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"Wir bezahlen den Preis für die verschleppte Energiewende" | Energiepolitik | bpb.de

Energiepolitik Editorial "Wir bezahlen den Preis für die verschleppte Energiewende". Fragen zur aktuellen Energiekrise und zum Wert erneuerbarer Energien Energie und Sicherheitspolitik. Warum wir eine vernetzte Sicherheitspolitik benötigen Zwischen langfristigen Weichenstellungen und kurzfristigem Krisenmanagement. Kleine Geschichte der Energiepolitik in der Bundesrepublik Alle für die Energiewende? Akteure und Institutionen in der deutschen Energiepolitik Womit wir wirtschaften. Energieverbrauch in Deutschland Das Gebot der Stunde. Energiesparen durch Energiesuffizienz Potenzial Wasserstoff. Energiesystem der Zukunft?

"Wir bezahlen den Preis für die verschleppte Energiewende" Fragen zur aktuellen Energiekrise und zum Wert erneuerbarer Energien

Claudia Kemfert

/ 9 Minuten zu lesen

Erneuerbare Energien sind "Friedensenergien". Auf der einen Seite verhindern sie Risiken durch Abhängigkeiten, auf der anderen sichern sie nachhaltigen Wohlstand. Die Auswirkungen der verschleppten Energiewende machen sich in der gegenwärtigen Energiekrise bemerkbar.

Frau Kemfert, Sie bezeichnen erneuerbare Energien auch als "Friedensenergien". Warum?

– Erneuerbare Energien schaffen Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, indem sie fossile Energiekriege und -krisen vermeiden. Wir befinden uns derzeit inmitten eines solchen fossilen Energiekrieges, angezettelt durch den Angriff Russlands auf die Ukraine. Die Preise für fossile Energien explodieren. Es ist nicht die erste Krise dieser Art, die wir erleben; in den vergangenen Jahrzehnten gab es zahlreiche solcher Situationen. Fossile Energien sind zumeist in Händen von autokratischen Regimen, die ihre Marktmacht ausnutzen. Je weniger wir also an fossilen Energien importieren müssen, desto weniger abhängig sind wir von geostrategischen Risiken weltweit. Erneuerbare Energien sind somit nicht nur "Freiheitsenergien", sie verteidigen auch die Demokratie vor einem Verlust ihrer Integrität.

Im Moment verändert sich die geopolitische Landschaft im Energiesektor. Neue Energiekooperationen werden geplant, zum Teil mit zweifelhaften Partnern. Zeigt das unsere Abhängigkeit oder ist das Ausdruck politischen Unwillens, erneuerbare Energien konsequent zu fördern?

– Wir bezahlen den Preis für die verschleppte Energiewende. Hätten wir die Energiewende nicht so massiv ausgebremst, erneuerbare Energien ausgebaut und das Energiesparen vorangebracht, könnten wir heute zuallererst auf heimische erneuerbare Energien zurückgreifen. Da aber der Anteil von 80 Prozent Erneuerbaren an der Stromerzeugung nicht erreicht wurde und wir auch in den Bereichen Gebäude und Verkehr nicht annähernd so weit sind, wie wir eigentlich hätten sein können, müssen wir wohl oder übel weiterhin fossile Energiekooperationen eingehen. Die wenigsten Anbieter für fossile Energieträger sind "lupenreine Demokraten", teilweise haben wir es mit moralisch höchst zweifelhaften Partnern zu tun. Daher ist es auch so wichtig, uns von diesen Fesseln zu befreien und alles daran zu setzen, auf heimische erneuerbare Energien bauen zu können. Das bedeutet nicht, dass wir zukünftig gar keine Energie mehr importieren werden, besonders auf grünen Wasserstoff sind wir angewiesen. Dennoch werden die Importmengen deutlich geringer sein als heute. Zudem können wir anhand von Nachhaltigkeitszertifizierungen und -kriterien festlegen, dass wir Umwelt-, Klima und Sozialstandards bei der Herstellung und dem Transport von grünem Wasserstoff einhalten.

Wie stark würden Sie den Einfluss der Fossilen-Energie-Lobby einschätzen?

– Ich habe in meinen bisherigen Büchern, insbesondere in "Das fossile Imperium schlägt zurück", ausführlich dargelegt, warum die fossile Lobby so stark ist, und mit welchen Mythen sie versucht uns einzureden, dass die Energiewende nicht umzusetzen wäre. Die fossilen Lobbyisten waren und sind noch immer sehr stark; ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir in der jetzigen Situation sind. Wir alle bezahlen dafür einen verdammt hohen Preis. Der Preis der verschleppten Energiewende ist gigantisch, nicht nur ökonomisch, politisch und geostrategisch, sondern auch – wie sich in Zukunft vermutlich noch stärker zeigen wird – demokratisch.

Beim Gas ist es aktuell vor allem die Verknappung angesichts der Folgen des Ukrainekrieges, die die Preise in die Höhe treibt. Lässt sich das eins zu eins auch auf den Strommarkt übertragen? Welche Faktoren sind hier entscheidend?

– Gas ist in Deutschland vor allen Dingen wichtig für die Wärmeerzeugung. Etwa die Hälfte der Haushalte in Deutschland heizen damit. Aber auch in der Industrie, wo etwa die Hälfte der Kraftwerke neben Strom auch Wärme herstellt – in sogenannten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen –, ist Gas essenziell. Knapp zehn Prozent des Stroms wird in Deutschland mit Gas hergestellt, derzeit steigt der Anteil sogar etwas, weil in Frankreich zahlreiche Atomkraftwerke ausfallen. Entsprechend steigt der Strompreis derzeit weniger aufgrund von Knappheiten in Deutschland, sondern aufgrund der Preissprünge bei den Brennstoffen. Hier ist vor allen Dingen Gas entscheidend. Der Strompreis an der Börse bildet sich gemäß der sogenannten Merit-Order, das heißt, das teuerste Kraftwerk bestimmt den Preis, hier die Gaskraftwerke. Daher ist es so wichtig, dass wir in der Zukunft von hohen fossilen Energiepreisen wegkommen, die auch den Strompreis ansteigen lassen. Erneuerbare Energien senken den Strompreis an der Börse und können dauerhaft preissenkend wirken. Sie sichern somit nicht nur Frieden und Freiheit, sondern stärken auch die Versorgungssicherheit und führen zu günstigeren Strompreisen.

Wie bewerten Sie die "Rückkehr" zur Kohle oder auch die Debatten um den verlängerten Einsatz von Atomenergie?

– Hier geht in der öffentlichen Diskussion viel durcheinander. Weder gibt es eine Rückkehr zur Kohle noch kann uns die Atomkraft derzeit aus der Krise helfen. Modellsimulationen und die Stresstests der Bundesregierung belegen, dass wir derzeit in einer angespannten Stromversorgungslage sind, ausgelöst durch die maroden französischen Atomkraftwerke. Von denen sind derzeit über die Hälfte nicht am Netz. Bis zum Winter wird der Anteil zwar wieder zunehmen, aber ein Viertel wird vermutlich noch immer nicht angeschlossen sein. Dies wird sich auch auf die Versorgungslage in Deutschland auswirken. In Deutschland ist Strom aber nicht knapp, wir haben ausreichende Versorgungskapazitäten. Der Stresstest wurde durchgeführt, um extreme Szenarien zu simulieren, die von einem sehr geringen Einsatz von Atomkraftwerken, einer sehr hohen Nachfrage in Deutschland, einem witterungsbedingten Rückgang von Strom sowie geringen Kapazitäten im europäischen Ausland ausgehen. Dass all dies parallel eintritt, halte ich für extrem unwahrscheinlich. Und selbst wenn, reden wir über Stromausfälle von einigen Stunden im kommenden Winter. Dafür drei verbliebene Atomkraftwerke am Netz zu lassen, die nur maximal ein Prozent des Gasverbrauchs und maximal drei Prozent des Stroms ersetzen können, halte ich für nicht vertretbar. Der Aufwand ist enorm hoch, da das Atomgesetz geändert und Personal vorgehalten werden muss, sicherheitstechnische Überprüfungen durchgeführt und Brennelemente erworben werden müssen. Kurzfristig werden wir die in Sicherheitsreserve befindlichen Kohlekraftwerke nutzen, nicht nur um Strom herzustellen, sondern vor allen Dingen Wärme für Industrie und Haushalte. Der Dreh- und Angelpunkt ist aber ein deutlich schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien sowie die bessere Auslastung der in Deutschland befindlichen Kapazitäten.

Gibt es dabei Hoffnungsträger, und wie realistisch ist deren rascher Ausbau?

– Alle erneuerbaren Energien sind Hoffnungsträger, da wir sie alle benötigen, angefangen bei der Wind- und Solarenergie über nachhaltige Biomasse bis hin zu Wasserkraft sowie dem Einsatz von mehr Speichern. Pumpspeicherkraftwerke sind beispielsweise heute schon wirtschaftlich, dennoch werden sie abgeschaltet, weil der Strom mit unnötigen Abgaben und Umlagen belegt ist. Batterien in Heimspeichern oder der Elektromobilität können genutzt werden, um temporär Flexibilität zu schaffen. Virtuelle Kraftwerke gehören genauso zum Lösungspaket wie die Digitalisierung. Grüner Wasserstoff, das heißt aus Ökostrom gewonnener Wasserstoff, wird ebenso wichtig werden. Allerdings muss er aufwendig hergestellt werden, man benötigt drei- bis fünfmal so viel Strom, als wenn man ihn direkt nutzen würde. Er ist doch etwas für besondere Anlässe; ich bezeichne ihn immer als "Champagner der Energieträger": kostbar und teuer. Wir benötigen ihn aber insbesondere im Bereich der Schwerindustrie, teilweise im Schwerlastverkehr und im Schiffs- und Flugverkehr, da es dort keine elektrischen Alternativen gibt. Wir werden grünen Wasserstoff nicht allein aus Deutschland beziehen können, sondern müssen auch diesen importieren. Dafür müssen schon heute die Infrastrukturen geschaffen werden.

Wie effektiv halten Sie die von der Regierung beschlossenen Energiesparmaßnahmen?

– Ich finde alle Energiesparmaßnahmen richtig. Die Bundesregierung kann nicht von Privathaushalten verlangen, dass sie sparen, wenn sie selbst nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Daher ist es sinnvoll und richtig, dass man die Beleuchtung öffentlicher Gebäude temporär runterfährt, ebenso die maximale Raumtemperatur. In der Summe können auch kleine Maßnahmen am Ende einen Unterschied machen – nicht nur was die Energiebereitstellung und die Vermeidung von möglichen Knappheiten betrifft. Es werden auch reale Kosten vermieden. Und das ist in der aktuellen Situation extrem wichtig.

Welche Auswirkungen hat die Energieverteuerung für Unternehmen? Welche politischen Instrumente eignen sich, um die schlimmsten Verwerfungen in der Wirtschaft zu verhindern?

– Fossile Energien verteuern sich, und alle Unternehmen, die sehr hohe Mengen an fossiler Energie benötigen, haben extreme Preissteigerungen. Sie alle wie auch die gesamte Volkswirtschaft bezahlen nun den Preis für die verschleppte Energiewende. Erneuerbare Energien verursachen derartige Preissteigerungen nicht. Auch beim Strompreis könnten die Anstiege deutlich geringer sein. Jetzt geht es darum, auf der einen Seite die Kosten zu senken, das heißt das Sparen voranzutreiben, und auf der anderen Seite die Energiewende so schnell wie möglich voranzubringen. Unternehmen sollten schnellstmöglich auf erneuerbare Energien beziehungsweise Alternativen zu fossiler Energie umsteigen. Als flankierende politische Instrumente bieten sich sowohl Prämien für Energieeinsparung als auch Förderprogramme für die Abkehr von fossilen Energien an.

Welche Potenziale und positiven Dynamiken lassen sich möglicherweise durch die Energiepreiserhöhung erwarten?

– Potenziale können nur dann entstehen, wenn ernsthaft in das Energiesparen investiert wird – und in die Energiewende insgesamt. Beides droht leider wieder ausgebremst zu werden, da wir zurzeit rückwärtsgewandte Debatten der vergangenen 15 Jahre wiederholen. Ein Beispiel ist die Atomenergie, das andere ist der Bau von Flüssiggas-Terminals oder die Forderung, Kohle noch länger laufen zu lassen. In Krisenzeiten melden sich leider auch diejenigen zu Wort, die den Wandel verhindern wollen.

Droht eine neue soziale Spaltung entlang des "Energiecleavages" – zwischen Personen, die sich die teure Energie weiterhin leisten können und solchen, die im Winter zwei Pullover anziehen müssen?

– Die neue soziale Spaltung ist Teil von Putins Plan. Durch die starke Abhängigkeit von fossilen Energielieferungen und die Preisanstiege für fossile Energie, die Teile des Ablaufplans sind, drohen nun massive soziale Verwerfungen. Diese sollen nicht nur sozial spalten, sondern vor allem die Demokratie zersetzen. Die soziale Spaltung ist ein Ziel der Kampagnen, die wir aktuell schon sehen und die noch massiv zunehmen werden. Deswegen ist es so wichtig, soziale Unterstützung zu leisten und insbesondere den Einkommensschwächsten zu helfen. Zudem muss das Energiesparen belohnt werden. Gleichzeitig benötigen wir aber auch mehr Solidarität, denn diejenigen, die sich weiterhin Energie leisten können, sind gefordert, diese nicht weiter zu verschwenden. Dadurch lassen sich auch die hohen Preise senken.

Welche Entlastungsmaßnahmen können hier überhaupt greifen und die schlimmsten Verwerfungen abwehren?

– Kluge Energiepolitik schafft soziale Gerechtigkeit. Dazu gehören die Stärkung des ÖPNV sowie das Neun-Euro-Ticket, finanzielle Anreize für Energiesparmaßnahmen und die Energiewende insgesamt, die sich preissenkend auswirkt. Aber auch Pro-Kopf-Pauschalzahlungen sind sinnvoll, ebenso wie zielgerichtete Erstattungen der hohen Kosten für besonders Betroffene. Wichtig ist, dass nicht nach dem Gießkannenprinzip gehandelt wird, sondern zielgerichtet.

Was machen die prognostizierten Engpässe und Ratschläge aus Politik und Ökonomie mit unserer Gesellschaft und mit der Demokratie? Gilt das Wohlstandsversprechen noch oder wird es künftig eine andere Art Wohlstand sein?

– Die Frage ist, was ein Wohlstandsversprechen meint. Ein Wohlstand, der basierend auf vermeintlich billiger fossiler Energie zulasten der zukünftigen Generationen, des Klimas und der Umwelt geht, kann kein Versprechen sein, sondern bedeutet einen Trugschluss. Ein Wohlstand, der auf einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, auf sozialer Gerechtigkeit, auf Klima- und Umweltschutz basiert, ist durchaus erreichbar und sollte uns allen ein Versprechen sein. Die bisherige Mentalität "höher, schneller, weiter" zulasten des Planeten und zukünftiger Generationen kann ohnehin nicht so weitergehen. Davon müssen wir uns verabschieden, wir alle können davon aber auch profitieren.

Wird es auch in Zukunft zu krisenbedingter Energieverknappung kommen?

– Eine kluge Energiewende vermeidet Energieverknappungen. Eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien ist nicht nur ökonomisch und technisch, sondern auch ökologisch effizient. Eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien senkt die Energiesystemkosten, da der Primärenergieverbrauch halbiert werden kann. Geringe Wirkungsgrade von Kraftwerken und Verbrennungsmotoren werden vermieden. Wenn Ökostrom direkt genutzt wird, erhöhen sich die Wirkungsgrade dagegen massiv. Das erhöht zwar auch den Stromverbrauch, senkt aber die Energiekosten, da der Primärenergiebedarf halbiert werden kann. Zudem werden nicht nur Umwelt und Klimaschäden vermieden, auch Kriege. Weitere fossile Energiekriege wird es nur dann geben, wenn es uns nicht gelingt, die Energiewende rasch umzusetzen.

Kann die Energiewende angesichts drohender Negativszenarien gelingen?

– Die Negativentwicklungen und Szenarien machen es sicherlich schwierig, die Energiewende so umzusetzen, wie es notwendig wäre. Ich erkenne die identischen Muster der vergangenen 20 Jahre, die uns in die aktuelle Situation und die damit verbundenen Krisen gebracht haben. Wir diskutieren nicht über Zukunftswege, sondern versuchen immer, die Vergangenheit möglichst lange festzuhalten. In Krisensituationen ein echtes Umsteuern zu erreichen, ist denkbar schwierig. Es ist uns in der Vergangenheit nicht gelungen. Dennoch bin ich optimistisch, dass es dieses Mal gelingen kann – wenn wir alle verstehen, dass der Wandel Chancen bringt. Anders als in den vergangenen Krisen haben wir es hier mit einer von außen gesteuerten fossilen Energiekrise zu tun, die uns ungeahnte Potenziale eröffnen kann. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir diese Chance ergreifen und die Energiewende beherzt umsetzen.

Wie werden wir in 20 Jahren auf die aktuelle Situation zurückblicken?

– Wenn es uns gelingt, dieses Mal die richtigen Lehren aus der Krise zu ziehen, haben wir die Krise in 20 Jahren erfolgreich gemeistert. Die Abhängigkeit von fossilen Energien wurde abgeschafft, wir versorgen uns autark mit erneuerbaren Energien, und schaffen so Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand.

Die Fragen wurden im Oktober 2022 schriftlich beantwortet.

ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sowie Professorin an der Leuphana Universität Lüneburg.
E-Mail Link: sekretariat-evu@diw.de