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Recht vs. Naturwissenschaften? Die Debatte zur Regulierung grüner Gentechnik in der EU

Katharina Schreiber

/ 15 Minuten zu lesen

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Pflanzen, die mit Genomeditierungsverfahren erzeugt wurden, unter das Zulassungsverfahren des Europäischen Gentechnikrechts fallen. Das Echo in Wissenschaft und Politik ist geteilt, die Reformdebatte in vollem Gang.

2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Urteil "Confédération paysanne", dass Organismen, die mit Genomeditierungsverfahren erzeugt worden sind, dem Europäischen Gentechnikrecht unterliegen. Das Urteil hat eine Reformdebatte rund um die rechtliche Regulierung grüner Gentechnik zur Erzeugung neuer Pflanzensorten angestoßen. Die unterschiedlichen Reformvorschläge zeigen, wie umstritten das Thema weiterhin ist. Auch die Europäische Kommission hat sich im April 2021 zu der Frage geäußert, wodurch die Reformdiskussion politisch Fahrt aufgenommen hat.

Herkömmliche und zielgerichtete Mutagenese

Der Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft ist an sich keine neue Entwicklung. Bereits seit den 1920er Jahren werden gentechnische Verfahren eingesetzt, um neue Pflanzensorten mit bestimmten Eigenschaften zu erzeugen, wie zum Beispiel Toleranzen gegen klimatische Extrembedingungen (Trockenheit, Hitze, Kälte), höhere ernährungsphysiologische Qualität und neue Verarbeitungsmöglichkeiten. Hier werden die sogenannten herkömmlichen Mutageneseverfahren eingesetzt, mit denen die Rate genetischer Veränderungen durch chemische Substanzen oder Bestrahlung signifikant erhöht wird. Dabei ist nur die Erzeugung ungerichteter Mutationen möglich, es können also keine spezifischen Eigenschaften gezielt hervorgerufen werden. Der züchterische Prozess, bei dem eine sehr hohe Anzahl an Pflanzen generiert wird, die hinsichtlich der gewünschten Eigenschaften ausgewählt und zur Kreuzung eingesetzt werden, ist sehr aufwendig.

Demgegenüber bedeuten Genomeditierungsverfahren einen großen Entwicklungsschritt. Grundsätzlich umfassen solche Verfahren ein breites Feld an Anwendungsmöglichkeiten. In der aktuellen Reformdebatte geht es vor allem um den spezifischen Anwendungsfall der sogenannten zielgerichteten Mutagenese: Hier können einzelne Basenpaare im Genom einer Pflanze ausgetauscht, entfernt oder hinzugefügt werden. Entscheidender Unterschied zu den herkömmlichen Mutageneseverfahren ist, dass gezielt, also an einem vorher bestimmten Ort im Erbgut, Mutationen in unterschiedlichen Formen hervorgerufen werden können. Die Risiken dieses Verfahrens sind unter Experten umstritten.

Seit dem Aufkommen von Genomeditierungsverfahren, vor allem des CRISPR/Cas9-Systems im Jahr 2012, wird intensiv diskutiert, ob mithilfe solcher "Genscheren" erzeugte Pflanzen den Regelungen des Europäischen Gentechnikrechts unterfallen.

Die Freisetzungsrichtlinie im Europäischen Gentechnikrecht

Herzstück des Europäischen Gentechnikrechts ist die Freisetzungsrichtlinie, die ein verpflichtendes behördliches Zulassungsverfahren für genetisch veränderte Organismen (GVO) festlegt, bevor sie in die Umwelt freigesetzt und auf den Markt gebracht werden dürfen. Ziel ist der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Sinne des Vorsorgeprinzips, das ein wichtiges Leitprinzip des europäischen Umweltrechts ist. Zwar sind Inhalt und Anwendungsvoraussetzungen des Vorsorgeprinzips im Einzelnen umstritten, allgemein als Definition anerkannt ist aber Prinzip 15 der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung von 1992: Demnach sind staatliche Risikoregulierungsmaßnahmen bereits in Fällen wissenschaftlicher Unsicherheit gerechtfertigt, wenn schwere oder irreversible Schäden für Mensch und Umwelt drohen.

Die Freisetzungsrichtlinie legt den Anwendungsbereich des gesamten Europäischen Gentechnikrechts fest. Erstens definiert sie einen GVO als "Organismus (…), dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist". Zweitens bestimmt sie mithilfe sogenannter Positiv- und Negativlisten, welche Verfahren der genetischen Veränderung einen GVO erzeugen oder nicht. Hier gibt es eine sogenannte Mutageneseausnahme, durch die Organismen, die mit Mutageneseverfahren erzeugt worden sind, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen werden. Bei Erlass der Freisetzungsrichtlinie 1990 wurden die herkömmlichen Mutageneseverfahren aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert, da sie bereits damals seit Jahrzehnten standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt wurden und seit Langem als sicher galten.

Im Rahmen des Zulassungsverfahrens für GVO findet eine Risikobeurteilung (risk assessment) statt, bei der von Fall zu Fall etwaige direkte, indirekte, sofortige oder spätere schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt ermittelt und evaluiert werden. Nach der europaweit geltenden Zulassung bestehen strenge Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten. 18 der 27 EU-Mitgliedstaaten machen aktuell von der 2015 erlassenen Opt-out-Regelung Gebrauch und verbieten den Anbau von GVO auf ihrem Territorium.

Das EuGH-Urteil

Der EuGH entschied, dass durch Genomeditierungsverfahren erzeugte Organismen unter die Freisetzungsrichtlinie fallen und somit dem Zulassungsverfahren sowie Kennzeichnungs- und Monitoringpflichten unterliegen. In seinem Urteil ging der EuGH in zwei Schritten vor, wie es auch in der Freisetzungsrichtlinie selbst angelegt ist: Zunächst legten die Richter die Definition eines GVO primär prozessbezogen aus. Das bedeutet, dass es zur Qualifizierung eines GVO vornehmlich auf den Einsatz einer (Gen-)Technik als "unnatürliches" Handeln ankommt, das sich als Mutation im Genom der Pflanze niederschlagen muss. In einem zweiten Schritt legte der EuGH die Mutageneseausnahme eng aus. Das heißt, dass nur die Verfahren der Mutagenese, die herkömmlich und seit Langem als sicher gelten, vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind.

Hier kam es entscheidend auf die Auslegung des Begriffs an: "Mutagenese" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zwar der naturwissenschaftlichen Fachterminologie entlehnt ist, deswegen aber nicht seine Qualität als Rechtsbegriff verliert. Versteht man unter "Mutagenese" die Erzeugung von Mutationen in einem Organismus und demzufolge als einen Oberbegriff, sind auch zielgerichtete Mutageneseverfahren zur künstlichen Erzeugung von Mutationen in einem Organismus umfasst. Der EuGH argumentierte jedoch mit dem Willen des Unionsgesetzgebers, vom Anwendungsbereich der Richtlinie nur diejenigen Mutageneseverfahren auszunehmen, die standardmäßig in der Pflanzenzüchtung angewandt werden. Es handelt sich hierbei also um das Argument fehlenden Erfahrungswissens. Seine Auslegung begründete der EuGH mit dem Vorsorgeprinzip, eine andere Interpretation würde "dem Vorsorgeprinzip zuwiderlaufen".

Politische Bestrebungen für eine Neujustierung

Unmittelbar nach dem Urteil kam Kritik mit Blick auf seine Umsetzbarkeit auf: Pflanzen, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren erzeugt wurden, sind nicht von Pflanzen zu unterscheiden, die auf herkömmliche Mutageneseverfahren zurückgehen. Das stellt Behörden vor praktische Schwierigkeiten, entsprechende Produkte als "mit Gentechnik hergestellt" zu klassifizieren und zu kennzeichnen. Vor diesem Hintergrund beauftragten die EU-Staats- und Regierungschefs die Kommission mit einer Studie zum Status genomeditierter Organismen im Unionsrecht, die im April 2021 vorgelegt wurde. Darin skizzierte die Kommission keine konkreten Reformvorschläge, insgesamt lässt sich jedoch herauslesen, dass sie eine Neujustierung des geltenden Rechts tendenziell befürwortet.

Mit Blick auf die Identifizier- und Nachverfolgbarkeit genomeditierter Pflanzen und daraus entwickelter Produkte sieht sie die Gefahr welthandelsrechtlicher Auseinandersetzungen, da wichtige Handelspartner solche Produkte weder regulieren noch kennzeichnen würden. Ferner spricht die Kommission so erzeugten Pflanzen zu, einen wichtigen Beitrag zur Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie leisten zu können, indem sie beispielsweise durch Toleranzen gegen Extrembedingungen zu einer klimaangepassten Landwirtschaft beitragen könnten. Im Hinblick auf Sicherheitsbedenken bestätigt sie zwar einerseits den geltenden Ansatz der Risikobeurteilung, GVO von Fall zu Fall auf schädliche Auswirkungen zu untersuchen. Andererseits weist sie darauf hin, dass eine weiterhin strenge Anwendung der geltenden Vorschriften bei neuen Pflanzenzüchtungsverfahren Probleme für die Anpassung an den wissenschaftlichen Fortschritt nach sich ziehen könnte.

Entscheidend für eine mögliche Reform ist, dass die Kommission die unterschiedliche Regulierung von genetisch identischen Produkten infrage stellt: Sie kommt zu dem Schluss, dass den Organismen die gleichen Risiken anhaften – unabhängig davon, ob sie durch herkömmliche oder zielgerichtete Mutageneseverfahren oder sogenannte Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind. Bei Cisgenese-Verfahren wird ausschließlich arteigenes Genmaterial übertragen, anders als bei Transgenese-Verfahren, bei denen Fremd-DNA in einen Organismus über Artgrenzen hinweg eingefügt wird. Die Kommission hat nunmehr gesetzgeberische Bestrebungen für die Entwicklung eines eigenen Regelwerkes für so erzeugte Pflanzen sowie Lebens- und Futtermittel angekündigt. Ein konkreter Vorschlag der Kommission wird für Ende 2023 erwartet.

Reformvorschläge im Überblick

Dieser wird sich einordnen in ein weites Spektrum an Regulierungsoptionen, die seit dem EuGH-Urteil diskutiert werden. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Strömungen mit wachsendem Abstand zur aktuellen Rechtslage herauslesen.

Beibehaltung des geltenden Rechtsrahmens

Am einen Ende des Spektrums wird für die fortdauernde Anwendung des Europäischen Gentechnikrechts auf Erzeugnisse von Genomeditierungsverfahren plädiert. Hier unterscheiden sich die Argumentationsweisen: Einerseits wird das Erfordernis strenger Kontrolle betont, andererseits wird für einen flexibleren Umgang mit dem geltenden Recht geworben.

Für eine strikte Anwendung des gegenwärtigen Zulassungsverfahrens auf alle durch Genomeditierungsverfahren erzeugten Pflanzen sprechen sich vor allem Debattenteilnehmer aus, die wie der Verein Testbiotech kritisch gegenüber der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO eingestellt sind. Ihr Hauptargument ist, dass sich diese Verfahren hinsichtlich ihrer Risiken und potenziellen Auswirkungen wesentlich von konventionellen Mutageneseverfahren unterscheiden, weil sie ermöglichen, umfassender in das Erbgut einzugreifen als bisher. Insbesondere weisen sie das Argument zurück, dass Genomeditierungsverfahren präziser und daher sicherer seien, und verweisen auf die Möglichkeit unvorhergesehener Effekte bei der Veränderung genetischen Materials. Daher sei es notwendig, die aktuelle Risikobeurteilung vor allem in Bezug auf die Identifizierung von Risiken anzupassen und zu erweitern. Die zentrale Rolle des Vorsorgeprinzips bei der Sicherung eines hohen Schutzniveaus für Mensch und Umwelt sei auch in Zukunft zu stärken. Dies werde aus ethischer Perspektive untermauert, die das Vorsorgeprinzip zur Maxime eines angemessenen Umgangs mit neuen Technologien im Falle wissenschaftlicher Unsicherheit erhebe.

Demgegenüber weisen einige Debattenteilnehmer auf die bereits bestehenden Instrumente der Freisetzungsrichtlinie hin, die ohne Änderung der Rechtslage ein vereinfachtes Zulassungsverfahren für genomeditierte Organismen ermöglichen. Sie sehen darin vor allem eine Möglichkeit, die Zeit bis zur Änderung der geltenden Rechtslage zu überbrücken. Wenn mit der Freisetzung bestimmter, mit zielgerichteten Mutageneseverfahren erzeugter GVO in bestimmten Ökosystemen ausreichend Erfahrungen gesammelt worden sei, könne ein Beschluss ergehen, dass Freisetzungen eines GVO am selben Ort oder an verschiedenen Orten zum selben Zweck und innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einem einzigen Anmeldeverfahren beantragt werden dürfen. Um das Zulassungsverfahren zu vereinfachen, wird zudem vorgeschlagen, dass die ergänzenden Guidelines der European Food Safety Agency, die als Hilfestellung bei einem Zulassungsantrag dienen, dahingehend geändert werden, dass sie die Eigenschaften genomeditierter Pflanzen stärker berücksichtigen. So könnten detaillierte Kriterien ausgearbeitet werden, wann solche Pflanzen einem vereinfachten Verfahren unterliegen: In Betracht kommen unter anderem die Art der genetischen Veränderung und die Relevanz des neuen Züchtungsmerkmals für eine nachhaltige und klimaangepasste Landwirtschaft.

Änderung des geltenden Rechtsrahmens

Eine Vielzahl der Kommentatoren fordert, Pflanzen, die mithilfe zielgerichteter Mutageneseverfahren produziert wurden, aus dem Anwendungsbereich der Freisetzungsrichtlinie herauszunehmen, da ihre Anwendbarkeit wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sei. Ihr Hauptargument ist, dass genetisch identische Pflanzen der gleichen Regulierung unterliegen sollten, unabhängig davon, ob sie durch herkömmliche oder zielgerichtete Mutageneseverfahren erzeugt worden sind. Ihre Reformvorschläge beziehen sich daher auf die Änderung des Anwendungsbereichs der Freisetzungsrichtlinie und/oder auf das geltende Verfahren zur Risikobeurteilung und zum Risikomanagement. Risikomanagement bedeutet hier, dass der Antragstellende nach Zulassung mögliche schädliche Auswirkungen des GVO auf die Umwelt und menschliche Gesundheit erfasst und die zuständige Behörde die Monitoringberichte bewertet und gegebenenfalls Maßnahmen ergreift.

Für die Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des Europäischen Gentechnikrechts gibt es zwei Anknüpfungspunkte in der Freisetzungsrichtlinie: zum einen die GVO-Definition, zum anderen die sogenannte Negativliste (Anhang IA Teil 2) beziehungsweise der Ausnahmetatbestand (Anhang IB). Mit Blick auf die GVO-Definition sprechen sich einige Debattenteilnehmer wie die Group of Chief Scientific Advisors der Europäischen Kommission für einen Wechsel von der prozessbezogenen Auslegung – wie der EuGH sie bislang anwendet – hin zu einer produktbezogenen Auslegung aus. Das würde bedeuten, dass die Qualifizierung eines GVO davon abhängig gemacht wird, ob die im Endprodukt vorhandene genetische Veränderung auf natürlichem Weg hätte entstehen können. In diesem Zusammenhang wird vorgeschlagen, die GVO-Definition im Europäischen Gentechnikrecht im Einklang mit dem Protokoll von Cartagena über die Biologische Sicherheit zu lesen, dem wichtigsten völkerrechtlich verbindlichen Vertrag in Bezug auf GVO, dessen Artikel 3lit. g auf eine "neuartige Kombination genetischen Materials" zur Qualifizierung abstellt.

Eine andere Möglichkeit wäre aus Sicht der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, zielgerichtete Mutageneseverfahren auf die sogenannte Negativliste zu setzen und von vorneherein nicht als Verfahren genetischer Modifikation einzuordnen, die die GVO-Definition umfasst. Ein ähnlich gelagerter Vorschlag der European Plant Science Organisation lautet, den Ausnahmetatbestand umzugestalten: Entweder könne – entgegen der Interpretation des EuGH – der Begriff "Mutagenese" so definiert werden, dass er auch zielgerichtete Mutageneseverfahren einschließt, oder diese könnten eigenständig in die Liste der Ausnahmetatbestände aufgenommen werden. Davon losgelöst wird vorgeschlagen, anstelle der Auflistung von Verfahren zur genetischen Modifikation allgemeine Kriterien einzuführen, die zur Erfüllung des Ausnahmetatbestandes vorliegen müssten.

Ein weiterer Diskussionsstrang dreht sich um den angemessenen Harmonisierungsgrad der Freisetzungsrichtlinie. Dieser bestimmt, inwiefern die Mitgliedstaaten die Vorgaben aus der Richtlinie in innerstaatliches Recht umsetzen müssen. Aktuell gilt eine umfassende Vollharmonisierung, die Mitgliedstaaten dürfen also keine anderen Regeln einführen als jene, die in der Richtlinie festgelegt sind. Um Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, GVO trotz der kritischen Haltung anderer Mitgliedstaaten anzubauen, wird vorgeschlagen, dass zwar die Risikobeurteilung vollharmonisiert bleibt, das Risikomanagement aber nur noch mindestharmonisiert auf mitgliedstaatlicher Ebene stattfindet. Dies würde bedeuten, dass die Richtlinie für das Risikomanagement nur noch einheitliche Mindeststandards festlegt, wobei es im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten läge, höhere Standards zu setzen. Da es Bedenken gibt, dass dies den Grundsatz einheitlicher, EU-weit geltender Zulassungsbestimmungen untergraben könnte, wird alternativ ein opt-in für den GVO-Anbau vorgeschlagen, das Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen könnten, wenn das Zulassungsverfahren eines GVO aufgrund einer politischen Blockade scheitert und ansonsten alle Kriterien für eine Zulassung erfüllt sind.

Schaffung eines neuen Rechtsrahmens

Am anderen Ende des Spektrums werden komplett neue Regulierungsansätze diskutiert, die allgemeiner Natur sind. Ein Vorschlag des Europäischen Ethikrats lautet, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse auch die möglichen Auswirkungen eines GVO auf die Biodiversität und die Bodennutzung sowie seinen potenziellen Beitrag zur Ernährungssicherheit zu beachten. In diesem Zusammenhang plädiert auch das Bundesamt für Naturschutz dafür, Nachhaltigkeitsaspekte anhand feststehender Kriterien verstärkt in den Blick zu nehmen und in das Risikobewertungsverfahren einfließen zu lassen.

Ferner gibt es detailliertere Ausarbeitungen zur Schaffung eines neuen Regelwerkes. Losgelöst von der geltenden Rechtslage wird eine dreistufige Regulierung vorgeschlagen, die sich nach der Reichweite der erzeugten genetischen Veränderung richtet: von der schlichten Notifizierung bei genomeditierten Organismen, die auch natürlich oder mit konventioneller Züchtung entstehen können (erste Stufe), über ein beschleunigtes Verfahren für Organismen mit artspezifischer genetischer Veränderung (zweite Stufe) bis zum klassischen Zulassungsverfahren mit Risikobewertung für Organismen, bei denen Artenbarrieren überschritten werden oder fremde DNA eingefügt wird (dritte Stufe). Dieses System kann weiter ausdifferenziert werden, indem neben der Bewertung der Risiken auch ethische und soziale Faktoren berücksichtigt werden.

Ausblick

Während in der EU sowohl aufseiten der Kommission als auch aufseiten der Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren eine kritische Haltung gegenüber grüner Gentechnik überwog, deutet sich nun ein Umdenken an. Dies lässt sich insbesondere aus den politischen Reformbestrebungen der Kommission im Hinblick auf Pflanzen sowie Lebens- und Futtermittel ableiten, die durch zielgerichtete Mutageneseverfahren und Cisgenese-Verfahren erzeugt worden sind. Insofern scheint eine Gleichbehandlung von zielgerichteten und herkömmlichen Mutageneseverfahren, wie sie der EuGH 2018 noch mit Blick auf das fehlende Erfahrungswissen abgelehnt hatte, im Rahmen des Möglichen zu liegen. Dies wird wiederum von einigen Kommentatoren entschieden kritisiert, die auf die durch CRISPR/Cas9 in einem größeren Umfang als bisher möglichen Veränderungen des Erbgutes verweisen, die ungewollte Effekte und damit einhergehende spezifische und neuartige Risiken nach sich ziehen könnten.

Wichtig für das Verständnis der Debatte ist, dass das geltende Recht weiterhin für davon abzugrenzende Anwendungsfälle von Genomeditierungsverfahren anwendbar bleibt: Wird Fremd-DNA in einen Organismus eingefügt, unterliegt dieser dem Zulassungsverfahren sowie den Kennzeichnungspflichten. Offen ist weiterhin, welche Regulierungsoption die Kommission anstrebt. Die Freisetzungsrichtlinie verfügt als stringentes Regelwerk bereits über Instrumente, um das Zulassungsverfahren zu vereinfachen, ohne den vorsorgebasierten Regulierungsgedanken zu vernachlässigen oder aufzugeben. Dabei bleibt die Beibehaltung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt und die menschliche Gesundheit bei der Freisetzung und Inverkehrbringung von GVO unerlässlich. Auch eine mögliche Reform sollte weiterhin vom gesellschaftlichen Diskurs und Konsens getragen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heiko Becker, Pflanzenzüchtung, Stuttgart 2019, S. 207f.

  2. Vgl. Thomas Langer, Mutation und Reparatur, in: Katharina Munk et al. (Hrsg.), Genetik, Stuttgart–New York 2017, S. 370–420, hier S. 401.

  3. Für einen Überblick siehe Basiswissen CRISPR/Cas, in: Toni Cathomen/Holger Puchta (Hrsg.), CRISPR/Cas9. Einschneidende Revolution in der Gentechnik, Berlin 2018, S. 1–67.

  4. Vgl. Eva Gelinsky/Angelika Hilbeck, European Court of Justice Ruling Regarding New Genetic Engineering Methods Scientifically Justified: A Commentary on the Biased Reporting About the Recent Ruling, in: Environmental Sciences Europe 30/2018, Externer Link: https://doi.org/10.1186/s12302-018-0182-9.

  5. Zum Begriff "umweltrechtliches Leitprinzip" siehe Christian Calliess/Matthias Ruffert, EUV/AEUV. Kommentar, München 2022, Art. 191 AEUV, Rn. 28.

  6. Vgl. Richtlinie (EU) 2015/412, 13.3.2015.

  7. Vgl. EuGH, Urteil vom 25.7.2018, Rechtssache C-528/16, Rn. 54.

  8. Vgl. ebd., Rn. 27–38.

  9. Vgl. Hans-Georg Dederer, Genomeditierung ist Gentechnik. Eine kritische Analyse des EuGH-Urteils Confédération paysanne u.a., in: Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht 2/2019, S. 236–245, hier S. 241; so auch Elisabeth Andersen/Katharina Schreiber, "Genome Editing" vor dem EuGH und seine Folgen, in: Natur und Recht 2/2020, S. 99–106, hier S. 101.

  10. Vgl. EuGH (Anm. 7), Rn. 39–51.

  11. Vgl. ebd., Rn. 51.

  12. Ebd., Rn. 53. Vgl. umfassend Katharina Schreiber, Recht und Ethik der Risikoregulierung in der Grünen Gentechnik, Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2023.

  13. Vgl. umfassend Elisabeth Andersen/Katharina Schreiber, Neue Regeln für die Gentechnik in Europa?, in: Natur und Recht 3/2020, S. 168–178, hier S. 171f.

  14. Vgl. Beschluss (EU) 2019/1904 des Rates, 8.11.2019, Absatz 4.

  15. Vgl. hier und im Folgenden European Commission, Study on the Status of New Genomic Techniques Under Union Law and in Light of the Court of Justice Ruling in Case C-528/16, Commission Staff Working Document 92/2021, S. 52–59.

  16. Vgl. ebd., S. 59.

  17. Vgl. Frank Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, Berlin 2020, S. 11.

  18. Für einen Überblick siehe Externer Link: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13119-Legislation-for-plants-produced-by-certain-new-genomic-techniques_en.

  19. Vgl. Testbiotech, Overview of Genome Editing Applications Using SDN-1 and SDN-2 in Regard to EU Regulatory Issues, März 2020, S. 11ff.; Michael Eckerstorfer et al., Biosafety of Genome Editing Applications in Plant Breeding: Considerations for a Focused Case-Specific Risk Assessment in the EU, in: BioTech 3/2021, Externer Link: https://doi.org/10.3390/biotech10030010; Bundesamt für Naturschutz (BfN), New Developments and Regulatory Issues in Plant Genetic Engineering, BfN Viewpoint, Oktober 2021, S. 4f., S. 13.

  20. Für eine umfassende Diskussion möglicher unvorhergesehener Effekte vgl. Katharina Kawall/Janet Cotter/Christoph Then, Broadening the GMO Risk Assessment in the EU for Genome Editing Technologies in Agriculture, in: Environmental Sciences Europe 32/2020, Artikelnr. 106.

  21. Vgl. ebd.; Klaus Peter Rippe/Ariane Willemsen, The Idea of Precaution: Ethical Requirements for the Regulation of New Biotechnologies in the Environmental Field, in: Frontiers in Plant Science 9/2018, Artikelnr. 1868; Eckerstorfer et al. (Anm. 19); BfN (Anm. 19), S. 16.

  22. Vgl. Rippe/Willemsen (Anm. 21).

  23. Vgl. Martin Wasmer, Roads Forward for European GMO Policy – Uncertainties in Wake of ECJ Judgment Have to Be Mitigated by Regulatory Reform, in: Frontiers in Bioengineering and Biotechnology 7/2019, Artikelnr. 132; Huw D. Jones, Future-Proofing Regulation for Rapidly Changing Biotechnologies, in: Transgenic Research 2/2019 (Supplement), S. 107–110, hier S. 110.

  24. Vgl. ebd.

  25. Dies erfolgt im Rahmen der sog. vereinfachten Verfahren gem. Art. 7 Abs. 1, 13 Abs. 2, 16 Abs. 1 FreisetzungsRL; auf diese Möglichkeiten weisen mehrere Autoren hin. Vgl. Wasmer (Anm. 23); Jones (Anm. 23); Dennis Eriksson et al., Options to Reform the European Union Legislation on GMOs: Scope and Definitions, in: Trends in Biotechnology 3/2020, S. 231–234, hier S. 233.

  26. Vgl. The Norwegian Biotechnology Advisory Board, Proposal for Relaxation of Norwegian Regulations for Deliberate Release of Genetically Modified Organisms (GMO), With Applicability Also for EU Legislation, Dezember 2018, S. 32f.; Wasmer (Anm. 23).

  27. Vgl. Norwegian Biotechnology Advisory Board (Anm. 26), S. 32f.

  28. Vgl. Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina)/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Akademieunion)/Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (Hrsg.), Wege zu einer wissenschaftlich begründeten, differenzierten Regulierung genomeditierter Pflanzen in der EU. Stellungnahme, Halle/S. 2019, S. 71; European Plant Science Organisation (EPSO), On the ECJ Ruling Regarding Mutagenesis and the Genetically Modified Organisms Directive: Statement, 19.2.2019, S. 2; Group of Chief Scientific Advisors (GCSA), A Scientific Perspective on the Regulatory Status of Products Derived from Gene Editing and the Implications for the GMO Directive, 13.11.2018, S. 3ff.

  29. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232; EPSO (Anm. 28), S. 2; Leopoldina/Akademieunion/DFG (Anm. 28), S. 71, S. 73; Nina Duensing et al., Novel Features and Considerations for ERA and Regulation of Crops Produced by Genome Editing, in: Frontiers in Bioengineering and Biotechnology 6/2018, Artikelnr. 79; Petra Jorasch, The Global Need for Plant Breeding Innovation, in: Transgenic Research 28/2019 (Supplement 2), S. 81–86, hier S. 85.

  30. Vgl. GCSA (Anm. 28), S. 4; Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232.

  31. Vgl. Andersen/Schreiber (Anm. 9), S. 99ff.

  32. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 25), S. 232; EPSO (Anm. 28), S. 4.

  33. Vgl. Leopoldina/Akademieunion/DFG (Anm. 28), S. 74.

  34. Vgl. EPSO (Anm. 28), S. 4.

  35. Vgl. ebd.; Wasmer (Anm. 23).

  36. Vgl. Ministerie van Infrastructuur en Waterstaat (Netherlands), Proposal for Discussion on Actions to Improve the Exemption Mechanism Under Directive 2001/18/EC, 1.9.2017, S. 4, S. 6f.

  37. Vgl. die Diskussion bei Kai Purnhagen/Justus Wesseler, Maximum vs Minimum Harmonization: What to Expect from the Institutional and Legal Battles in the EU on Gene Editing Technologies, in: Pest Management Science 9/2019, S. 2310–2315; Dennis Eriksson et al., Options to Reform the European Union Legislation on GMOs: Risk Governance, in: Trends in Biotechnology 4/2020, S. 349–351, hier S. 350.

  38. Zur Vollharmonisierung vgl. Meinhard Schröder, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, München 2018, Art. 114, Rn. 46.

  39. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 37), S. 350.

  40. Zur Mindestharmonisierung vgl. Schröder (Anm. 38), Rn. 49.

  41. Vgl. Eriksson et al. (Anm. 37), S. 350 mit Verweis auf dens. et al., Implementing an EU Opt-in Mechanism for GM Crop Cultivation, in: EMBO Reports 5/2019, Externer Link: https://doi.org/10.15252/embr.201948036.

  42. Vgl. European Group on Ethics in Science and New Technologies, Ethics of Genome Editing, Opinion 32/2021, S. 91f.

  43. Vgl. BfN (Anm. 19), S. 6, S. 16, S. 18f.

  44. Vgl. Sigrid Bratlie et al., A Novel Governance Framework for GMO, in: EMBO Reports 5/2019, Externer Link: https://doi.org/10.15252/embr.201947812; Norwegian Biotechnology Advisory Board, A Forward-Looking Regulatory Framework for GMO, Dezember 2018, S. 3f.

  45. Vgl. Michelle Habets et al., Genome Editing in Plants and Crops – Towards a Modern Biotechnology Policy Focused on Differences in Risks and Broader Considerations, Rathenau Instituut 2019, S. 5, S. 32ff.

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promoviert an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu aktuellen Fragen des Biotechnologierechts sowie dessen ethischen Bezügen.
E-Mail Link: contact@cibss.uni-freiburg.de