem bleibt es dabei: Keine andere Stadt in Europa besitzt so viel Wohnraum, der vor dem Druck des freien Wohnungsmarktes geschützt ist. Rund 500000 Menschen und damit mehr als ein Viertel der Einwohner*innen der Stadt wohnen zur Miete in Gemeindebauten. Das historische Erbe des Roten Wien sorgt nachhaltig dafür, dass die Renditen moderat bleiben und sich der Wohnungsmarkt nicht überhitzt. "Es ist uns bisher gelungen, zu verhindern, dass sogenannte Heuschrecken in großer Zahl nach Wien kamen – internationale Immobilienfonds, die nur am kurzfristigen Herausziehen von Kapital interessiert sind. So etwas ist nie gut für eine Stadt", schrieb der damalige Wohnbaustadtrat und nunmehrige Wiener Bürgermeister Michael Ludwig 2015 in einem Statement. Konservative Gegenstimmen argumentieren hingegen, dass der hohe Steuerungsanspruch der Stadt die Möglichkeiten zur Bildung von Immobilieneigentum in Wien erheblich einschränke. Und auch die Kritik des Ökonomen Matthias Benz ist scharf: Das Wiener Modell schaffe eine Zweiklassengesellschaft derer, die eine Gemeindewohnung erhalten haben und sie von Generation zu Generation weitergeben können, und derer, die keinen Zugang zu einer solchen subventionierten Wohnung haben. Die Verteilung der Wohnungen verdanke sich sozialdemokratischer Klientelpolitik.

Doch was wäre eigentlich die bessere Alternative? Die Gerechtigkeit, die Kritiker wie Benz einfordern, ist wieder einmal die Gerechtigkeit des freien Marktes: Privilegien soll es nur für die geben, die dafür bezahlen können. Dass dieses alte liberalkapitalistische Prinzip weniger denn je für eine sozial gerechte Allokation der knappen Güter sorgt, dürfte allgemein bekannt sein. Angesichts der "Rückkehr der Wohnungsfrage" und des grotesken Verhältnisses von Wohnungsnachfrage, Wohnungsangebot und Mietpreisentwicklung in deutschen Städten wie München, Stuttgart, Frankfurt am Main oder Berlin liest sich die Gesamtbilanz des Wiener Modells durchaus positiv. Entstanden im Geiste eines politischen Programms, das Sozialpolitik und Sozialdisziplinierung eng miteinander verband, stehen die Gemeindebauten heute für das Recht auf Wohnen sowie für eine soziale Mischung, die bei allen Problemen und Konflikten, die dort herrschen, auch ein Rezept gegen Gentrifizierung und residentielle Segregation ist. Dass seit einigen Jahren in Wien wieder Gemeindebauten errichtet werden, erscheint vor diesem Hintergrund prinzipiell als ein guter Weg – zumindest dann, wenn die Zugangsvoraussetzungen dem Bedarf einer krisengeschüttelten Gegenwartsgesellschaft mit all ihren sozialen Verwerfungen und kulturellen Diversitäten weiter angepasst werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph Reinprecht, Kommunale Strategien für bezahlbaren Wohnraum: Das Wiener Modell oder die Entzauberung einer Legende, in: Barbara Schönig/Justin Kadi/Sebastian Schipper (Hrsg.), Wohnraum für alle?! Perspektiven auf Planung, Politik und Architektur, Bielefeld 2017, S. 213–230, hier S. 221.

  2. Vgl. Matthias Benz, Die meisten Wiener leben in einer geförderten Wohnung. Was paradiesisch klingt, taugt dennoch nicht als Vorbild in der Wohnungspolitik, 9.5.2019, Externer Link: http://www.nzz.ch/-ld.1480080.

  3. Bertrand Michael Buchmann, Dynamik des Städtebaus, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien u.a. 2006, S. 47–84, hier S. 63.

  4. Für einen Überblick über die Gesamtentwicklung vgl. Wolfgang Hösl/Gottfried Pirhofer, Wohnen in Wien 1848–1938. Studien zur Konstitution des Massenwohnens, Wien 1988.

  5. Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Csendes/Opll (Anm. 3), S. 175–544, hier S. 189f.

  6. Vgl. Gert Kähler, Nicht nur Neues Bauen! Stadtbau, Wohnung, Architektur, in: ders. (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Band 4: 1918–1945. Reform – Reaktion – Zerstörung, Stuttgart 20002, S. 303–452, hier S. 364.

  7. Vgl. Friedrich Hauer/Andre Krammer, Wilde Siedlungen und rote Kosakendörfer. Zur informellen Stadtentwicklung im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hrsg.), Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019, S. 170–175; Ulrike Zimmerl, Kübeldörfer. Siedlung und Siedlerbewegung im Wien der Zwischenkriegszeit, Wien 2002.

  8. Vgl. Andreas Nierhaus, "Ein Werk der Kultur, das weiterbestehen wird in der Geschichte." Der Karl-Seitz-Hof und das Wohnbauprogramm des Roten Wien, in: Schwarz/Spitaler/Wikidal (Anm. 7), S. 192–197, hier S. 194.

  9. Vgl. Maderthaner (Anm. 5), S. 381.

  10. Vgl. Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur- und Kommunalpolitik 1919–1934, Wien 2002, S. 30f.

  11. Ebd., S. 34.

  12. Zit. nach Kähler (Anm. 6), S. 365.

  13. Ebd., S. 363f.

  14. Zur kommunalen Wiener Architektur der Zwischenkriegszeit siehe v.a. Hans Hautmann/Rudolf Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919–1934, Wien 1980; Eve Blau, Rotes Wien: Architektur 1919–1934. Stadt – Raum – Politik, Basel 2014; Weihsmann (Anm. 10).

  15. Nierhaus (Anm. 8), S. 196f.

  16. Vgl. dazu Siegfried Mattl, Die Marke "Rotes Wien". Politik aus dem Geist der Reklame, in: Wolfgang Kos (Hrsg.), Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930, Wien 2010, S. 54–63.

  17. Zit. nach Was ist das Rote Wien? Debatte, in: Schwarz/Spitaler/Wikidal (Anm. 7), S. 18–23, hier S. 18.

  18. Reinhard Sieder, Wohnen und Haushalten im Gemeindebau. Politischer Diskurs, Repräsentation, Praxis, kulturelle Folgen, in: Schwarz/Spitaler/Wikidal (Anm. 7), S. 234–241, hier S. 235.

  19. Vgl. ebd., S. 238.

  20. Ebd., S. 240.

  21. Einen guten Überblick über die Verteilung der Gemeindebauten über die einzelnen Stadtbezirke bietet die Grafik in Josef Cser/Claudia Huemer (Hrsg.), Wiener Wohnwunder. Der Gemeindebau in 100 Geschichten, Wien 2020, S. 86f.

  22. Vgl. Kähler (Anm. 6), S. 331.

  23. Zu den Lokalisationsprofiten vgl. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume, Frankfurt/M.–New York 1991, S. 25–34.

  24. Maderthaner (Anm. 5), S. 381.

  25. Stimmen und Geschichten aus der Nachbarschaft im Gemeindebau versammelt z.B. der Band von Cser/Huemer (Anm. 21).

  26. Reinprecht (Anm. 1), S. 219f.

  27. Ebd., S. 227.

  28. In: Evelyn Mandl/Ferenc Sabo (Hrsg.), Wie Wien wohnt. Gestern – heute – morgen, Wien 2015, S. 32.

  29. Vgl. Benz (Anm. 2).

  30. Vgl. Björn Egner/Stephan Grohs/Tobias Robischon (Hrsg.), Die Rückkehr der Wohnungsfrage. Ansätze und Herausforderungen lokaler Politik, Wiesbaden 2021.

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ist Akademischer Rat am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und Privatdozent an der Universität Wien.
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