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Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit | Soziale Ungleichheit | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 354/2023

Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit

Kathrin Leuze Corinna Kleinert Reinhard Pollak

/ 14 Minuten zu lesen

Bildung und Geschlecht haben großen Einfluss auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt. Sie bestimmen, wer Arbeit hat, in welchem Beruf und in welchem Umfang gearbeitet wird und wer wie viel verdient.

Damit Mütter gerechtere Chancen am Arbeitsmarkt haben, muss die Betreuung der Kinder gesichert sein. In vielen Kitas fehlen allerdings Kräfte, auch weil Pflegeberufe weniger gut bezahlt werden. Demonstration in Hamburg 2022 (© picture-alliance/dpa, Christian Charisius)

„Non scholae, sed vitae discimus!” – „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“ Dieses Zitat wird häufig herangezogen, um die Bedeutung schulischen Wissens für den weiteren Lebensverlauf zu begründen. Gerade für die Verbindung zwischen dem Schulsystem und dem Arbeitsmarkt in Deutschland trifft dieser Spruch sehr stark zu. Denn die Zertifikate, also die Abschlüsse, die in der Schule erworben werden, bestimmen nicht nur, ob im Anschluss eine Lehre oder ein Studium als Berufsausbildung gemacht werden kann. Sie beeinflussen in besonderem Maße auch, welche Chancen Menschen später auf dem Arbeitsmarkt haben: ob sie erwerbstätig oder arbeitslos sind, welchen Beruf sie ergreifen, wie viel sie verdienen können, ob sie in Voll- oder Teilzeit arbeiten oder welches gesellschaftliche Ansehen damit verbunden ist. Dazu zwei Beispiele:

Mira hat ihr Abitur mit der Note 1,5 abgeschlossen. Dass sie studieren wird, war schon lange klar, da auch ihre Eltern einen Hochschulabschluss haben und ihre Mutter im Gesundheitswesen und ihr Vater als Jurist bei den örtlichen Behörden beschäftigt ist. Da sie selbst schon mehrere Jahre Nachhilfe gibt und gerne mit jüngeren Kindern arbeiten möchte, ist ihr Wunschberuf Grundschullehrerin. Dieser Beruf bietet zudem eine gute Vereinbarkeit mit der Familie, was ihr ebenfalls sehr wichtig ist. Aufgrund ihrer sehr guten Abiturnote klappt die Zulassung zum Lehramtsstudium Grundschule in der nahegelegenen Universitätsstadt ohne Probleme. Das Studium selbst schließt sie in der vorgesehenen Zeit wieder mit sehr guter Note ab. Im Anschluss macht sie ihr Referendariat an einer Grundschule ihres Heimatortes, wo sie auch direkt ihre erste Anstellung bekommt. Im Referendariat verdient sie 1.500 Euro brutto, als Einstiegsgehalt erhält sie dann 3.700 Euro brutto.

Oskar hat seinen qualifizierten Hauptschulabschluss mit der Note 2,3 abgeschlossen. Auch wenn ihn das Lernen generell nicht sehr interessiert hat, sind ihm die Fächer Mathe, Physik und Informatik schon immer leichtgefallen und er hat sie mit der Note 2 oder besser abgeschlossen. Außerdem ist er handwerklich sehr geschickt und technisch interessiert, und das Basteln an seinem Moped ist sein größtes Hobby. Dies liegt sicherlich auch an seinem Vater, der ihn als Elektriker schon früh mit auf Baustellen genommen hat. Daher steht der Wunsch, eine Ausbildung zum Mechatroniker zu machen, ganz oben auf seiner Liste. Da Oskar keinen Realschulabschluss hat, findet er allerdings nicht sofort einen Ausbildungsplatz, obwohl er viele Bewerbungen schreibt. Er erhält jedoch von einem Maschinenbauunternehmen am Ort die Möglichkeit, ein Praktikum zu absolvieren und bekommt im Anschluss dort einen Ausbildungsplatz zum Mechatroniker. Die Ausbildung schließt er erfolgreich ab und wird sofort vom Ausbildungsbetrieb als Facharbeiter übernommen. Im ersten Lehrjahr erhält er 900 Euro brutto, im letzten Lehrjahr 1.100 Euro und als Geselle steigt er mit 2.300 Euro brutto ein.

Die zwei Beispiele illustrieren die Bildungs- und Erwerbsverläufe von jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Schulabschlüssen. Gleichzeitig zeigen sie auch Ungleichheiten auf, wie sie im deutschen Bildungssystem häufig anzutreffen sind (siehe Interner Link: Abschnitt "Warum sind diese Kriterien so wirkmächtig" in Kapitel "Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen"). Zum ersten unterscheidet sich der Bildungserfolg von Mira und Oskar aufgrund ihrer Herkunft: Kinder aus akademischen Elternhäusern erwerben im Mittel höhere Abschlüsse als Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern. Zum zweiten sind Mädchen heute erfolgreicher im Bildungssystem als Jungen, sie haben bessere Noten, gehen häufiger auf ein Gymnasium und erwerben das Abitur, während sie seltener die Schule ohne Abschluss oder mit einem Hauptschulabschluss verlassen.

Die Beispiele verdeutlichen jedoch noch zwei weitere Unterschiede, die sich systematisch nach der erreichten formalen Bildung unterscheiden: der erlernte Beruf und die damit einhergehenden Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten. Auch diese unterscheiden sich nicht nur nach dem Bildungsniveau, sondern auch nach dem Geschlecht. Herkunfts- und geschlechtsspezifische Bildungsungleichheiten schreiben sich also beim Übergang in die Ausbildung und in den Arbeitsmarkt fort.

Erwerbsarbeit und soziale Ungleichheit

Der Abschluss, mit dem junge Erwachsene das Bildungssystem verlassen, entscheidet in hohem Maße darüber, inwieweit sie im Anschluss erwerbstätig oder arbeitslos sind. So sind Personen, die ein Studium absolviert haben, am häufigsten erwerbstätig, gefolgt von denjenigen mit Abitur oder beruflicher Ausbildung. Die mit Abstand schlechtesten Chancen am Arbeitsmarkt haben Menschen, die das Bildungssystem ohne beruflichen Ausbildungsabschluss verlassen. Im Umkehrschluss ist diese Gruppe am häufigsten von Arbeitslosigkeit betroffen. Während die Arbeitslosenquote von akademisch gebildeten Personen in den vergangenen Jahrzehnten dauerhaft unter 5 Prozent lag und die derjenigen mit Berufsausbildung nur knapp darüber, hatten etwa 20 Prozent der Personen mit niedriger Bildung durchgängig ein hohes Arbeitslosigkeitsrisiko. Zudem ist diese Gruppe am häufigsten von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen, ist also im Durchschnitt länger als ein Jahr arbeitslos.

QuellentextJavier hat ein Geheimnis

[…] Javier ist 16 Jahre alt. Ein ernsthafter und eloquenter junger Mann. Als er mit seinen Eltern und seiner Schwester im Winter vor sechs Jahren aus prekären Verhältnissen von Spanien nach München migriert, spricht der Junge kein einziges Wort Deutsch.

Die Familie kommt in ihrem ersten Winter an der Isar im Kälteschutzprogramm der Stadt unter und also weg von der Straße. Nächste Station ist die Wohnungslosenunterkunft – bis heute das Zuhause der Familie, die mittlerweile zu siebt ist. Tagsüber, wenn Javier mit Anzug und Hemd hinterm Schalter steht, sieht dem frisch gestarteten Azubi einer Münchner Bank kein Mensch an, wo und wie er lebt.

Er schämt sich nicht dafür. Aber trotzdem müssen es nicht alle wissen. Darum legt Javier Wert darauf, die Geschichte seiner Familie unter anderem Namen zu erzählen. Er tut dies an einem Werktag nach Feierabend, im Park neben der Wohnungslosenunterkunft am Rande der Stadt.

Es ist schon zappenduster, als er mit seiner Mutter an der Seite den Platz ansteuert […].

Die beiden haben eigentlich fürs Gespräch in ihre zwei Zimmer in die Anlage geladen – aber die Security ist nicht informiert, Abstimmungsprobleme, kein Besuch mehr erlaubt, Gäste raus und also reden draußen vor der Tür. Sowas bringt Javier nicht aus der Ruhe. […]

Im April nach dem Kälteschutz-Winter zieht Javier mit den Eltern und damals noch einer Schwester in die erste Münchner Wohnungslosenunterkunft. Es ist dieselbe, in der sie seit ein paar Monaten wieder leben: auf zwei Zimmern, die nicht miteinander verbunden sind und mit drei Kindern mehr als am Anfang. Fünf, drei und ein Jahr alt sind die kleinen Geschwister. „Wir essen in unseren Zimmern, schlafen hier, verbringen hier die Zeit. „Wenn wir von einem Raum in den anderen wollen“, erzählt der große Bruder, „müssen wir über den Flur.“ Zum Duschen müssen sie übers Treppenhaus einen Stock höher.

Besonders beschwerlich, meldet sich jetzt auch seine Mutter zu Wort, sei das Kochen in der entfernten Gemeinschaftsküche. Jeden Topf, jedes Gewürz, alles, was sie dafür braucht, muss sie vom Zimmer mitnehmen. „Das kann ich alles nur machen, wenn Javier oder mein Mann zuhause sind, weil ich die kleinen Kinder dann im Zimmer lassen muss.“ Der Familienvater arbeitet halbtags in der Gastronomie, „Geschirr waschen, manchmal ein bisschen kellnern oder Waren hochschleppen“, erzählt der Sohn.

Es ist ein anstrengendes Leben. „In unserer jetzigen Unterkunft ist es oft laut und nicht immer sehr sauber.“ Trotz widrigster Umstände hat der gebürtige Spanier eine schulische Blitzkarriere hingelegt. Als er mit zehn in dieser Stadt ohne jede Sprachkenntnis landet, geht‘s zunächst an die Mittelschule, von dort in eine Übergangsklasse mit intensivem Sprachunterricht. „Nach einem Jahr konnte ich standardmäßig Deutsch und die haben gemerkt, dass ich halt doch gut in ein paar Fächern bin und dachten, es ist nicht schlecht, mich in die Realschule zu kriegen.“ Sprint-Programm nennen sie diesen Weg bei den Pädagogen. Der Name könnte für Javiers Entwicklung nicht treffender sein. Inzwischen hat er die Mittlere Reife gemacht und am 1. September [2022] seine Ausbildung zum Bankkaufmann begonnen.

Wo lernt ein Kind, das mit vier Geschwistern und den Eltern in zwei Zimmern lebt, spielt, isst und hier auch Freunde empfängt? Wo die herzkranke Schwester sich ausruht, der kleine Bruder unter epileptischen Anfällen leidet und die Mutter unter Asthma? Javier lauscht in den nächtlichen Park. Und zuckt mit den Schultern: „Ich konnte immer eineinhalb Stunden nach dem Unterricht in ein Lernstudio gehen.“ Für die Lehre zieht er sich in eine Bibliothek zurück. Die kleine Schwester macht im Hort Hausaufgaben und grundsätzlich gibt es schulische Hilfen auch in den Wohnungslosenunterkünften.

Noch nie hatte die Familie eigene vier Wände. In Spanien lebte sie mit anderen Verwandten bei der Großmutter. Eine der wenigen Erinnerungen Javiers an diese Zeit: „Es war eine kleine Mietwohnung in einem sehr, sehr alten Gebäude. Wenn‘s geregnet hat, wurde die ganze Wohnung nass.“ Seit sie in München seien, suchten sie nach einer Wohnung. „Intensiv […] es ist nicht so, dass wir uns zurücklehnen und sagen, ja vielleicht kommt eine Wohnung auf uns zu.“ Auf „Sowon“, der Online-Plattform für geförderte Wohnungen des städtischen Amts für Wohnen und Migration, würden große Wohnungen, die für sie in Frage kommen, seit Monaten nicht hochgeladen. Und wenn, dann bewerben sich Hunderte dafür. „Aber es kriegen immer andere.“

Die Miete für ihre zwei Zimmer in der Wohnungs­losenunterkunft sei sehr hoch, „dafür, dass wir in einer sehr schlechten Lage wohnen“. Javiers Vater müsse 200 Euro von seinem Lohn dafür zahlen. Seit der älteste Sohn die Ausbildung begonnen hat, ist dadurch das Monatseinkommen der Familie gestiegen. „Das wird ja alles zusammen betrachtet. Ich muss praktisch mein ganzes Gehalt abgeben.“ Vom Kindergeld hätten die Eltern etwas angespart und damit dann Anzug und Hemden für die Banklehre angeschafft. Das Jobcenter bezahlt die Mitgliedschaft in seinem Fußballverein, bei dem Javier dreimal die Woche trainiert und gibt auch einen Zuschuss für Schuhe und Trikot.

„Unser größter Wunsch ist es“, sagt Javier im Park nach kurzer Unterredung mit der Mutter, „dass jeder von uns seinen Raum und seinen Platz hat.“ Der etwas kleinere Wunsch: „Dass wir zusammen Ausflüge unternehmen und Spaß haben können, mal abschalten vom anstrengenden Alltag.“ Und einen größeren Schrank in der jetzigen Unterkunft, den könnten sie auch dringend brauchen. „Der ist so klein, dass ich Anzug und Hemden außen hinhängen muss.“ Javier hält in dieser Familie alle organisatorischen Fäden zusammen. „Ja“, sagt die Mama an seiner Seite, „er ist unser Manager“. Und der darf nicht in verbeulten Anzügen rumlaufen. Niemand von den Kollegen soll wissen, wo und wie Javier lebt.

Andrea Schlaier, „Javiers Geheimnis“, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Dezember 2022

Arbeitslosenquoten nach Bildungsstand (in Prozent aller zivilen Erwerbspersonen, ohne Auszubildende, gleicher Qualifikation) (© Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (zuletzt 2020): Aktuelle Daten und Indikatoren, Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten; https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung)

Doch selbst wenn Personen mit geringer Bildung beschäftigt sind, sind sie hier benachteiligt. So unterscheidet sich das Erwerbseinkommen sehr stark zwischen den unterschiedlichen Bildungsgruppen. Umso höher der erreichte Bildungsabschluss ist, umso höher ist auch das Erwerbseinkommen. Hinzu kommt, dass Personen ohne Berufsausbildung am häufigsten prekär beschäftigt sind, da ihre Arbeit oftmals befristet ist, sie nur ein geringeres oder kein existenzsicherndes Einkommen erhalten und/oder arbeits- und sozialrechtlich wenig abgesichert sind, beispielsweise weil sie Minijobs ausüben. Sie arbeiten daher häufig in Jobs, die nicht auf Dauer ihren Lebensunterhalt sichern oder sie gegen Lebensrisiken, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit oder Krankheit, absichern können.

Was bedeutet dies für die beiden Beispiel-Absolvent:innen? Mira hat mit ihrem akademischen Abschluss sehr gute Chancen, erwerbstätig zu sein und ein nahezu nicht vorhandenes Risiko arbeitslos zu werden. Bei Oskar sah dies zu Beginn anders aus: Wenn er es nicht geschafft hätte, einen Ausbildungsplatz zu finden, hätte er nur sehr schwer im Arbeitsmarkt Fuß fassen können, Arbeitslosigkeit oder eine prekäre Beschäftigung hätten gedroht. Dadurch, dass er mit ein wenig Verzögerung doch eine Ausbildung zum Mechatroniker machen konnte, haben sich seine Chancen am Arbeitsmarkt deutlich verbessert. Im Vergleich zu Mira sind sie dennoch etwas schlechter, was auch Oskars niedrigeres Einstiegsgehalt nach der Ausbildung zeigt. (Formale) Bildung, und hier vor allem Bildungszertifikate, ist also eine der zentralen Stellschrauben in Deutschland für den Erfolg am Arbeitsmarkt.

Warum ist das so? Eine erste Erklärung geht davon aus, dass jede Investition in Bildung die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen einer Person erhöht. Dieses sogenannte Humankapital steigt daher mit jedem Jahr, das sie/er länger im Bildungssystem verweilt und mit jedem Jahr Berufserfahrung. Je mehr Humankapital Menschen im Verlauf ihres Lebens erwerben, desto höher ist – so die Annahme – ihre Produktivität. Und diese wird auf dem Arbeitsmarkt mit besseren Erträgen belohnt. Bildungszertifikate haben zum zweiten aber auch eine Signalwirkung auf potenzielle Arbeitgebende, unabhängig von den tatsächlich erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Bildungsabschlüsse stellen daher wichtige Signale für Arbeitsmarkterträge dar. Beide Perspektiven können erklären, warum höhere Bildung ein Garant für ein höheres Einkommen und bessere Beschäftigungschancen, aber auch für ein geringeres Risiko von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung ist.

Zudem können sie erklären, warum sich herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten (siehe Kapitel "Interner Link: Soziale Herkunft und Bildung") im Arbeitsmarkt immer weiter fortsetzen. Kinder und Jugendliche aus akademisch gebildeten Elternhäusern haben bessere Voraussetzungen und ent­scheiden sich häufiger, in Humankapital zu investieren und höhere Abschlüsse zu erwerben, wodurch sie auch ihre Erwerbschancen deutlich verbessern. Bildung ist also nicht nur eine Dimension (siehe Interner Link: Abschnitt "Verteilungs- und Chancenungleichheit" im Kapitel "Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven") sozialer Ungleichheit, sondern erzeugt selbst weitere materielle und nicht-materielle Ungleichheiten im weiteren Lebensverlauf. Daher hat auch Mira aus dem akademischen Elternhaus zunächst einmal bessere Arbeitsmarktchancen als Oskar, dessen Eltern eine Berufsausbildung haben.

Allerdings ist dieser scheinbare Vorsprung Miras im Arbeitsmarkt nur von kurzer Dauer. Denn in unserem Beispiel verbirgt sich eine zweite Ungleichheitsdeterminante, die des Geschlechts. So hat Mira im Studium Lukas kennengelernt, der Gymnasiallehramt studiert. Nachdem beide zwei Jahre lang gearbeitet haben, heiraten sie und bekommen kurz darauf ein Kind. Mira bleibt für drei Jahre zu Hause und steigt dann in Teilzeit wieder ein. Auch Oskar hat eine Familie gegründet. Seine Ehefrau Karina, die als Arzthelferin gearbeitet hat, bleibt nach der Geburt des ersten Kindes zu Hause und kehrt aufgrund der baldigen Geburt des zweiten Kindes auch nicht mehr in ihren Job zurück. Oskar ist unabhängig von seiner Familiengründung dauerhaft Vollzeit erwerbstätig, er hat seine Arbeit durch die Geburt seiner Kinder weder unterbrochen noch seine Arbeitszeit reduziert.

Insgesamt unterscheidet sich die Erwerbstätigkeit junger Frauen und Männer nur unmittelbar im Anschluss an das Studium oder die Berufsausbildung kaum. Je länger sie erwerbstätig sind und spätestens mit der Geburt des ersten Kindes sinkt die Erwerbstätigkeit von Frauen deutlich. Daher liegen sie auch deutlich unter denjenigen von Männern im weiteren Erwerbsverlauf.

Zeitverwendung von Frauen und Männern mit zwei Kindern im Lebensverlauf, 2012/2013 (© Basierend auf Martin Bujard / Ralina Panova, Zwei Varianten der Rushhour des Lebens, in: Bevölkerungsforschung Aktuell 1/2016, S. 11-20, hier S. 15; https://www.bib.bund.de/Publikation/2016/Bevoelkerungsforschung-Aktuell-2016-1.html?nn=9751912)

Ein Blick auf die Arbeitszeiten von Frauen und Männern zeigt zudem, dass Frauen zwar häufiger erwerbstätig sind als früher, aber viel häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer. Eine der Haupterklärungen für diese Unterschiede ist die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die sich im Zuge der Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert in Europa etabliert hat. Damals hat sich die klassisch-bürgerliche Vorstellung von Familie entwickelt, der zufolge der (Ehe-)Mann als Familienernährer arbeitet und das Geld nach Hause bringt, während die (Ehe-)Frau sich um Haushalt und Kinder kümmert.

Auch wenn dieses sogenannte männliche Ernährermodell heute als veraltet gilt, wirkt es fort: Frauen leisten weiterhin weniger bezahlte und mehr unbezahlte Arbeit (oft auch als Care-Arbeit und Mental Load bezeichnet) als Männer, vor allem wenn sie Kinder haben. So unterscheidet sich die durchschnittliche Arbeitszeit zwischen kinderlosen Männern und Frauen kaum, so lange sie Vollzeit arbeiten. Sind Kinder vorhanden, wenden Mütter deutlich mehr unbezahlte Arbeit für Haushalt und Kinder auf, während ihnen weniger Stunden für bezahlte Erwerbsarbeit zur Verfügung stehen – selbst, wenn sie Vollzeit erwerbstätig sind, und erst recht, wenn sie in Teilzeit arbeiten.

Miras Bildungsvorsprung scheint sich also im weiteren Erwerbsverlauf nicht langfristig auszuzahlen. Sobald sie eine Familie gründet, besteht das Risiko, dass sie ihre Erwerbstätigkeit unterbricht, ihre Arbeitszeit reduziert und mehr Zeit als ihr Ehemann Lukas für Kinder und Hausarbeit aufbringt. Diese traditionelle Arbeitsteilung mag zwar auf kurze Sicht praktisch sein, um als Familie Kinder und Arbeit zu vereinen, aber langfristig gehen mit diesem Arrangement für Mira hohe Risiken einher: Generell wird sie aufgrund ihrer Teilzeitarbeit ein geringeres Einkommen und später eine geringere Rente erhalten. Wenn es zu einer Trennung kommt, kann sie als alleinerziehende Mutter weiterhin nicht Vollzeit arbeiten und hat daher ein noch geringeres Familieneinkommen, ihr Risiko prekärer Beschäftigung steigt enorm. Dies wirkt sich im Alter erst recht auf ihre Rente aus, die Gefahr von Altersarmut steigt.

Eine solche Veränderung im Erwerbsverlauf hat Oskar aufgrund seiner Rolle als alleiniger Familienernährer kaum zu befürchten. Sein Erwerbsverlauf entspricht also durchgängig dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis. Auch die Risiken einer geringeren Rente oder von Altersarmut sind bei ihm kaum gegeben. Gleichzeitig hat er aufgrund seiner durchgehenden Vollzeitarbeit aber viel weniger die Möglichkeit, sich in das Familienleben einzubringen und sich an der Erziehung seiner Kinder zu beteiligen.

Berufe und soziale Ungleichheit

Doch nicht nur die Erwerbstätigkeit unterscheidet sich nach Bildung und Geschlecht zwischen Mira und Oskar. Eng damit verbunden sind auch Berufe, die in Deutschland zentral darüber bestimmen, welche Arbeitsmarkterträge jene erhalten, die sie ausüben: So unterscheiden sich Berufe danach, ob mit ihnen viel oder wenig zu verdienen ist, ob sie ein hohes oder niedriges gesellschaftliches Ansehen haben, wie viel Macht und Autonomie sie den Ausübenden ermöglichen, welche Aufstiegsmöglichkeiten sie bieten, ob sie besser oder schlechter in Teilzeit ausgeübt werden können und wie hoch die Risiken sind, nicht dauerhaft im Beruf arbeiten zu können. Berufe sind zudem mit bestimmten Berufsbildern und Tätigkeitsinhalten verbunden, werden manchmal sogar mit „Berufung“ gleichgesetzt. Daher sind Berufe ganz zentrale Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit in heutigen Gesellschaften.

QuellentextArbeit in den Werkstätten

[…] Rund 400 Menschen mit Behinderung arbeiten in der Werkstatt in Leherheide [Bremerhaven]. Es gibt hier unter anderem einen Fahrradladen, eine Holzwerkstatt, eine Arbeitsgruppe für Gartenbau und eine Bäckerei. […]

Werkstätten für Menschen mit Behinderung bieten jenen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt ohne weitere Unterstützung keine Chance hätten, einen Ort der Begegnung und Beschäftigung. Andererseits sind sie ein Niedriglohnsektor, der Behinderte vom ersten Arbeitsmarkt separiert und mit dem sich Unternehmen aus der Verantwortung kaufen, mehr echte Inklusion in ihren Betrieben einzuführen.

Längst sind Werkstätten keine Bastelstuben mehr, die nur Holzspielzeug und Seifenschalen herstellen […]. Heute vergeben viele Firmen Aufträge an Werkstätten, die sich günstiger per Hand als maschinell erledigen lassen: Dienstleistungsaufträge, Verpackungen, Versand, Gartenarbeiten, Montage und Vorarbeiten für die industrielle Produktion. Menschen mit Behinderung fertigen Autoteile für Mercedes Benz, verschicken Werbematerial für Fritz-Kola, sortieren Klappboxen für die Drogeriekette dm. […]

Für die Firmen lohnt sich die Produktion in einer Werkstatt in mehrfacher Hinsicht. Sie werben mit sozialem Engagement und können Kosten sparen – unter anderem bei der sogenannten Ausgleichsabgabe. Die soll eigentlich mehr Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt bringen. Dafür gibt es viele Unterstützungsmöglichkeiten, wie Lohnzuschüsse, persönliche Arbeitsassistenzen oder technische Hilfsmittel.

Im Sinne der Inklusion sind Arbeitgeber ab 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens 5 Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten zu besetzen. Ansonsten ist eine gestaffelte Abgabe an das Integrationsamt fällig. Doch wer Behindertenwerkstätten beauftragt, kann die Hälfte der Rechnung mit dieser Ausgleichsabgabe verrechnen. Manche Werkstätten, wie die der Caritas im Westerwald, werben offensiv mit dieser Ersparnis für Unternehmen und stellen Beispielrechnungen an.

Auch die Arbeit ist in Werkstätten günstig. 2009 las man in einem Firmenporträt in der Wirtschaftswoche, wie beispielsweise der Kinderfahrzeughersteller Puky es schafft, ausschließlich im „Hochlohnland Deutschland“ zu produzieren: Möglich sei das nur durch die Zusammenarbeit mit Behindertenwerkstätten. Die eigenen MitarbeiterInnen bearbeiteten und beschichteten zwar das Metall, „für das Zusammenschrauben eines Fahrrads sind die Löhne in Deutschland aber zu hoch“, erklärte der damalige Geschäftsführer gegenüber der Zeitung.

Die Kritik an solchem Geschäft wurde in den letzten Monaten immer lauter. Eine Petition fordert den Mindestlohn, Werkstatträte ein Basisgeld. Seit Mitte Juni [2022] prangern Beschäftige unter dem Hashtag #ihrbeutetunsaus auf Twitter die Arbeitsbedingungen in den Werkstätten an. Mit Fotos, etwa von unappetitlichem Essen aus einer Kantine, wurde über die sozialen Medien sichtbar, was oft verdrängt wird. […]

Seit über zwei Jahren arbeitet Ela in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Sie ist psychisch erkrankt. Derzeit lebt sie in einer Einzimmerwohnung in einer Stadt in Süddeutschland. Genauer möchte sie es nicht in der Zeitung lesen, auch ist Ela nur ihr Spitzname. Sie befürchtet Stigmatisierung. Griffe für Bohrmaschinen hat sie schon hergestellt, Schleifpapier verpackt, gläserne Schubladen-Fronten kontrolliert. Derzeit beklebt Ela Pferdekoppeln für den Spielzeughersteller Schleich. Auch Plastikteile für dessen Pferdeanhänger hat sie schon zusammengesetzt.

Ela mag ihre KollegInnen. Die Werkstätten möchte sie nicht abschaffen, sondern verbessern. „Einerseits setzen die Firmen auf unsere Arbeit, andererseits wollen sie es aber nicht Arbeit nennen“, sagt sie. Beschäftigte in den Werkstätten werden per Gesetz als „arbeitnehmerähnlich“ definiert. Dafür haben sie einen weitgehenden Kündigungsschutz, dürfen aber auch nicht streiken und fallen nicht unter den gesetzlichen Mindestlohn.

Ihr Arbeitstag beginnt morgens um 9 Uhr und endet um 13.45 Uhr. Die meisten ihrer KollegInnen seien länger da, erzählt sie, von 7.40 Uhr bis 15 Uhr. Aber bei ihr habe der Arzt zu einem kürzeren Arbeitstag geraten. Abzüglich zweier kleinerer Pausen und einer Mittagspause arbeitet Ela 3,5 Stunden pro Tag. Dafür bekommt sie ein Arbeitsentgelt von rund 250 Euro pro Monat. Der Bundesdurchschnitt liegt bei monatlich rund 224 Euro. Durch die Grundsicherung wird Elas Geld aufgestockt, sodass sie im Monat von ungefähr 800 Euro lebt. Auch das ist keine unübliche Summe. […]

Wie die Stellung und Rechte der Menschen mit Behin­derung unterlagen auch die Werkstätten seit ihren Anfangstagen einer Entwicklung. Analog zur zentralen Bedeutung von Arbeit und Arbeitsfähigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft war mit der Betätigung und Arbeit von behinderten Menschen auch historisch die Idee der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbunden. Als „beschützende Werkstätten“ entstanden die Vorläufer Anfang der 1960er Jahre, das „Schwerbehindertengesetz“ schuf 1974 die Grundlage für eine Konzeption der „Werkstätten für Behinderte“, mit dem Ziel der Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben.

Das wäre auch heute eine ihrer Aufgaben. Doch die Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt liegt bundesweit bei unter 1 Prozent. Das bemängeln sogar die Vereinten Nationen. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch mit Behinderung das Recht, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. 2015 zeigte sich der UN-Fachausschuss in Bezug auf den segregierten Arbeitsmarkt in Deutschland besorgt und sah die Vorgaben mit den Werkstätten nicht erfüllt. Er empfahl deren schrittweise Abschaffung.

Das sorgt seitdem für heiße Diskussionen. Im August 2020 beauftragte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe mit einer mehrjährigen Forschung, um Werkstätten zu reformieren. […]

Jean-Philipp Baeck, „Für eine Handvoll Euros“, in: taz vom 25. Juli 2022

Bildungsvoraussetzungen

Bislang gibt es keine einheitliche Definition von Berufen. Eine Definition nach den Soziologen Martin Abraham, Andreas Damelang und Andreas Haupt begreift Berufe als „typische Menge von Qualifikationen und Kompetenzen zur Lösung bestimmter Problembündel in (Arbeits-)Organisationen“. Wichtig ist demzufolge, dass Berufe Qualifikationen im Sinne einer Berufsausbildung oder eines Studiums erfordern, in denen spezielle berufliche Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, um bestimmte Tätigkeiten im Arbeitsmarkt auszuüben. Um dies zu regeln, sind Berufe in Deutschland durch Berufsbilder, Ausbildungsordnungen und Arbeitsplatzanforderungen definiert, die beispielsweise von Berufsverbänden, Handwerkskammern und weiteren berufsrelevanten Einrichtungen festgelegt werden. Insofern verbinden Berufe das Ausbildungssystem mit dem Arbeitsmarkt.

Das äußert sich auch darin, dass Berufe systematisch mit unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen verbunden sind. Dabei ist zunächst die schulische Bildung wichtig: So muss Mira, um das Studium als Grundschullehrerin aufzunehmen, das Abitur machen, während Oskar mit einem qualifizierten Hauptschulabschluss die Ausbildung zum Mechatroniker beginnen kann. Doch nicht nur Schulabschlüsse sind hier relevant, auch welche Noten insgesamt oder in bestimmten Fächern mitgebracht werden, beeinflussen die Berufswahl. Bei Mira war es sicherlich von Vorteil, dass sie ein Einser-Abitur hatte, bei Oskar waren es die (sehr) guten Noten in Mathe, Physik und Informatik.

Interessen und Vorbilder

Neben diesen „harten“ Kriterien spielen aber auch individuelle Vorlieben und Interessen sowie elterliche Vorbilder eine Rolle. Mira hätte mit ihrem Einser-Abitur vieles studieren können, ihr Interesse an der Arbeit mit Kindern und ihre Nachhilfe-Erfahrungen haben sie aber dazu bewogen, Grundschullehramt zu studieren. Bei Oskar zeigte sich das technische Interesse nicht nur an den guten Noten, sondern an seinem Hobby und dem frühen Kennenlernen eines ähnlichen Berufsfeldes durch seinen Vater. Vielleicht wurden beide auch durch andere Personen in ihrem Umfeld, durch Lehrkräfte oder Freund:innen ermuntert, eine bestimmte berufliche Richtung einzuschlagen.

Frauen- und Männeranteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach Berufssegmenten in Deutschland, 2017 (in Prozent) (© Deutscher Gewerkschaftsbund; Datenquelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berufe im Spiegel der Statistik. Bearbeitung: WSI GenderDatenPortal 2019)

Insgesamt wird die Wahl eines Berufes also sowohl durch individuelle Fähigkeiten und Interessen, schulische Voraussetzungen als auch durch das soziale Umfeld bestimmt. Da sich all diese Aspekte systematisch zwischen jungen Frauen und Männern unterscheiden, resultiert dies in einer geschlechtsspezifischen Berufswahl. Während der Beruf der Grundschullehrer:in zu den frauendominierten sozialen und kulturellen Dienstleistungsberufen zählt, gehört der Beruf der:des Mechatroniker:in zu den männerdominierten ferti­gungstechnischen Berufen. Mira und Oskar haben sich also beide für geschlechtstypische Berufe entschieden. Aber ist das überhaupt ein Problem? Zunächst einmal nicht. Denn beide haben Berufe gewählt, die ihren Bildungsabschlüssen sowie ihren Vorlieben und Interessen entsprechen.

Technologischer Wandel und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung

Durchschnittliche Brutto-Lebensentgelte nach Anforderungsniveau des Berufs (in Millionen Euro) (© IAB; Quelle für beide Grafiken: IAB-Berechnungen auf Basis der Beschäftigten-Historik (BeH) V10.06.; https://doku.iab.de/kurzber/2022/kb2022-18.pdf, S. 5, letzter Zugriff: 20.01.2022)

Allerdings gehen Berufe auch systematisch mit unterschiedlichen Arbeitsmarkterträgen einher. Sie beeinflussen beispielsweise, welches Einkommen erzielt werden kann, wie hoch das damit verbundene Arbeitslosigkeitsrisiko ist oder ob sie in Teilzeit ausgeübt werden können. So zeigt sich, dass mit dem Anforderungsniveau eines Berufs üblicherweise dessen Bezah­lung zunimmt. Berufe auf Expert:innenniveau, die einen qualifizierten Hochschulabschluss wie Master oder Diplom voraussetzen, werden im Schnitt besser bezahlt als Berufe auf Fachkraftniveau, die einen beruflichen Ausbildungsabschluss erfordern. Letztere wiederum haben höhere Verdienste als Berufe, die ohne Berufsausbildung und nur auf Helfer:in­nen­niveau ausgeübt werden können. Da mit höherem Anfor­derungsniveau in der Regel die benötigte formale Qualifikation steigt, kann geschlussfolgert werden, dass sich Bildung auch bei der Bezahlung von Berufen auszahlt.

Durchschnittliche Brutto-Lebensentgelte nach höchster Qualifikation der Beschäftigten (in Millionen Euro) (© IAB; Quelle für beide Grafiken: IAB-Berechnungen auf Basis der Beschäftigten-Historik (BeH) V10.06.; https://doku.iab.de/kurzber/2022/kb2022-18.pdf, S. 5, letzter Zugriff: 20.01.2022)

Doch warum verdienen Ingenieur:innen so viel mehr als Personen in der kommunalen Müllentsorgung? Eine erste Erklärung wurde weiter oben bereits erwähnt: Personen mit niedrigeren Abschlüssen, also geringerem Humankapital, erhalten auch geringere Löhne. Dies zeigt sich auch für das Qualifikationsniveau von Berufen. Hinzu kommt, dass im Zeitverlauf die Nachfrage nach Beschäftigten in Berufen mit geringem Anforderungsniveau sinkt, da insbesondere einfachere Routine-Berufe zunehmend durch Technik und Technologie ersetzt werden können. Gerade in der Industrie kommen immer kom­plexere Maschinen zum Einsatz, die die menschliche Arbeit überflüssig machen.

Und auch im Dienstleistungssektor hält die Technik Einzug, beispielsweise wenn wir im Kundenservice nicht mehr mit realen Menschen, sondern mit Computern kommunizieren oder wenn Teile von Aus- und Fortbildung nur noch webbasiert stattfinden. Eine solche Technisierung ist in vielen akademischen und fachlich spezialisierten Ausbildungsberufen nur bedingt möglich. Da eine sinkende Nachfrage nach Beschäftigten ten­denziell mit sinkenden Löhnen einhergeht, ist der technologische Wandel eine wichtige weitere Erklärung für die schlechteren Arbeitsmarkterträge geringqualifizierter Berufe.

Brutto-Stundenverdienst von „Frauen- und Männer-Berufen“ mit gleichen Anforderungen und Belastungen. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung 2018; https://www.was-verdientdie- frau.de/++co++2a6301fe-f045-11e5-8650-52540023ef1a (© Deutscher Gewerkschaftsbund)

Hinzu kommt, dass die Arbeitsmarkterträge von frauendominierten Berufen in vielerlei Hinsicht schlechter ausfallen als diejenigen von männerdominierten Berufen. So verdienen Personen in frauendominierten Berufen deutlich weniger als Personen in männerdominierten Berufen, selbst wenn die Berufe das gleiche Qualifikationsniveau haben und die gleichen Anforderungen und Belastungen aufweisen. Eine Erklärung hierfür ist wieder die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: In frauendominierten Berufen werden häufig typische „Frauentätigkeiten“ ausgeübt, wie beispielsweise Kochen, Putzen, Pflegen und Erziehen, also Tätigkeiten, die Frauen noch heute unbezahlt im Rahmen von Partnerschaft und Familie vorrangig verrichten. Daher werden diese Tätigkeiten weniger gesellschaftlich wertgeschätzt und schlechter entlohnt, selbst wenn sie als bezahlte Arbeit angeboten werden.

So werden Berufe, die typische „Frauentätigkeiten“ bein­halten, häufig tarifvertraglich schlechter eingruppiert als Berufe mit typischen „Männertätigkeiten“. Doch auch der Umstand, dass Frauen häufig weniger erfolgreiche Lohnverhandlungen führen als Männer, während letzteren oft aufgrund ihrer zugeschriebenen Rolle als Familienernährer mehr Einkommen geboten wird, ist hier relevant. Schließlich werden auch Diskriminierungsprozesse angeführt, da Arbeitgeber:innen Frauen eine geringere Produktivität zuschreiben, vor allem, wenn sie Kinder haben. Die gesellschaftlichen Vorstellungen darüber, was Berufe wert sind, haben sich über lange Zeit gebildet und sind sehr hartnäckig und nur schwer zu ändern. Daher ist die geschlechtstypische Berufswahl noch heute ein Problem.

QuellentextDefinitionen von (Nicht-)Erwerbstätigkeit

Viele Definitionen von (Nicht-)Erwerbstätigkeit folgen Vor­gaben der Internationalen Arbeitsorganisation (Inter­na­tional Labour Organisation ILO), die als Sonderorganisation der Vereinten Nationen damit beauftragt ist, soziale Gerech­tigkeit im Arbeitsleben sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu fördern. Die hier zugrunde gelegten Altersgrenzen, die sich zum Teil zwischen den Indikatoren unterscheiden, orientieren sich an den Vorgaben des Statistischen Bundesamtes.

Erwerbstätige sind Personen im Alter von 15 Jahren und mehr, die mindestens eine Stunde pro Woche gegen Entgelt irgendeiner beruflichen Tätigkeit nachgehen oder selbst­stän­dig sind oder als helfende Familienangehörige mitar­beiten.

Erwerbslose sind nicht-erwerbstätige Personen von 15 bis 74 Jahren, die in den vergangenen vier Wochen aktiv nach einer Erwerbstätigkeit gesucht haben und eine solche innerhalb von zwei Wochen aufnehmen könnten.

Erwerbspersonen bezeichnet die gemeinsame Gruppe von Erwerbstätigen und Erwerbslosen, während Nicht-Erwerbspersonen Personen bezeichnet, die weder erwerbstätig noch erwerbslos sind.

Die Erwerbsquote bezeichnet den Anteil der Erwerbspersonen, d. h. Personen, die Arbeit haben (Erwerbstätige) oder suchen (Erwerbslose), an der Gesamtbevölkerung. Ins­be­sondere bei zwischenstaatlichen Vergleichen bezieht sich diese Bezugsgröße auf Personen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren.

Die Erwerbslosenquote ist der Anteil der Erwerbslosen an den Erwerbspersonen bezogen auf Personen im Alter von 15 bis 74 Jahren.

Wichtig: Erwerbslosigkeit nach dem ILO-Konzept ist zu unterscheiden von Arbeitslosigkeit, deren Definition auf dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) basiert, dem deutschen Arbeitsförderungsrecht. Arbeitslos sind dem­zu­folge Personen, die vorübergehend nicht erwerbstätig sind bzw. eine weniger als 15 Stunden wöchentlich umfas­sende Beschäftigung ausüben, dabei aber eine versiche­rungs­pflichtige Beschäftigung von mindestens 15 Wochenstun­den suchen, den Vermittlungsbemühungen der Ar­beits­agenturen zur Verfügung stehen und sich dort auch arbeitslos gemeldet haben.

Das sog. Normalarbeitsverhältnis bezeichnet eine Erwerbstätigkeit mit unbefristetem Arbeitsvertrag in Vollzeitbeschäftigung, für die ein tarifvertraglich vereinbarter Lohn oder Gehalt gezahlt wird und die durch die Sozialversicherung (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) abgesichert ist.

Prekäre Beschäftigung zeichnet sich im Vergleich zum Normalarbeitsverhältnis durch ein deutlich geringeres Niveau an Erwerbseinkommen, sozialer Sicherung und sozialer Integration aus. Daher kann prekäre Beschäftigung nicht auf Dauer den Lebensunterhalt einer Person sichern oder deren Absicherung, z. B. bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Rente, gewährleisten. Prekäre Beschäftigung geht zudem häufig subjektiv mit deutlich höheren Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheiten der Tätigkeit einher. Sie ist häufig in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, bei Leiharbeit oder auch Teilzeitarbeit, v.a. geringfügiger Beschäftigung, zu finden.

Teilzeitarbeit umfasst einerseits reguläre Teilzeitarbeit, also sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigte sowie Beamt:innen in Teilzeit, andererseits geringfügige Beschäftigung, die Minijobber:innen mit einem monatlichen Arbeitsentgelt unter 520 Euro (seit 01. Oktober 2022). Teilzeitarbeit kann aufgrund der kürzeren Arbeitszeiten, des daraus resultierenden geringeren Einkommens und dem z. T. niedrigeren Maß an sozialer Sicherung eine prekäre Beschäftigung sein, dies trifft aber nicht auf alle Teilzeitarbeitsplätze zu.

Kathrin Leuze, Corinna Kleinert, Reinhard Pollak

Aktuelle Herausforderungen

Bildung, Beruf und Geschlecht sind zentrale Einflussgrößen für soziale Ungleichheiten im deutschen Arbeitsmarkt. Sie bestimmen nicht nur, wer Arbeit hat und wer nicht, sondern auch, in welchem Umfang gearbeitet, wie viel verdient wird und welches Ansehen mit der ausgeübten Tätigkeit verbunden ist. Mit Blick auf soziale Ungleichheiten zeigen sich mehrere gesellschaftliche Herausforderungen. Erstens die Problematik von Bildungsarmut: Personen, die das Bildungssystem ohne Schulabschluss verlassen, werden dauerhaft Probleme haben, sich am Arbeitsmarkt zu etablieren. Sie finden in der Regel keinen Ausbildungsplatz und haben im weiteren Lebensverlauf ein langfristig höheres Risiko, entweder dauerhaft arbeitslos oder prekär beschäftigt zu sein.

Verstärkt wird dieser Trend durch den technologischen Wandel, der insbesondere einfachere Tätigkeiten zunehmend überflüssig macht und durch Technik ersetzt. Die Risikogrup­pen des Bildungssystems, also Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten, vor allem wenn sie männlich sind und einen Migrationshintergrund haben, werden dadurch zu Risikogruppen auf dem Arbeitsmarkt. Hier kann langfris­tig nur eine Bildungspolitik gegensteuern, die sich zum Ziel setzt, dass kein Kind die Schule ohne Abschluss verlässt. Aber bisher ist dieser Standard noch nicht erreicht.

Zweitens ist das männliche Ernährermodell weiterhin wirkmächtig und führt zu Geschlechterungleichheiten im Arbeitsmarkt. Dies zeigt sich an den Erwerbsbiografien von Frauen und Männern: Sobald Kinder im Spiel sind, unterbrechen Frauen ihre Erwerbstätigkeit und reduzieren ihre Arbeitszeit, was langfristig mit niedrigeren Gehältern, schlechteren Aufstiegschancen, niedrigeren Renten und einem höheren Risiko von Altersarmut einhergeht. Hier kann der staatliche Ausbau von ganztägigen Betreuungseinrichtungen helfen, nicht nur im frühkindlichen Bereich, sondern auch durch die Schaffung von Ganztagsschulen.

Zudem könnte ein Wandel der innerpartnerschaftlichen Arbeitsteilung hin zu einer gleichberechtigten Aufteilung von Erwerbs-, Haus- und Fürsorgearbeit die Ungleichheiten zwi­schen den Geschlechtern im Erwerbsleben verringern. Da­durch könnten nicht nur Mütter mehr arbeiten, sondern hätten Väter auch mehr Zeit für die Familie. Allerdings muss dies auch von Arbeitgeber:innenseite ermöglicht werden, was bisher nur selten der Fall ist. Denn Betriebe ermöglichen es Männern sehr viel seltener, ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder längere Elternzeiten zu nehmen, selbst wenn sie dies möchten.

Drittens führt die gesellschaftliche Bewertung von Berufen dazu, dass Frauen im Arbeitsmarkt weiterhin benachteiligt sind. Um dies zu ändern, müsste einerseits die Entlohnung von Berufen steigen, die typischerweise von Frauen ausge­übt werden, etwa in der Erziehung und Pflege. Wie wichtig diese Berufe sind, hat nicht zuletzt die Diskussion um systemrelevante Berufe während der Coronavirus-Pandemie gezeigt. Möglicherweise führt auch der technologische Wandel zu einer Verbesserung, gerade weil vieler diese interaktiven Tätigkeiten auch im Zeitalter der Digitalisierung von Menschen ausgeübt werden müssen.

Andererseits müssten sich auch die Arbeitszeitnormen von „typisch“ männlichen Berufen ändern. Selbst wenn junge Männer heute Elternzeit nehmen oder ihre Arbeitszeit nach der Geburt eines Kindes reduzieren möchten, ist dies in männerdominierten Berufen mit hohen Arbeitszeitanforderungen nur bedingt möglich. Hier könnte eine Abkehr vom männlichen Ernährermodell auch in „männlichen“ Berufen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit insgesamt führen.

QuellentextDas Ende der 40-Stunden-Woche?

Mehr Geld, für zehn Stunden mehr Arbeit pro Woche? Für Judith Bornheim ist das keine Option. „Im Vergleich zu meinem 40-Stunden-Job geht es mir heute gesundheitlich wie psychisch so gut wie nie“, sagt sie. Bei Teilzeit fallen einem häufig noch zuerst Mütter mit kleinen Kindern ein. Aber die 43-Jährige hat keine Kinder.

Trotzdem arbeitet sie seit zehn Jahren nur 30 Stunden, an vier Tagen in der Woche. Sie hat danach nicht bewusst gesucht, die Stelle in einem kleinen Verlag wurde ihr damals angeboten. Ein zusätzlicher freier Tag und das gleiche Geld, wie in ihrem vorherigen Job. Das klang verlockend, sagt Bornheim. Am Anfang habe sie trotzdem manchmal gehadert. Sollte sie nicht produktiver sein?

Diese Frage ist heute abgehakt. Sie fühle sich weniger ausgelaugt von der Arbeit und sei insgesamt ausgeglichener, sagt die Kölnerin. Ihr freier Freitag folgt keiner festen Routine. Sie macht das, wonach sie sich fühlt: in Ruhe kochen, Freunde besuchen, auch in anderen Städten, oder morgens ausgiebig die Zeitung lesen. „Für mich ist das keine verplemperte Zeit, jenseits der Arbeit noch etwas von der Welt mitzubekommen.“

Vor zehn Jahren war Judith Bornheim noch eine Vorreiterin. Aber fünf Tage die Woche, acht Stunden und mehr im Büro, im Geschäft oder in der Fertigungshalle – diese Lebensweise ziehen heute immer mehr Angestellte in Zweifel. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2021 in Deutschland insgesamt zwölf Millionen Menschen in Teilzeit. Früher war die Betreuung von Kindern mit Abstand der häufigste Grund, Stunden zu reduzieren. Aber für das Jahr 2021 fügte das Statistische Bundesamt erstmals auch die Antwortmöglichkeit „Keine Vollzeitstelle gewünscht“ in ihrer Befragung hinzu. Die Kategorie wurde direkt von mehr als einem Viertel der Teilzeitarbeitenden (27 Prozent) ausgewählt und lag damit über dem Anteil der Mütter und Väter von kleinen Kindern in Teilzeitjobs (24 Prozent). Unter allen Erwerbstätigen in Deutschland hat sich bereits jeder Zwölfte von der 40-Stunden-Woche verabschiedet. Ist das der Beginn einer generellen Abkehr von der Leistungsgesellschaft? Und was bedeutet dieser Rückzug gerade jetzt, wo überall im Land die Arbeitskräfte fehlen?

[…] Wer einmal in den Genuss gekommen ist, kehrt nicht zur Vollzeit zurück. Seit Judith Bornheim reduziert hat, hat sie mehr Zeit für sich und ihre sozialen Kontakte. Als ihr Vater schwer krank wurde, hatte sie mehr Möglichkeiten, ihre Mutter bei der Pflege zu unterstützen. „Ich weiß nicht, wie ich die Zeit mit einem stressigen Vollzeitjob überstanden hätte.“

Sie sei nicht der Typ, dem schnell langweilig wird, sagt Judith Bornheim am Telefon. Vier Jahre lang besuchte sie an ihrem freien Freitag eine geflüchtete Familie, half ihnen, sich zurechtzufinden, und konnte sie auch mal bei Amtsbesuchen begleiten. Zuvor habe sie sich stark über ihren Job definiert. Heute habe sie das Gefühl, vielfältigere Rollen ausleben zu können.

Arbeitsforscher Hans Rusinek von der Universität in St. Gallen sieht in dieser Abwechslung und den unterschiedlichen Rollen die Chance zu mehr Wohlbefinden. Er geht davon aus, dass die Pandemie ein „entscheidender Faktor ist“, der das Bedürfnis bei vielen Menschen verstärkt habe, weniger zu arbeiten. „Es war eine Art kollektives Nahtoderlebnis“, bei dem Menschen die Erfahrung gemacht hätten, dass jeder innerhalb kürzester Zeit schwer erkranken kann. Solche extremen Ereignisse relativierten den Wert von beruflichem Erfolg und stellten die Sinnfrage stärker in den Vordergrund, sagt der Volkswirt. Früher sei häufig mit langen Arbeitszeiten geprahlt worden. In der Generation Z der heutigen Berufseinsteiger sei es umgekehrt: „Da ist es eher ein Statusgewinn, weniger zu arbeiten.“

Es ist ein Montagabend Ende Dezember, und Ben Kühnl ist von einer Wanderung mit seinen Großeltern zurück. „Allein das unter der Woche einfach machen zu können, ist für mich superviel wert“, sagt Kühnl. Der 24-Jährige ist direkt nach dem Jurastudium nur mit 30 Stunden eingestiegen. „In gewisser Weise aus Selbstschutz“, sagt er. Das kompetitive Umfeld und die entgrenzten Arbeitszeiten hätten ihn schon im Studium und bei den Praktika abgeschreckt. Er arbeitet in einer Kanzlei, aber nicht als Anwalt, sondern als „Legal Engineer“. Er berät Unternehmen zu digitaler Software, um die Arbeit in deren Rechtsabteilung zu vereinfachen. „In der Arbeitszeit fühle ich mich jetzt erholt und kann konzentriert arbeiten“, sagt Kühnl. Er sei trotzdem nach jedem Wochenende überrascht, „was für ein schönes Gefühl es ist, einen Tag mehr Erholung zu haben“.

Dass er in Vollzeit um die 1200 Euro brutto mehr haben könnte, interessiert ihn nicht. „Ich verdiene nicht extrem viel, aber es ist eine Summe, mit der ich mir keine Gedanken machen muss, ob ich meine Miete bezahlen kann“, sagt der 24-Jährige. Er wisse aber auch um das Privileg, so arbeiten zu können. Seiner Auffassung nach sollte das nicht nur „Leuten, die eh schon überdurchschnittlich viel verdienen“, zustehen. Unternehmen und Politik müssten ein Verständnis für „wirklich menschengerechte Arbeitsbedingungen“ entwickeln. Für Ben Kühnl heißt das: kürzer arbeiten. […]

Firmen, die sich von starren Arbeitszeiten lösen, hätten gerade im akuten Mangel an Arbeitskräften einen Wettbewerbsvorteil, sagt Hans Rusinek. Vollzeitbeschäftigte arbeiten durchschnittlich 41 Stunden. Aber nach einer Bertelsmann-Studie wünschen sich fast die Hälfte der Deutschen, Stand 2021, kürzere Arbeitszeiten. Geringverdiener, viele Familien und auch die untere Mittelschicht können sich das aber schlicht nicht leisten. Deshalb glaubt der Arbeitsforscher nicht, dass die 30-Stunden-Woche bald zum neuen Standard wird. Ohne die Anordnung per Gesetz und mit Verdienstausfall in unteren Einkommensschichten bleibe es ein reines „Eliten-Phänomen“, sagt Rusinek. […]

Die Überlastung am Arbeitsplatz hat für viele längst gesundheitliche Folgen. Jeder fünfte Arbeitnehmer erleidet einmal in seinem Berufsleben eine Depression. Vor vier Jahren haben Depressionen erstmals Rückenschmerzen als häufigster Grund für Fehltage am Arbeitsplatz abgelöst, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen können durch anhaltenden Arbeitsstress befördert werden. […]

Helena Ott, „40 Stunden? Ohne mich!“, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. Januar 2023

Prof. Dr. Kathrin Leuze ist Professorin für „Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse“ am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In Ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Geschlechterungleichheiten im Bereich Hochschulbildung, Arbeitsmarkt und Berufen sowie Eigentumsungleichheiten in Paarbeziehungen.
Kontakt: E-Mail Link: kathrin.leuze@uni-jena.de

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten in Bildungs- und Erwerbsverläufen sowie mit den Übergängen Jugendlicher zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Kontakt: E-Mail Link: corinna.kleinert@lifbi.de

Prof. Dr. Reinhard Pollak ist Leiter der Abteilung „Data and Research on Society“ am GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften und Professor für Soziologie an der Universität Mannheim. Seine Forschungsinteressen umfassen insbesondere Analysen zu Bildungsungleichheiten und zu unterschiedlichen Auf- und Abstiegschancen in der Gesellschaft. Darüber hinaus forscht er zur Digitalisierung der Arbeitswelten und zu Methoden der Umfrageforschung.
Kontakt: E-Mail Link: reinhard.pollak@gesis.org