Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven | Soziale Ungleichheit | bpb.de

Soziale Ungleichheit Editorial Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen Soziale Herkunft und Bildung Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit Einkommens- und Vermögensungleichheit Struktur sozialer Ungleichheit Folgen sozialer Ungleichheit Internationale Trends der sozialen Ungleichheit Literatur und Online-Angebote Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 354/2023

Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven

Olaf Groh-Samberg Corinna Kleinert Dirk Konietzka

/ 17 Minuten zu lesen

Ungleichheit prägt jede Gesellschaft. Sie drückt sich in Verteilungsungleichheiten aus, etwa von Einkommen und Vermögen, aber auch in Chancenungleichheiten – etwa der Chance auf ein langes Leben.

Soziale Ungleichheit durchzieht Gesellschaften auf vielfältige Weise, in ihrer extremen Form kann sie Parallelwelten mit krassen sozialen Gegensätzen erzeugen, Berlin-Mitte 2019. (© picture-alliance/dpa, dpa-Zentralbild)

„Soziale Ungleichheit“ ist ein weiter Begriff, der sich auf verschiedene Aspekte bezieht. Bei sozialer Ungleichheit denken wir vielleicht zunächst an extreme soziale Gegensätze wie reiche Menschen in ihren Luxusvillen und die Armut von Obdachlosen, an offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe oder an die krassen globalen Gegensätze zwischen akutem Hunger in Ländern des Globalen Südens und dem Reichtum und Überfluss in vielen Industriestaaten, darunter auch Deutschland.

Diese Gegensätze weisen auf die trennende Gewalt von Ungleichheiten hin, die geradezu Parallelwelten erzeugen können, in denen das Leben jeweils vollkommen anders ist. Dennoch sind die scheinbar voneinander abgekoppelten Welten eng miteinander verbunden, insofern sie letztlich in denselben gesell­schaftlichen Verhältnissen wurzeln und die Armut und Benachteiligung der einen möglicherweise gar eine Folge des Reichtums und der Privilegien der anderen ist.

Aber soziale Ungleichheiten können sich auch in weniger krassen Unterschieden äußern. Sie durchziehen Gesellschaften in allen Bereichen auf vielfältige Weise. Auch in einem reichen Land wie Deutschland äußern sich beispielsweise die Einkommensungleichheiten in ungleichen Lebenserwartungen: Menschen mit weniger Einkommen sterben früher als Menschen mit hohen Einkommen; die Bildung der Eltern prägt die Bildungschancen Heranwachsender und damit ihr späteres Lebenseinkommen gravierend; das Risiko einer längerfristigen Arbeitslosigkeit unterscheidet sich massiv nach der beruflichen Position; Heiraten und Freundschaften sind unter Personen mit ähnlichem sozialen Status weitaus häufiger als über Statusgrenzen hinweg – diese Liste ließe sich lange fortsetzen (siehe Kapitel Interner Link: Folgen sozialer Ungleichheit).

Soziale Ungleichheiten wirken in modernen Wohlfahrts­gesellschaften (also in vergleichsweise reichen, demokratischen Gesellschaften mit einer kapitalistischen Marktwirtschaft und einem Wohlfahrtsstaat, wie etwa Deutschland) grundsätzlich nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit: Niemand wird aufgrund seiner Geburt dazu gezwungen, eine bestimmte Position in der Gesellschaft einzunehmen; niemandem ist es grundsätzlich verboten, zu Reichtum zu gelangen; jeder Mensch hat theoretisch die Möglichkeit, gefeierter Star oder Kanzler:in zu werden. Gleichwohl sind die Chancen darauf, im Leben bestimmte soziale Positionen zu erreichen, ungleich verteilt, etwa in Abhängigkeit von der sozialen und ethnischen Herkunft, aber auch abhängig von Ereignissen, die im Verlauf des Lebens eintreten können, und von Entscheidungen, die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen und die sich manchmal im Nachhinein als Weichenstellungen entpuppen, die nur schwer zu revidieren sind.

Definition sozialer Ungleichheiten

Aber was sind überhaupt „soziale Ungleichheiten“? In der Soziologie – der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ – wird von sozia­len Ungleichheiten dann gesprochen, wenn (nach der Definition des Soziologen Reinhard Kreckel) „die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden“. Als „allge­mein erstrebenswerte Güter“ gelten dabei Einkommen und Vermögen, aber auch Bildung und Wissen oder Ansehen und Status (z. B. eines Arztes im Vergleich zu einer Reinigungskraft).

Die ungleiche Verteilung von erstrebenswerten Gütern wird gemeinhin als „Verteilungsungleichheit“ bezeichnet. In der Ungleichheitsforschung spielen daneben auch „soziale Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind", eine zentrale Rolle. Hier geht es um soziale Beziehungen, in die ein Herrschaftsgefälle eingebaut ist. Darunter sind beispielsweise die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen in Betrieben zu verstehen, aber auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in patriarchalischen Gesellschaften, in denen Ehemännern herrschaftliche Rechte gegenüber ihren Ehefrauen zugesprochen werden.

Nicht alle Verteilungsungleichheiten begründen soziale Ungleichheiten. Zwei weitere Kriterien, die in der Definition genannt werden, sind dafür entscheidend: Erstens muss es sich um „allgemein erstrebenswerte Güter“ handeln. Was dabei als „erstrebenswert“ gilt, kann sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und zwischen verschiedenen Zeiten unterscheiden (z. B. Ackerland oder die Weisheit hohen Alters in früheren Zeiten, Geldvermögen und Expertenwissen heute). Die entsprechenden Güter sind in der Regel knapp und müssen von vielen Menschen (aber nicht von jeder einzelnen Person) begehrt werden, um als „allgemein erstrebenswert“ zu gelten. Sie sind insofern auch ein Spiegel von gesellschaftlichen Werten und Normen, die definieren, was in einer bestimmten Gesellschaft als erstrebenswert gilt.

Zweitens müssen die Ungleichheiten von Dauer sein, also in irgendeiner Form in den Institutionen einer Gesellschaft (also etwa der Wirtschaftsordnung, der Familie, der Bildungspolitik, ...) verankert sein. Eine Lotterie schafft beispielsweise auch Ungleichheiten, diese sind aber nicht von Dauer, sondern das Ergebnis einer einmaligen Verlosung (wobei der Losgewinn auch investiert werden und damit dauerhafte Erträge abwerfen kann). Soziale Ungleichheiten ähneln einer Lotterie, in der die Gewinnchancen auf Dauer ungleich unter den Teilnehmenden verteilt sind: Einige gewinnen immer wieder oder mehr, andere verlieren immer wieder oder erhalten weniger. So hängen die (laufenden) Einkommen auf dem Arbeitsmarkt von der (dauerhaften) beruflichen Position ab; Vermögensgewinne lassen sich bei großen Startvermögen leichter erzielen als bei geringen; neues Wissen lässt sich leichter erlernen, wenn eine Person bereits über breite Grundkompetenzen verfügt – Privilegien wie Benachteiligungen erhalten oder vermehren sich also über den Lebensverlauf hinweg.

Jedoch bieten moderne Wohlfahrtsgesellschaften immer wieder auch Gelegenheiten, in denen die Lose zumindest teilweise neu gemischt werden können: So sind immer auch soziale Auf- oder Abstiege möglich, beispielsweise durch persönliche Anstrengungen und Leistungen, durch glückliche oder falsche Entscheidungen, durch Erkrankungen und Schicksalsschläge oder einfach durch Zufall und Glück.

Verteilungs- und Chancenungleichheit

Soziale Ungleichheit lässt sich aus unterschiedlichen Pers­pek­tiven betrachten. Die zuvor genannte Definition betrachtet eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt (im „Querschnitt“) und nimmt dabei die ungleichen Verteilungen von Ressourcen oder Positionen in den Blick. Soziale Ungleichheit lässt sich aber auch (wie im vorigen Beispiel) ausgehend von den Lebensverläufen von Menschen (im „Längsschnitt“) betrachten: Wie kommen Menschen im Laufe ihres Lebens zu „allgemein begehrten Ressourcen oder Positionen“? Dabei geht es dann um die ungleichen Lebenschancen (Chancenungleichheiten) von Menschen.

Verteilungs- und Chancenungleichheit müssen klar unterschieden werden: Die Verteilungsungleichheit zeigt, wie die Ressourcen oder Positionen zu einem bestimmten Zeitpunkt verteilt sind: Wie ungleich oder gleich sind zum Beispiel Einkommen und Vermögen, Bildungsabschlüsse und berufliche Positionen, Wohnraum und Gesundheit in der Bevölkerung verteilt? Diese Verteilungsungleichheit oder Ungleichheitsstruktur wird vor allem von der politischen und ökonomischen Verfasstheit einer Gesellschaft bestimmt. So beeinflusst beispielsweise das Steuerrecht in hohem Maße das Ausmaß der Einkommens- und Vermögensungleichheit einer Gesellschaft. Mit Chancenungleichheit ist dagegen die ungleiche Verteilung der Chancen von einzelnen Menschen gemeint, jeweils bestimmte Positionen in dieser Verteilungs- oder Ungleichheitsstruktur zu besetzen. Hier geht es also um die Chancen, etwa Bildung zu erwerben, beruflich aufzusteigen, in Führungspositionen zu gelangen oder Vermögen ansparen zu können.

Die Beziehung zwischen der Verteilungs- und der Chancenungleichheit ist kompliziert. Häufig wird argumentiert, dass die Chancenungleichheit viel wichtiger ist als die Verteilungsungleichheit, weil es nicht darauf ankomme, wie groß der Unterschied zwischen Arm und Reich in einer Gesellschaft ist, sondern allein darauf, wie groß die Chancen sind, arm oder reich werden zu können. Rein theoretisch ist vorstellbar, dass auch in einer strukturell sehr ungleichen Gesellschaft eine sehr hohe Chancengleichheit realisiert wird. Auch hier ist die Lotterie ein gutes Beispiel: Die Verteilungsungleichheit entspricht der „Preisstruktur“ einer Lotterie: Wie viele Preise und wie viele Nieten gibt es, wie groß ist der erste Preis im Vergleich zum zweiten und allen weiteren Preisen? In einer Tombola sind die Preise relativ gleicher verteilt als bei einer „Winner-Takes-All“-Lotterie. Unabhängig davon sind jedoch die Chancen, einen Preis zu gewinnen, in jeder Lotterie per Definition exakt gleich für alle Teilnehmenden. Es herrscht also perfekte Chancengleichheit bei sehr hoher oder gar maximaler Verteilungsungleichheit.

Auf moderne Gesellschaften lässt sich dieses Modell aber nicht übertragen, weil – wie oben bereits angemerkt – die Chancen eines Individuums, eine bestimmte Position in der Gesellschaft (z. B. einen angesehenen Beruf oder ein hohes Einkommen) zu erreichen, stark von seiner Ausgangsposition (also seiner sozialen Herkunft, der sozialen Stellung der Eltern) abhängt. Die Idee, gleiche Startchancen von Individuen in einer strukturell ungleichen Gesellschaft zu ermöglichen, ist aus ungleichheitssoziologischer Sicht weitgehend utopisch. Gleichwohl drückt die insbesondere in den USA häufig gebrauchte Redewendung „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ die Auffassung aus, dass sich große ökonomische Ungleichheiten (zwischen Tellerwäscher:in und Millionär:in) mit einer hohen Chancengleichheit vereinbaren lassen – weil alles nur von der individuellen Leistung und dem Aufstiegswillen abhänge. Dahinter steht der Glaube an die „Meritokratie“ (die „Herrschaft der Leistung“), also der Glaube, dass es vor allem von der persönlichen Leistungsbereitschaft der Menschen abhänge, ob sie gesellschaftlich erfolgreich sind.

Die jüngere Forschung hat diesen Glauben in vielen wichtigen Punkten als einen „Mythos der Meritokratie“ widerlegt. So zeigt sich auch im Vergleich von Ländern, dass Verteilungs- und Chancengleichheit keineswegs unabhängig voneinander sind, sondern hohe Einkommensungleichheit in der Regel mit geringer Einkommensmobilität zwischen den Generationen einhergeht. Die USA bilden mit ihrer hohen Einkommensungleichheit hier keine Ausnahme, denn die Einkommensmobilität zwischen den Generationen ist vergleichsweise gering. Eine der zentralen Forschungsfragen im Bereich der sozialen Ungleichheit ist dennoch genau die Frage, wie stark künftige soziale Positionen (und damit die Lebenschancen) von Individuen von ihrer aktuellen oder früheren sozialen Position abhängen und in welchem Maß sich diese Zusammenhänge im Lauf der Zeit zum Guten oder Schlechten verändert haben.

Dimensionen sozialer Ungleichheit

Soziale Ungleichheiten lassen sich in vielen verschiedenen Dimensionen beobachten und sind damit insgesamt ein multidimensionales Phänomen. In der Ungleichheitsforschung exis­tieren verschiedene Ansätze einer Sortierung von Ungleichheitsdimensionen. Zum Beispiel werden materielle (Einkommen, Vermögen, Wohnen), kulturelle (Bildung, Ethnizität), soziale (Netzwerke, familiale Lebensformen) und subjektive (Gesundheit, Selbstwirksamkeit) Dimensionen unterschie­den. Allerdings fehlt es an einer allgemein akzeptierten Systema­tisierung. Wir folgen daher hier einer einfachen, grundlegenden Unterscheidung zwischen materiell-ökonomischen und sozial-kulturellen Dimensionen.

Materiell-ökonomische Dimensionen

Zu den wichtigsten Dimensionen sozialer Ungleichheit in modernen Wohlfahrtsgesellschaften zählen drei zentrale Merkmale: Bildung, Beruf und Einkommen. Die herausragende Bedeutung dieser drei Dimensionen ergibt sich daraus, dass Berufe die wichtigste Einkommensquelle für die große Mehrheit der Bevölkerung sind und gleichzeitig die beruflichen Positionen in hohem Maße von der erworbenen Bildung abhängen (siehe Kapitel "Interner Link: Soziale Herkunft und Bildung" und Kapitel "Interner Link: Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit"). Zugleich sind Bildung und Beruf relativ dauerhafte Merkmale im Leben der Menschen. Sie bestimmen daher auch die längerfristigen Einkommenschancen. Daraus ergibt sich bereits eine Grundstruktur sozialer Ungleichheiten in modernen Marktgesellschaften im Sinne von „Großgruppen“ (sozialen Klassen, Schichten oder Lagen), die sich entlang dieser drei Dimensionen systematisch voneinander unterscheiden (siehe Kapitel "Interner Link: Struktur sozialer Ungleichheit").

Zu den materiellen Dimensionen gehört neben dem Einkommen insbesondere das Vermögen, das in verschiedenen Formen wie zum Beispiel Wohneigentum, Aktienbesitz und Geldvermögen oder Unternehmensbesitz vorliegen kann (siehe Kapitel "Interner Link: Einkommens- und Vermögensungleichheit"). Während Einkommen eine veränderliche Größe ist, die fortlaufend erwirtschaftet werden muss, ist Vermögen eine Bestandsgröße, die sich durch rentable Anlagen oder Investitionen quasi von selbst vermehren kann und/oder Einkommen aus Vermögen generiert.

Über die letzten Jahrzehnte hat das Gewicht von Vermögen im Verhältnis zum Einkommen kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Wie der französische Ökonom Thomas Piketty errechnet hat, beträgt das gesamte private Vermögen in der Bundesrepublik heute mehr als das Vierfache des jährlichen Volkseinkommens (also der Summe aller Jahreseinkommen aller Menschen in Deutschland). Anders gesagt: Für das, was die privaten Vermögensbesitzenden in Deutschland „auf der hohen Kante“ haben, müssten alle Menschen in Deutschland vier Jahre lang „schuften“, ohne einen Cent davon ausgeben zu dürfen.

Dieses Verhältnis von Vermögen und Einkommen war zuletzt am Vorabend des Ersten Weltkriegs gegeben (damals sogar mehr als das Sechsfache), während nach dem Zweiten Weltkrieg, und damit nach den großen Entwertungen und Vernichtungen von Vermögen durch Hyperinflation und Krieg in den 1930er- und 1940er-Jahren, dieser Faktor bei etwa dem Zweifachen lag. Da sich Vermögen nur langsam aufbaut und über Generationen vererbt wird, äußert sich in den Vermögensungleichheiten in besonderer Weise die Macht der Vergangenheit über die Zukunft, also auch die Macht der aktuellen Verteilungsungleichheit über die künftigen Lebenschancen von Individuen.

Sozial-kulturelle Dimensionen

Zu den nicht-materiellen Dimensionen sozialer Ungleichheit zählen unter anderem Gesundheit und soziale Netzwerke. Während Bildung und Beruf wichtige Quellen materieller Ungleichheiten darstellen, sind Gesundheit und soziale Netzwerke sowohl Folgen als auch Ursachen materieller Ungleichheiten und tragen damit erheblich zur Reproduktion und Verfestigung sozialer Ungleichheiten bei. So ist die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in hohem Maße abhängig von den materiellen Lebensbedingungen im Elternhaus – aber auch vom Bildungsniveau der Eltern. Dies hängt mit den finanziellen Kosten (beispielsweise für gesunde Ernährung), aber auch mit Unterschieden im Gesundheitsverhalten (beispielsweise Rauchen, das Verhältnis zu Sport) zusammen. Gesundheitliche Probleme können schon in der Schule zu geringeren Bildungserfolgen führen, was im späteren Leben wiederum das Risiko erhöht, in Berufen mit hohen gesundheitlichen Belastungen zu arbeiten.

In ähnlicher Weise verstärken soziale Netzwerke (darunter ist in der Soziologie der Freundes- und Bekanntenkreis einer Person zu verstehen und nicht die „sozialen Medien“) häufig soziale Ungleichheiten. Dem Prinzip der „sozialen Homophilie“ („Gleich und Gleich gesellt sich gern“) entsprechend bilden sich Freundschaften und Bekanntschaften entlang sozial gleicher Gruppen, und Personen heiraten häufig „statusgemäß“. Dadurch zirkuliert relevantes Wissen – beispielsweise über berufliche Karrieremöglichkeiten, über ertragreiche Vermögensanlagen, über gesunde Ernährung, über Rechtsfragen, über die Möglichkeiten des Bildungssystems – vorrangig in den Netzwerken privilegierter Personen, während umgekehrt in den sozialen Netzwerken benachteiligter sozialer Gruppen wenig Ressourcen vorhanden sind, mit denen diese sich wechselseitig unterstützen können.

Soziale Netzwerke, aber auch Arbeitsplätze und Schulen besitzen dabei auch eine räumliche Komponente: Sie befinden sich in bestimmten Stadtvierteln, Nachbarschaften oder Dör­fern. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sich hier oftmals Personen und Familien mit ähnlichen Ressourcenausstattungen konzentrieren – dies wird als sozialräumliche Segregation bezeichnet.

Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass sich soziale Ungleichheiten in vielfältigen Dimensionen oder Lebensbereichen äußern und sich auf jeweils unterschiedliche Weise wechselseitig bedingen können. Dies wird unter dem Begriff der „Kumulation“ von Benachteiligungen und Privilegierungen thematisiert. Kumulationen ergeben sich sowohl in einer Querschnitts-Perspektive über verschiedene Lebensbereiche oder Ungleichheitsdimensionen hinweg als auch in einer zeitlichen Perspektive als kumulative Benachteiligung oder Privilegierung über den Lebensverlauf hinweg.

Neben den materiellen und sozialen Dimensionen von Un­gleichheit spielen auch symbolische oder kulturelle Dimensionen eine zentrale Rolle. Hier geht es um zwei unterschiedliche Aspekte: Zum einen haben die bereits genannten materiellen und sozialen Ungleichheitsdimensionen immer auch eine symbolisch-kulturelle Seite, die sich in der sozialen Anerkennung und Wertschätzung – oder umgekehrt der Geringschätzung oder Diskriminierung – äußert, die Men­schen aufgrund ihrer sozialen Positionen erfahren. So unterscheiden sich beispielsweise Berufe nicht nur in ihren Einkommenschancen und ihrer sozialen Absicherung, sondern auch in ihrem gesellschaftlichen Ansehen (siehe Kapitel "Interner Link: Struktur sozialer Ungleichheit").

Ebenso haben akademische Bildungsabschlüsse ein hohes Ansehen, das sich auf die gesamte Person überträgt: Wer einen Doktortitel im Pass eingetragen hat, wird bei einer Polizeikontrolle vielleicht mit mehr Respekt behandelt als Personen ohne einen solchen Titel. Luxuskonsumgüter wie teure Autos oder teurer Schmuck definieren sich geradezu darüber, dass sie durch ihre kostspieligen Preise einen hohen Status – also die Zugehörigkeit zu einer exklusiven sozialen Gruppe – sig­na­lisieren. So erzeugen sie über ihren Gebrauchswert hinaus eine Befriedigung bei ihren Konsument:innen.

Zum anderen lassen sich Ansehen und Wertschätzung auch als ganz eigene Dimensionen sozialer Ungleichheit begreifen. Der soziologische Grundbegriff hierfür ist der soziale Status. Dieser bemisst sich an der gesellschaftlichen Anerkennung, die Personen aufgrund ihrer sozialen Position (z. B. ihres Einkommens und Vermögens, ihres Berufs) erhalten.

Sozialer Status ist oftmals auch mit Eigenschaften verknüpft, die einzelne Personen überhaupt nicht erwerben oder verändern können, sondern die ihnen von außen „zugeschrieben“ werden (sog. askriptive Merkmale): Hierzu zählen insbesondere das Geschlecht, die Hautfarbe und die ethnische Herkunft, aber auch körperliche Beeinträchtigungen, sexuelle Orientierungen oder das Alter (siehe Kapitel "Interner Link: Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen" ). Insbesondere Ungleichheiten nach Geschlecht und nach Hautfarbe oder ethnischer Herkunft verdeutlichen, wie wirkmächtig gesellschaftliche Normen bei der Herstellung von Ungleichheit sind: Sie basieren auf gesellschaftlich tief verwurzelten Rollenzuschreibungen bis hin zu sexistischen und rassistischen Stereotypen. Weil sie zudem an leicht erkennbare Merkmale wie beispielsweise Hautfarbe und/oder sekundäre Geschlechtsmerkmale geknüpft sind, können sie kaum verborgen und jederzeit aktiviert werden.

Legitimation sozialer Ungleichheit: Ungleichheit und Gerechtigkeit

Um dauerhaft bestehen zu können, müssen soziale Ungleichheiten akzeptiert und legitimiert werden. Legitimationen sind Begründungen oder Erzählungen, die plausibel machen, warum es soziale Ungleichheiten gibt und warum diese sogar „gerecht“ sein können. Damit ist bereits gesagt: Keineswegs alle Ungleichheiten sind per se ungerecht. Im Gegenteil: Wenn alle Menschen einen identischen Stundenlohn oder alle Schüler:innen den gleichen Schulabschluss erhalten würden, würde diese Ergebnis- oder Verteilungsgleichheit von vielen als „ungerecht“ empfunden werden. Sie widerspräche dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, der wohl wichtigsten Legitimation von Ungleichheiten in modernen Gesellschaften.

Dieses Prinzip besagt, dass Leistung belohnt werden soll, und als Leistungen zählen in modernen Gesellschaften vor allem Anstrengung, Fleiß und Intelligenz. Und nicht nur das: Eine gleiche Entlohnung oder Bewertung von ungleichen Leistungen würde nicht nur dem Gerechtigkeitsprinzip widersprechen, sondern auch dafür kritisiert werden, dass damit Leistungsanreize verloren gehen könnten. Ungleichheit kann also aus bestimmten Perspektiven nicht nur als gerecht, sondern auch als „funktional“, das heißt als wichtig für das Funktionieren moderner Gesellschaften, angesehen werden.

Eine der schwierigsten und zugleich wichtigsten Fragen politischer Gestaltung von Gesellschaften bleibt daher die Frage: Wann sind Ungleichheiten gerecht und/oder funktional, und wann sind Ungleichheiten ungerecht und/oder „dysfunktional“? Tatsächlich bestätigen unzählige Umfragen der vergangenen Jahre, dass eine deutliche Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland der Aussage zustimmt, dass „die sozialen Ungleichheiten in Deutschland zu groß sind“ (siehe Kapitel "Interner Link: Struktur sozialer Ungleichheit"). Auch namhafte Ökonom:innen, wie etwa der britische Ungleichheitsforscher Anthony Atkinson (1944–2017), sind davon überzeugt. Gleichwohl gibt es, wie auch Atkinson beklagte, keine allgemein akzeptierten Kriterien, um gerechte von ungerechter Ungleichheit zu trennen. In Bezug auf Einkommensungleichheit lassen sich aber zumindest drei wichtige Kriterien nennen: das Rawls-Kriterium, Leistungsgerechtigkeit plus Chancengleichheit und Marktgleichgewicht.

Das Rawls-Kriterium

Nach dem US-amerikanischen Philosophen John Rawls ist eine der wirkmächtigsten Legitimationen sogar von steigenden ökonomischen Ungleichheiten ihr wachstumsstimulierender Effekt, der dazu führt, dass selbst die relativ gesehen ärmsten Bevölkerungsschichten eine absolute Steigerung ihres Lebensstandards erfahren. Dies war über Jahrhunderte das Muster kapitalistischen Wachstums und ist es in Ländern wie China oder Indien auch heute noch: Während die Einkommensungleichheiten rasant zunehmen, steigt das Realeinkommen auch der ärmsten Bevölkerungsgruppen Jahr für Jahr an. Im wiedervereinigten Deutschland gilt dieser Zusammenhang allerdings nicht (mehr): Die steigende Einkommensungleichheit geht einher mit einem absoluten Rückgang der Realeinkommen der ärmsten 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung (siehe Kapitel "Interner Link: Einkommens- und Vermögensungleichheit").

QuellentextJohn Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit

[…] John Rawls lebte von 1921 bis 2002 und war ein Philosoph und Professor an der Harvard University. In seinem Buch „Theory of Justice“ beschäftigte er sich mit der Frage, wie man eine Gesellschaft gerecht aufbauen könne. Sein Buch gilt als eines der einflussreichsten und wichtigsten Werke in der Philosophie. […]

In seinem Werk versucht Rawls deutlich zu machen, dass individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesellschaft gleich wichtig sind.

Für Rawls war Gerechtigkeit gleich Fairness. So suchte er nach Gerechtigkeitsprinzipien, auf denen eine gerechte Gesellschaft aufgebaut werden kann. Dazu entwickelte er ein sehr interessantes Gedankenexperiment.

Rawls geht davon aus, dass sich freie und gleiche Men­schen freiwillig auf Regeln einigen, die vertraglich vereinbart werden. Diese gelten dann für alle. Theoretisch gesehen wird hier also ein Gesellschaftsvertrag geschlossen.

Weiter hat laut Rawls eine Gesellschaft die Aufgabe, Interessenharmonie zu fördern und Konflikte zu beseitigen beziehungsweise zu vermeiden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, ist Gerechtigkeit notwendig. Ihm ging es darum, eine geordnete Gesellschaft zu schaffen, in der die Menschen nach ihrer Befähigung ihren Platz im System erhalten. Mit Befähigung sind die individuellen Fähigkeiten und Verhältnisse gemeint.

Dabei ist zu beachten, dass Regeln gefunden werden müssen, die für alle fair sind und welche jeder Mensch ak­zeptiert. Aber wie genau funktioniert nun dieses Gedan­kenexperiment?

Es geht um eine Entscheidungssituation, bei der die Teilnehmenden eine Gesellschaftsform aussuchen sollen, in der sie selbst leben wollen. Die Teilnehmenden handeln dabei aus Eigeninteresse und treffen die Wahl ganz rational. Diese Situation nennt Rawls original position. Übersetzt wird diese als Urzustand bezeichnet.

Durch die Entscheidung, welche die Menschen in dieser Situation treffen, werden die Gerechtigkeitsgrundsätze bestimmt.

Wichtig hierbei ist, dass die Teilnehmenden nicht wissen, welche Position sie selbst später in dieser von ihnen gewählten Gesellschaftsform haben werden. Dieses Unwissen über den eigenen späteren Zustand, wie Talente, Begabung, körperliche Ausstattung und die Position im System, bezeichnet man als Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance).

Der Schleier des Nichtwissens ist die Situation, in der niemand seine Stellung, Klasse, Körperschaft und seinen Status in der Gesellschaft kennt. Ebenso die besonderen psychologischen Neigungen werden hier mit einbezogen.

Daraus folgt also, dass die Gesellschaftsgrundsätze aus dem Schleier des Nichtwissens resultieren.

Bei diesem Gedankenexperiment ist der Schleier des Nichtwissens deswegen so bedeutend, da niemand sich selbst bevorzugen soll. Alle befinden sich in derselben Lage und können sich daher keine Grundsätze ausdenken, die ihn oder sie bevorzugen. Die Grundsätze, die sich daraus ergeben, sind das Ergebnis einer fairen Verhandlung.

Die Fairness wird durch den Schleier des Nichtwissens erzeugt.

Nach Rawls bilden nur zwei Gerechtigkeitsprinzipien die Struktur einer gerechten Gesellschaft. Das erste Prinzip nannte er Principle of Equal Liberty. Das zweite Prinzip nannte er Difference Principle.

Es gibt nach Rawls also:

  • das Gleichheitsprinzip (principle of equal liberty) und

  • das Differenzprinzip (difference principle). […]

Das Gleichheitsprinzip lautet: Jede Person soll ein gleiches Recht auf das umfassendste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben, das mit einem entsprechenden System der Freiheit für alle vereinbart ist.

Aber was genau bedeutet das nun? Grundlage dieses Prinzips sind Freiheiten jeder Person – unsere Grundfreiheiten und die Grundrechte der Menschen. Grundrechte sind unter anderem die Meinungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Kunstfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Diese Grundfreiheiten sollen dabei für alle Menschen möglichst gleich und gleich umfangreich sein. […]

Das Differenzprinzip lautet wie folgt: Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so beschaffen sein, dass sie zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind und an Ämter und Stellungen geknüpft sind, die allen offen stehen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit.

Bei diesem Prinzip geht es um die Güterverteilung und die Chancengleichheit. Laut Rawls sind Unterschiede gerechtfertigt, wenn sie zum Vorteil des Schwächsten sind. Dieser Grundsatz ist auch als Maximin-Regel bekannt. […]

Das bedeutet also, die Version einer Gesellschaft, bei der eine*ein Obdachlose*r von einer unterschiedlichen Güterverteilung profitiert, ist besser als die Version der Gesellschaft, in der die Unterschiede zwar nicht so groß sind und die Güterverteilung ziemlich gleich ist, es hier aber dem*der Schwächsten schlechter geht.

Rawls unterstützt außerdem die Chancengleichheit bei der Verteilung von Ämtern und anderen gesellschaftlichen Positionen. Alle Menschen sollen die genau gleiche Chance haben, ein bestimmtes Amt oder eine bestimmte Stellung zu bekommen.

Bei den Prinzipien ist allerdings zu beachten, dass das Gleichheitsprinzip (principle of equal liberty) Vorrang vor dem Differenzprinzip (difference principle) hat. Damit ist gemeint, dass Grundfreiheiten für eine andere Freiheit eingeschränkt werden dürfen, aber nicht für Güter. Das Differenzprinzip darf nicht auf Kosten des Gleichheitsprinzips durchgesetzt werden. […]

Study Smarter. Online: Externer Link: https://www.studysmarter.de/schule/wirtschaft/rechtslehre/gerechtigkeitsgrundsaetze/

Rawls‘ Schleier des Nichtwissens, nach einer Vorlage von Philosophyink, Externer Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Schleier_des_Nichtwissens Lizenz: cc by-sa/4.0/deed.de

Leistungsgerechtigkeit plus Chancengleichheit

Der Glaube an das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ist Umfrageergebnissen zufolge in Europa ungebrochen – er scheint sogar parallel zur Einkommensungleichheit noch gestiegen zu sein. Ebenso bedeutsam ist aber das Prinzip der Chancengleichheit. Beide Prinzipien lassen sich jedoch nur unter sehr spezifischen Bedingungen miteinander vereinbaren, wie folgendes Gedankenexperiment verdeutlicht: Das Prinzip der Chancengleichheit verlangt, dass alle Menschen die gleichen Startchancen oder Ausgangsbedingungen besitzen. Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verlangt, dass das Einkommen, das sie im Laufe ihres Lebens erzielen, den Leistungen entspricht, die sie erbracht haben. Für eine Generation funktioniert die Vereinbarkeit von Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit perfekt. Für die Kinder dieser ersten Generation sind die Ausgangsbedingungen jedoch bereits ungleich.

Diesen Ungleichheiten könnte – etwa durch ein „kompen­sa­torisches“ Erziehungs- und Bildungssystem, das mehr in die Bildungschancen benachteiligter Schichten investiert als in die Förderung privilegierter Kinder – in gewissem Umfang entgegengewirkt werden. Wenn dies gelänge und es im Bildungssystem zu leistungsgerechten Auf­stie­gen, aber ebenso auch Abstiegen käme, ließen sich Leis­tungs­gerechtigkeit und Chancengleichheit tatsächlich auch generationenübergreifend miteinander versöhnen.

Die Verteilungsungleichheit in dieser fiktiven Gesellschaft würde allerdings vermutlich auf einem vergleichsweise gerin­gen Niveau verharren (vielleicht in etwa auf dem Niveau, das in Schweden oder Dänemark über viele Jahrzehnte existiert hat – heute ist sie bereits deutlich höher). In Deutschland ist (wie in den meisten anderen Ländern der OECD und sogar der Welt) nicht nur die Einkommensungleichheit über die vergangenen Jahrzehnte deutlich gestiegen, sondern es gibt auch sehr große Chancenungleichheiten im Bildungssystem, die dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit eindeutig widersprechen (siehe Kapitel "Interner Link: Soziale Herkunft und Bildung"). Die Realität der Bundesrepublik Deutschland ist also recht weit entfernt vom idealen Zustand einer fiktiven Gesellschaft, in der gerechte Leistungsungleichheiten mit Chancengleichheit koexistieren.

Marktgleichgewicht

Ein letztes Argument der Legitimierung von Ungleichheiten verweist schlicht auf den Markt. Die neoklassische Lehre, die noch heute den Mainstream der Wirtschaftswissenschaft bildet – und insbesondere ihre neoliberale Zuspitzung –, besagt, dass der Markt das effizienteste und effektivste System der leistungsgerechten Zuweisung von Entlohnungen bildet. Hier sind alle Ungleichheiten, die aus Marktprozessen resultieren, per se „gerecht“. Die entscheidende Annahme dabei ist, dass es kein anderes System, erst Recht keinen Akteur (wie den Staat oder Wissenschaftler:innen) geben kann, der oder die besser als der Markt beurteilen könnten, welche Leistungen gerecht entlohnt wurden und welche nicht.

Dieser (fast schon religiöse) Glaube an die „Weisheit“ des Marktes hat auch dazu geführt, dass Einkommensungleichheiten in der (vorherrschenden) Ökonomie lange Zeit kein ernstzunehmendes Forschungsthema darstellten. Erst seit den 1980er-Jahren haben auch Ökonom:innen begonnen – und dies mit beachtlichem Erfolg – die weltweiten Tendenzen gestiegener nationaler Einkommensungleichheiten zu doku­mentieren sowie zu analysieren und sie auch ursächlich mit den Auswirkungen der neoliberalen Gesellschaftsreformen in Verbindung zu bringen. So haben insbesondere der Rückgang der tariflichen Regulierung von Arbeitsmärkten und die Senkungen von Einkommens- und Vermögenssteuern als Kernbestandteile der neoliberalen Reformen zu einer Erhöhung der Einkommensungleichheiten in vielen Ländern beigetragen.

Erfahrungen von Ungleichheit

Wie kommt es, dass selbst krasse soziale Ungleichheiten fortbestehen, die sich – nach allem, was mit wissenschaftlichen Methoden darüber gesagt werden könnte – durch keine der gängigen Legitimationen rechtfertigen lassen? Warum ist die Existenz sozialer Ungleichheiten so immun gegen ihre Kritik als Ungerechtigkeit? Eine mögliche Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Versuch, sich zu vergegenwärtigen, wie soziale Ungleichheiten erfahren und wann sie als „ungerecht“ wahrgenommen werden.

Ein wesentlicher Bestandteil sozialer Ungleichheiten ist ihre Tendenz, sich auch in räumlichen und lebensweltlichen Trennungen niederzuschlagen. Arme und reiche Haushalte finden sich selten Tür an Tür in denselben Stadtteilen. Kinder aus Akademiker- und Nicht-Akademikerfamilien besuchen eher selten dieselben Schulen oder Vereine, und wenn doch, formen sich Freundschaften häufig entlang sozialer Ungleichheiten. Manager:innen und Produktionsarbeiter:innen gehen selten zusammen Mittag essen. Menschen aus ungleichen sozialen Positionen kommen also in ihrem Alltag – in Familie und Verwandtschaft, in Nachbarschaft und Freizeit, in Bildungseinrichtungen und der Arbeitswelt, in Vereinen und Ehrenämtern – seltener miteinander in informellen Kontakt als mit ihresgleichen.

Die Einschränkung „informeller“ Kontakt ist wichtig: Tatsächlich gibt es häufige Kontakte zwischen Personen aus sozial ungleichen Positionen, die aber im Rahmen von formellen Rolleninteraktionen stattfinden: zwischen Dienstleister:innen und Kund:innen, zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Kindern und Lehrer:innen. Im Rahmen solcher formellen Rolleninteraktionen kommt es aber nicht zu den sozialen Vergleichsprozessen, um die es im Folgenden geht.

Soziale Ungleichheiten werden im Alltag der Menschen durch „soziale Vergleiche“ wahrgenommen und bewertet. In Situationen beispielsweise, in denen wir mit unbekannten Personen zusammentreffen, „scannen“ wir diese nach ihrem Aussehen, Auftreten, ihrer Art zu sprechen, dem Anspruch auf Aufmerksamkeit, den sie erheben, und wir registrieren, wie andere auf sie reagieren. Neben der Einschätzung und Bewertung der Persönlichkeit spielt dabei auch ihr sozialer Status eine Rolle. Der „Referenzgruppentheorie“ entsprechend vergleichen wir uns selbst vor allem mit Menschen, von denen wir glauben, dass sie einen ähnlichen oder auch leicht höheren sozialen Status haben als wir selbst. Gegenüber Personen mit deutlich niedrigerem Status besteht in der Regel eine Distanzierung, die sich mitunter in Mitleid oder auch in Abscheu ausdrücken kann. Gegenüber deutlich statushöheren Personen gibt es zuweilen auch ein distanziertes Verhältnis, das von einer (moralisch gefärbten) Abgrenzung gegenüber „Bonzen“ bis hin zu Gleichgültigkeit („das ist nichts für mich“) reichen kann. Umgekehrt gibt es häufig auch eine heimliche bis offene Bewunderung, Idealisierung und Identifizierung, die sich gern in purer Neugier für das Leben der High Society tarnt.

Das eigentliche Terrain des sozialen Vergleichs sind jedoch Personen, die uns selbst recht ähnlich sind. Hier achten wir empfindlich auf Ungerechtigkeiten und ahnden oder bemerken selbst feine Ungerechtigkeiten. Der Grund hierfür könnte sein, dass uns die „Leistungen“ dieser Menschen und die Maßstäbe der Bewertungen ihres Tuns vertraut sind. Das ist nicht der Fall bei Menschen, die in sehr unähnlichen – weitaus privilegierteren oder benachteiligteren – Welten leben, mit denen wir nicht oder nur selten in Kontakt kommen und über die wir uns häufig nur aus Medien ein Bild machen können.

Wenn sich soziale Ungleichheiten in einer Gesellschaft also in einer starken Segregation sozialer Statusgruppen ausdrücken, soziale Vergleichsprozesse aber überwiegend in der eigenen Statusgruppe stattfinden, gerät die „Ungerechtigkeit“ der Ungleichheit gleichsam außerhalb des Erfahrungshorizonts – sie wird unsichtbar. Die „trennende Gewalt“ von Ungleichheiten, die eingangs erwähnt wurde, erweist sich also möglicherweise nicht nur als extremste Erscheinung von Ungleichheit, sondern zugleich als Existenzgrundlage sozialer Ungleichheiten – auch der vielfältigen und weniger krassen sozialen Ungleichheiten, die unsere Gesellschaft durchziehen.

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen und leitet dort die Arbeitsgruppe „Soziale, kulturelle und ökonomische Ungleichheiten“ am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Zudem ist er Sprecher des „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ungleichheitsforschung, insbesondere Armut und Reichtum, Bildungsungleichheit, soziale Mobilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Kontakt: E-Mail Link: ogrohsamberg@uni-bremen.de

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten in Bildungs- und Erwerbsverläufen sowie mit den Übergängen Jugendlicher zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Kontakt: E-Mail Link: corinna.kleinert@lifbi.de

Prof. Dr. Dirk Konietzka ist Leiter des Lehrstuhls für Soziologie mit den Schwerpunkten Sozialstrukturanalyse und empirische Forschung am Institut für Soziologie der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen soziale Ungleichheit, Lebensverlaufsforschung und sozialer Wandel.
Kontakt: E-Mail Link: d.konietzka@tu-braunschweig.de