Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Folgen sozialer Ungleichheit | Soziale Ungleichheit | bpb.de

Soziale Ungleichheit Editorial Was ist soziale Ungleichheit? Konzeptionelle Perspektiven Zuweisungskriterien zu gesellschaftlichen Positionen Soziale Herkunft und Bildung Erwerbsarbeit, Berufe und soziale Ungleichheit Einkommens- und Vermögensungleichheit Struktur sozialer Ungleichheit Folgen sozialer Ungleichheit Internationale Trends der sozialen Ungleichheit Literatur und Online-Angebote Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 354/2023

Folgen sozialer Ungleichheit

Petra Böhnke Olaf Groh-Samberg Corinna Kleinert

/ 11 Minuten zu lesen

Ungleichheit wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Sie beeinflusst die individuelle Gesundheit, soziale Beziehungen, Geschmack und Zufriedenheit, aber auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

(© Thomas Plaßmann/Baaske Cartoons Müllheim)

Ob Menschen zufrieden sind mit ihrem Leben oder nicht, wie hoch ihre Lebenserwartung ist, wie sie ihre Freizeit gestalten, mit wem sie zusammenleben – vieles davon verstehen wir intuitiv als persönliche Neigung. Wir sehen darin typische Charakterzüge oder führen diese Dinge gar auf genetische Veranlagungen zurück. Doch diese Einschätzungen treffen nur zum Teil zu und übersehen einen wichtigen Aspekt: Die ungleiche Ausstattung mit Ressourcen wie etwa Einkommen und Bildung bestimmt die Lebenschancen der Menschen in erheblichem Maße mit und prägt diese vermeintlich ganz persönlichen Lebensbereiche massiv. An der Lebenserwartung zeigt sich besonders eindrücklich, wie durchschlagend und existenziell sozialstrukturelle Rahmenbedingungen sind: So unterscheidet sich die Lebenserwartung armer und reicher Menschen um mehrere Jahre.

Der Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Bildung und Einkommen ist ungleich verteilt. Diese soziale Ungleichheit hat Folgen für das alltägliche Leben der Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes: In welcher Hinsicht entscheidet der Geldbeutel über Krankheit und Gesundheit? Sind wir bei der Partner:innenwahl unabhängig von Überlegungen zum sozialen Status der anderen Person? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Freizeitverhalten einer Person einerseits und ihrer Bildung oder ihrem Einkommen andererseits feststellen? Macht Geld doch glücklich?

Entscheidet der Geldbeutel über Krankheit und Gesundheit

sehr gut ausgebautes Sozial- und Gesundheitssystem verfügt und der Lebensstandard hoch ist, steht auch hier die Gesundheit in einem engen Verhältnis zum sozialen Status einer Person. Chronische Krankheiten, psychosomatische Leiden und anderweitige gesundheitliche Einschränkungen sind verbreiteter bei Personen mit niedrigem Einkommen, niedrigem Bildungsstand und prekärer beruflicher Einbindung. Der Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit ist nicht zu übersehen.

So schätzen Menschen mit niedrigem Einkommen ihren Gesundheitszustand schlechter ein als Menschen aus den höheren Einkommenslagen. 43 Prozent der Männer im mittleren Lebensalter mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze berichten von einem schlechten oder weniger guten Gesundheitszustand. Bei der Vergleichsgruppe mit stark überdurchschnittlichem Einkommen sind es nur 14 Prozent.

In dieser Selbsteinschätzung spiegelt sich die unterschiedliche Verbreitung von Krankheiten nach sozialem Status. So sind unter anderem koronare Herzkrankheiten, Diabetes und chronische Bronchitis bei Personen mit niedrigem Sozialstatus weiter verbreitet. Personen mit niedriger Bildung berichten häufiger von Beeinträchtigungen in ihrem Alltag aufgrund gesundheitlicher Probleme als Personen mit höherem Bil­dungsabschluss und sie leiden öfter unter Schmerzen. Gesundheitsförderliches Verhalten ist ebenfalls nicht in allen Bevölkerungsschichten gleich stark ausgeprägt. So rauchen Personen mit niedriger Bildung mehr und bewegen sich sel­tener, mitunter eine Folge von psychischem Stress. Eine pre­käre berufliche Stellung – häufig von Personen mit niedriger Bil­dung ausgeübt und körperlich anstrengend – steht mit hohen Arbeitsbelastungen und Sorgen um den Erhalt des Ar­beitsplatzes in Zusammenhang. Dies verstärkt psychische Beeinträchti­gungen.

Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands („weniger gut“ oder „schlecht“) nach drei Einkommensgruppen, 2018 (in Prozent) (© Datenreport 2021, S. 334; Datenbasis: SOEP v35)

Daten des Gesundheitsmonitoring am Robert-Koch-Institut belegen regelmäßig, dass es insbesondere Armut und Arbeitslosigkeit sind, die die Gesundheit belasten. Neben der Angst um die Existenzsicherung ist das Selbstwertgefühl angegriffen, Stress und Konflikte nehmen zu. Wenn die finanzielle Lage mit großen Sorgen verbunden ist und die gesellschaftliche Anerkennung fehlt, ist das Risiko für Herz-Kreislauf- und psychosomatische Erkrankungen stark erhöht.

Armut macht also krank? Oder ist es umgekehrt? Es ist richtig, dass Krankheit die Möglichkeiten einschränkt, sich beruflich zu etablieren und Geld zu verdienen. Datenerhebungen über mehrere Jahre mit denselben Befragten zeigen aber auch, dass sich der Gesundheitszustand nach Arbeitsplatzverlust und bei sinkendem Einkommen verschlechtert und häufig auch nicht wieder erholt. Die sozioökonomische Position hat also durchschlagende Konsequenzen für Gesundheit und Wohlbefinden.

Dies zeigt sich eindrücklich an der höheren Sterblichkeit in unteren Statuslagen. Männer mit überdurchschnittlich hohem Einkommen leben circa acht Jahre länger als Männer aus armen Verhältnissen. Bei Frauen ist es ein Unterschied von etwa fünf Lebensjahren. Das Einkommen ist hier lediglich ein Platzhalter für den sozialen Status und an ihn gekoppelte Benachteiligungen. Kommen mehrere soziale Benachteiligungen zusammen, wie etwa Armut und Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnbedingungen und soziale Isolation, sind die gesundheitlichen Auswirkungen besonders gravierend. Dass soziale Benachteiligungen ebenso wie Privilegien sich gegenseitig über die Lebensspanne hinweg verstärken, ist ein weithin belegter Befund der empirischen Sozialforschung.

Mittlere Lebenserwartung bei Geburt nach Einkommen, 1992-2016 (in Jahren) (© Datenreport 2021, S.334; Datenbasis: SOEP und Periodensterbetafeln 1992-2016)

Wer hat, dem wird gegeben – so lautet der „Matthäus-Effekt“, so genannt in Anlehnung an den ersten Teilsatz des Matthäus-Evangeliums: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden“. Wer das Leben mit einer günstigen (familialen) Ausgangssituation startet, kann mehr und mehr Ressourcen im Laufe der Zeit ansammeln: Finanzieller und emotionaler Rückhalt im Elternhaus begünstigt einen guten Bildungsabschluss, und dieser eröffnet wiederum weitreichende Möglichkeiten einer vorteilhaften beruflichen Platzierung mit hohem Einkommen. Diese Pfadabhängigkeiten können andersherum auch Abwärtsspiralen in Gang setzen: Prekäre Lebenslagen verfestigen sich und resultieren letztlich auch in einem schlechten Gesundheitszustand und verkürzen die Lebenserwartung.

Gleich und gleich gesellt sich gern …?

Schauen wir auf unseren Freundes- und Bekanntenkreis, so werden wir schnell feststellen, dass diejenigen, die uns nah sind, ähnliche Interessen und Einstellungen wie wir selbst haben. Soziale Beziehungen stabilisieren unsere Identität und unser Selbstwertgefühl, sie liefern Anerkennung, Verständnis und Unterstützung. Da ist es nachvollziehbar, dass ähnliche Lebenserfahrungen hilfreich sind – das Sprichwort „gleich und gleich gesellt sich gern“ stimmt insofern, es ist empirisch sehr gut belegt. Aus sozialstruktureller Perspektive bedeutet das aber, dass Freundschaften und auch die Partner:innen-Wahl hochgradig milieu- und schichtspezifisch sind.

Von Bildungshomogamie sprechen wir, wenn Personen heiraten oder unverheiratet zusammenleben, die den gleichen Bildungsstand haben. Strukturelle Bedingungen – die Gelegenheiten und Orte, die Menschen offenstehen, um andere Menschen überhaupt kennenzulernen – spielen dabei eine große Rolle: Wer studiert, lernt viele andere Studierende kennen; wer eine Berufsausbildung in einem Bauberuf macht und später in diesem Beruf arbeitet, wird hier auf viele andere Arbeiter:innen treffen. Bildungsorte und Berufstätigkeit strukturieren also die Gelegenheiten, Menschen zu begegnen, und damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Kontakte entlang sozialstruktureller Merkmale geknüpft werden. Aber auch beim Online-Dating, das ja eigentlich unabhängig von bestimmten Orten passiert, spielt das Bildungsniveau eine wesentliche Rolle. Vom Bildungsstand wird auf einen ähnlichen Lebensstil geschlossen, sodass vermehrt Menschen aus den gleichen Soziallagen zueinanderfinden.

Paare nach Bildungsstand, 2019 (in Prozent) (© Datenreport 2021, S. 53; Datenbasis: Mikrozensus – Bevölkerung in Familien/Lebensformen am Hauptwohnsitz)

Soziale Beziehungen können sehr nützlich sein. Wer viele Menschen kennt, die in guten beruflichen Positionen sind, bekommt eher Informationen über freiwerdende Stellen oder sogar eine direkte Empfehlung. Auch aus dem Alltag wissen wir, dass das „Vitamin B“, also Beziehungen, Vorteile bringen kann. Dahinter steckt eine zentrale soziologische Einsicht: Soziale Beziehungen sind ein Kapital, das genauso wertvoll sein kann wie Geld und Bildung. Auch mit Blick auf diese Ressource kumulieren soziale Vor- und Nachteile über den Lebensverlauf hinweg, weil die Menschen sich beim Knüpfen ihrer Sozialbeziehungen überwiegend in ihren eigenen Statuslagen bewegen. Brücken über die verschiedenen Milieus hinweg werden selten geschlagen.

Zudem haben Menschen mit wenig Einkommen und einem niedrigen Bildungsstand in der Tendenz sozial homogenere Netzwerke und ihre Kontakte sind stärker auf den Familienkreis beschränkt. Einkommensstarke und hoch gebildete Personen hingegen sind im Mittel räumlich mobiler. Daher greifen sie weniger auf die Familie zurück und mehr auf einen Freundes- und Bekanntenkreis, der zwar häufig im gleichen Milieu angesiedelt ist, aber an verschiedenen Orten lebt und unterschiedliche Berufe und Arbeitgeber:innen hat. Sie können so auf breitere Erfahrungen und Informationen zurückgreifen.

QuellentextFreunde aus unterschiedlichen Schichten

DIE ZEIT: Frau Kuchler, um herauszufinden, wie gesell­schaftlicher Aufstieg gelingt, haben Sie 21 Milliarden Freundschaften von 72 Millionen Facebook-Nutzern in den USA analysiert. Was genau haben Sie gesucht?

Theresa Kuchler: Wir wollten wissen, wie soziales Kapital mit sozialer Mobilität zusammenhängt, also die Fragen beantworten: Wer steigt auf und warum?

ZEIT: Ihre Ergebnisse lesen sich überraschend eindeutig. Zugespitzt formuliert: Um nach oben zu kommen, braucht man reiche Freunde.

Kuchler: Wir nennen es ökonomische Verbundenheit – economic connectedness. Aber, ja, wir waren auch überrascht, wie gut der Faktor „wohlhabende Freunde“ Aufstiegschancen vorhersagen kann. Kinder aus armen Familien, die in Orten mit hoher ökonomischer Verbundenheit aufwachsen, verdienen als Erwachsene deutlich besser.

ZEIT: Was bedeutet ökonomische Verbundenheit genau?

Kuchler: Damit meinen wir, inwiefern Menschen aus sozioökonomisch schwachen Verhältnissen mit jenen aus den höheren Schichten interagieren beziehungsweise befreundet sind. […]

Wenn Kinder mit sozioökonomisch schwachen Eltern an Orten mit einer vergleichbaren ökonomischen Verbundenheit aufwachsen wie Kinder mit sozioökonomisch starken Eltern, verdienen sie als Erwachsene 20 Prozent mehr.

ZEIT: Ökonomische Verbundenheit ist Ihrer Studie zufolge auch dort ein Aufstiegsmotor, wo Durchschnittseinkom­men sehr niedrig sind und viele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Dabei heißt es gemeinhin: Armut bedingt wiederum Armut.

Kuchler: Natürlich hemmt hohe Armut in einem Viertel den sozialen Aufstieg. Unsere Studie zeigt aber, dass man auch in wirtschaftlich abgehängten Kommunen aufsteigen kann, wenn die armen Menschen dort Freundschaften in höhere Schichten hinein schließen. Unseren Daten kann man beeindruckend konstante Muster entnehmen: Je stärker die ökonomische Verbundenheit zwischen den sozialen Schichten einer Stadt ist, desto stärker ist auch die soziale Mobilität – unabhängig davon, ob es eine reiche oder arme Stadt ist. Es geht nicht bloß um bessere Schulen und weniger Kriminalität. Ökonomische Verbundenheit wirkt sogar in Städten mit großer Einkommensungleichheit.

ZEIT: Heißt das, die als Great-Gatsby-Curve bekannte Hy­po­­these, dass sozialer Aufstieg dort eher gelingt, wo die Einkommen nicht zu weit auseinanderklaffen, stimmt nicht?

Kuchler: Wir vermuten eher, dass hohe Ungleichheit und niedrige ökonomische Verbundenheit zusammenhängen. Das heißt: Dort, wo es extreme Einkommensunterschiede gibt, sind die sozialen Grenzen am schwersten zu überwinden. Wenn man es aber schafft, den schichtübergreifenden Austausch anzukurbeln, kann sozialer Aufstieg trotz der Ungleichheit gelingen.

ZEIT: Wissen Sie auch, warum der Austausch zwischen Arm und Reich so hilfreich ist?

Kuchler: Empirisch können wir diese Frage nicht beantworten. Wir haben uns ja ökonomische Effekte auf der Ebene von Postleitzahlen und Bezirken angeschaut, nicht einzelne Biografien. Seit unsere Studie veröffentlicht wurde, haben uns aber viele Leute geschrieben, wie sehr sie bei unseren Ergebnissen an ihr eigenes Leben denken mussten und wie Kontakte zu bessergestellten Menschen ihren eigenen Aufstieg positiv beeinflusst haben. Weil sie einen anderen Lebensstil oder andere Berufe kennengelernt haben. Oder weil sie konkrete Hilfe bei der Collegebewerbung oder dem Berufseinstieg bekommen haben.

ZEIT: „Kind, such dir reiche Freunde!“ – das ist einfacher gesagt als getan, zumal in segregierten Vierteln.

Kuchler: Aus meiner Sicht geht es hier nicht um das, was Eltern oder gar Kinder tun, sondern um einen politischen Auftrag. Will man eine Community sein, in der sich Kinder entfalten können, sollte man dafür sorgen, dass Menschen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Möglichkeiten Freundschaften schließen.

ZEIT: Wie macht man das?

Kuchler: Zumindest in den USA liegt der Fokus bis heute darauf, die Durchmischung zu erhöhen. Denken Sie an die Programme, wo Schüler aus benachteiligten Vierteln mit dem Bus in Schulen reicherer Viertel gebracht werden. Wir nennen das exposure – also dass Arme und Reiche sich überhaupt begegnen. Allein die Diversität zu erhöhen reicht aber nicht. Denn dann kommt ins Spiel, was wir friending bias nennen.

ZEIT: Was bedeutet das?

Kuchler: Menschen freunden sich mit denen an, die ihnen besonders ähnlich sind. Wir haben uns angeschaut, in welchen Umfeldern der friending bias besonders niedrig ist, und festgestellt: Je kleiner die Gruppen sind, desto höher ist die ökonomische Verbundenheit. Für Lehrer folgt daraus, dass man mit kleinen, gemischten Arbeitsgruppen bereits etwas erreichen kann. An Schulen, an denen man einen Aufnahmetest bestehen muss, freunden sich Kinder unterschiedlicher Hintergründe ebenfalls besser an. Weil sich dort Kinder treffen, die dieselben akademischen Ambitionen teilen, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Ein gemeinsames Interesse kann also Gräben überwinden.

Das zeigen auch unsere Analysen in Sportvereinen und Kirchengemeinden, wo Freundschaften unabhängig vom sozialen Status besonders einfach entstehen. Schwimmbäder, Sport- oder Spielplätze sollten vor allem dort gebaut werden, wo Schichten sich mischen. Anders gesagt: Kluge Stadtplanung kann mit darüber entscheiden, ob ärmere Kinder ihrer Herkunft entkommen.

ZEIT: Ihre Forschung beschränkt sich auf die USA. Wissen Sie etwas darüber, ob sich die Ergebnisse auch auf Deutschland übertragen lassen?

Kuchler: Unsere Erkenntnisse über den Zusammenhang von ökonomischer Verbundenheit und sozialem Aufstieg gelten für Großstädte an der Ost- oder Westküste genauso wie für Dörfer im Mittleren Westen, für eher diverse ebenso wie für eher homogene Gegenden. Daher spricht einiges dafür, dass wir in Deutschland ähnliche Zusammenhänge finden würden. Aber belegt ist das noch nicht. Wir versuchen gerade, deutsche Firmen dafür zu gewinnen, Daten für diese Forschung bereitzustellen.

Die Fragen stellte Anant Agarwala.

Theresa Kuchler, 39, ist Professorin für Finanzwirtschaft an der New York University und Co-Direktorin des Clusters „Economic Research with Firm Data“ des Münchner Forschungsnetzwerks CESifo.

„Freunden sich Menschen verschiedener Schichten an, geht es den Armen später besser“, in: DIE ZEIT Nr. 34 vom 18. August 2022

Regelmäßige soziale Interaktion und Partizipation, 2018 (in Prozent) (© Quelle: SOEPv.37, eigene (gewichtete) Berechnungen, Jahre 2017 und 2019)

Soziale Beziehungen basieren zudem auf einem ausgewogenen Verhältnis von Geben und Nehmen. Nicht alle Menschen haben die Möglichkeiten, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Menschen in Armut haben kleinere und weniger ressourcenstarke soziale Netzwerke; gegenseitige Besuche, geselliges Zusammentreffen und Möglichkeiten zum Austausch und zur Unterstützung sind eingeschränkt. So bleibt zwar der Kontakt zu engen Freund:innen bestehen, und der Kontakt zur Familie verstärkt sich. Insgesamt machen diese Entwicklungen das Netzwerk allerdings noch homogener und die Grenzen, darüber hinaus Unterstützung zu mobilisieren, sind eng gesteckt.

Sag mir, woher Du kommst, und ich sag Dir, was Du magst?

Von der sozialen Positionierung der Menschen – ihrem Beruf, ihrer Bildung, ihrem Einkommen – auf ihre Verhaltensweisen und Vorlieben zu schließen, stößt vielerorts auf Unverständnis und Ablehnung. Schließlich ist unser Lebensstil etwas Individuelles und unsere Biografie einzigartig. Dennoch lassen sich Zusammenhänge zwischen der sozialen Position und Präferenzen bei der Lebensgestaltung erkennen. Schon der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) hat in seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ soziologische Überlegungen dazu angestellt, dass der Geschmack – im Sinne von Vorlieben und Einstellungen, die einen persönlichen Lebensstil formen – stark abhängig von der sozialen Herkunft und der gesellschaftlichen Position sei.

QuellentextWie die Herkunft den persönlichen Geschmack beeinflusst

Frau D. ist um die 50 und betreibt gemeinsam mit ihrem Mann eine kleine Bäckerei in der französischen Alpenstadt Grenoble. Vor Kurzem hat sich das Ehepaar in einem Vorort ein Haus gekauft („kein großer Luxus, gerade richtig“), um­geben von einem „sehr gepflegten“ Garten, drinnen alles stets picobello aufgeräumt. Die Möbel hat Frau D. mit Bedacht ausgesucht, nicht zu „modern“, sondern etwas „Klassisches“, „das zu meinem Alter passt“. Hin und wieder geht sie zum Frisör (schließlich „muss man sich ein bisschen zurechtmachen“). Allerdings schminkt sie sich nicht (auf dem Land, wo sie aufgewachsen ist, „gehörte es sich nicht, vor dem Spiegel zu stehen“). In ihrer knappen Freizeit sieht sie sich am liebsten „lustige“ Sendungen an. Jedes Jahr macht sie zwei bis drei Wochen Urlaub mit dem Wohnwagen (ihr Mann „kann Hotels nicht ausstehen“).

Sechs Seiten lang kommt die brave Bäckerin in einem der einflussreichsten soziologischen Werke des 20. Jahrhunderts zu Wort – Pierre Bourdieus 1979 in Frankreich veröffentlichter Mammutstudie Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Wie all die zahlreichen darin versammelten Fallbeispiele, Schaubilder, Statistiken dient auch die Selbstauskunft von Frau D. dazu, Bourdieus filigran ausgearbeitete These zu stützen, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Es gibt keine „reinen“, von sozialen, machtstrategischen oder sonstigen Interessen befreiten Geschmacksurteile […]. Kunst und Kultur, egal wie erhaben, verfeinert und „zweckfrei“ sie daherkommen, werden niemals nur „um ihrer selbst willen“ geschätzt.

Unser vermeintlich individueller Geschmack, so Bourdieu, ist letztlich alles andere als Ausdruck unserer Individualität, sondern entscheidend im sozialen Milieu, dem wir angehören, verankert. Wobei hier mit „Geschmack“ nicht nur Musik- und Lektürepräferenzen gemeint sind, sondern auch Dinge wie Ernährungsgewohnheiten, Bekleidungsstil, Freizeitverhalten und letztlich auch moralische und weltanschauliche Überzeugungen. Hinter jeder noch so harmlos daherkommenden Alltagsroutine oder Konsumentscheidung wie etwa Frau D.s Entschluss, sich eine graue Wohnzimmercouch zu kaufen („bei dem Farbton kann man sich getrost draufsetzen“), scheint die hierarchische Gesellschaftsstruktur durch. […]

Im Zentrum von Bourdieus herrschaftskritischer Trendforschung steht der „Habitus“. […] Was hat er darunter verstanden? Zunächst einmal ist der Habitus für Bourdieu das Produkt der Geschichte und milieuspezifischen Prägung einer Person. Habitus ist „Natur gewordene Gesellschaft“, die dem Menschen buchstäblich in die Knochen fährt, um all seine geistigen und körperlichen Ausdrucksformen zu prägen. Beispielsweise sorgt der kleinbürgerliche Habitus von Frau D. dafür, dass sie redet, wie sie redet, und dass sie tanzt, wie sie tanzt. Außerdem fungiert der Habitus als eine Art vereinheitlichendes Prinzip des gesamten Verhaltensrepertoires eines Menschen, will heißen: Die Art und Weise, wie Frau D. tanzt, passt „irgendwie“ zu der Art und Weise, wie sie redet, kocht und ihre Wohnung einrichtet. Alles wie aus einem Guss.

Der Habitus ist nicht nur maßgeblich dafür, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt, wie er handelt und wie er sich selbst verortet. Sondern auch dafür, wie ein Mensch von seiner Umwelt wahrgenommen, behandelt und verortet wird. Als eine Art Stallgeruch ist der Habitus ein System von Möglichkeiten, vor allem aber eines von Grenzen. „Wer den Habitus einer Person kennt, der weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist“, meint Bourdieu. Sag mir, was du trägst, hörst, kaufst, isst, und ich sag dir nicht nur, wer du bist, sondern auch, ob aus dir noch etwas werden kann. […]

Neben dem ökonomischen Kapital, um das sich bei Marx noch alles drehte, spielt in Bourdieus Klassenkampf-Szenerie das „kulturelle Kapital“ (Bildung, akademische Titel, einwandfreie Tischmanieren) eine entscheidende Rolle. Es ist eine der wirksamsten Waffen, um eine gesellschaftliche Machtposition zu festigten, zu verteidigen oder sie sich zu erstreiten. Der Klassenkampf ist für Bourdieu stets auch ein Kampf um Anerkennung und Mitbestimmung der öffentlichen Meinung.

Wer weder über die eine noch die andere Kapitalsorte verfügt, muss sich anderweitig behelfen. Das gilt für den typischen Unterschichtshabitus, der den „Geschmack der Notwendigkeit“ hervorbringt. Funktionalität und Praktikabilität sind gefragt. […] Hinzu kommt: Ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufenleiter wirkt sich eine generelle Eigenschaft des Habitus, „amor fati“ genannt, besonders tückisch aus. Damit ist jene eigentümliche Schicksalsergebenheit gemeint, die dazu führt, dass man „mag, was man hat, weil man hat, was man mag“. Man neigt dazu, sich abzufinden. Aus Nöten macht man Tugenden, dazu zählt auch die demonstrative Verachtung, mit der ein Hauptschüler das Bildungssystem mitsamt der von ihm produzierten Weicheier (Gymnasiasten, Studenten) abstraft. So bleibt man seiner Herkunftsschicht verhaftet und überlässt das Bildungsprivileg den Bessergestellten.

Entgegen einem zählebigen Vorurteil hat Bourdieu nie bestritten, dass es sozialen Aufstieg tatsächlich gibt, nur zahlt man dafür einen hohen Preis. Er geht dieser Frage in den Feinen Unterschieden vor allem am Beispiel der mittleren Gesellschaftsschicht nach – dem Kleinbürgertum, zu dem er Handwerker, kleine Unternehmer und Grundschullehrer zählt. Der kleinbürgerliche Klassenhabitus – idealtypisch von Frau D. verkörpert – bringt einen fleißigen, strebsamen, in jeder Hinsicht bescheidenen Menschenschlag hervor. Ehrfurchtsvoll schielt man nach oben, panisch grenzt man sich nach unten ab, um das kleine bisschen Wohlstand, das man sich so hart erarbeitet hat, nicht zu gefährden. […]

Marianna Lieder, „Bourdieu und der Habitus“, in: Philosophie Magazin 01/2020 (Dez. 2019/Jan. 2020). Online: Externer Link: https://www.philomag.de/artikel/bourdieu-und-der-habitus

Über bestimmte Gewohnheiten und Geschmäcker werden außerdem auch soziale Zugehörigkeiten zum Ausdruck gebracht. Ob es ein Mallorca-Ballermann-, ein Robinson-Club- oder ein Rucksack-Urlaub wird, ob ein Abendessen bei McDonald‘s, im Gasthof oder beim Edel-Italiener stattfindet, liegt auch am verfügbaren Geld, aber nicht ausschließlich. Hier werden ebenfalls – meist unbewusst – symbolische Grenzen gezogen, um sich von anderen sozialen Gruppen zu unterscheiden. So lassen sich für diverse Freizeitaktivitäten, Ernährungsgewohnheiten und kulturelle Vorlieben sozialstrukturelle Prägungen erkennen. Die Lebensphase, das Alter und die geschlechtsspezifische Sozialisation schlagen sich in unterschiedlichen Präferenzen nieder. Noch durchschlagender sind die Einflüsse von Bildung und Einkommen. Je höher die Bildung und die soziale Position, desto luxuriöser wird der Konsum und desto ausgeprägter wird die Vorliebe für Hochkultur wie etwa Theater und Oper.

Die Erfahrung von Armut geht mit einem Rückzug von sportlichen und kulturellen Aktivitäten einher. Dabei spielt die Kostspieligkeit der Freizeitgestaltung sicherlich eine Rolle. Hinzukommen aber auch Scham und Resignation. Studien zur Kinderarmut zeigen eindrücklich, dass Kinder und Jugendliche aus prekären Soziallagen weniger häufig Mitglied im Sportverein sind und sich weniger bewegen. An Ausgaben für Ausflüge, Hobbies, Spielzeug und Freizeitaktivitäten muss in armen Familien gespart werden.

Korrelation der politischen und gesellschaftlichen Partizipation mit dem Hochschulabschluss, 2018 (in Prozent) (© Datenreport 2021, S. 382; Daten: ESS 2018)

Auch das Recht auf Mitbestimmung und politische Parti­zipation wird nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen wahrgenommen. Es entsteht der Eindruck, dass diejenigen, die ökonomisch am unteren Ende stehen, auch politisch eher marginalisiert (d. h. an den Rand gedrängt) sind. Je höher der Bildungsabschluss, desto ausgeprägter das politische Interesse und das Engagement. Dieses Muster zeigt sich sowohl bei der Beteiligung an einer Unterschriftensammlung oder einer Demonstration als auch bei der Arbeit in Vereinen, Parteien und Organisationen in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung sowie schließlich selbst bei der Wahlbeteiligung. Die eigenen Möglichkeiten, Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen, werden in den unteren Soziallagen gering eingeschätzt, was den Rückzug teilweise erklärt. Langfristig führt die ungleiche Beteiligung zu einer Schieflage bei der Berücksichtigung politischer Interessen zulasten der ohnehin sozial benachteiligten Gruppen.

QuellentextGibt es im Bundestag zu viele Akademiker:innen?

Nach den Bundestagswahlen 2021 hieß es in den deutschen Qualitätsmedien, das Parlament sei jünger und diverser geworden. Teilweise trifft das zu: Der Altersdurchschnitt der Abgeordneten ist definitiv gesunken. Aber ist der Bundestag tatsächlich diverser geworden?

Die Politikwissenschaftler:innen Armin Schäfer und Lea Elsässer haben Zweifel. Zwar sind ihrer Forschung zufolge die meisten Parlamente in den wohlhabenden Industrienationen über die Jahrzehnte weiblicher besetzt. Auch marginalisierte Gruppen – etwa ethnische Minderheiten – sind stärker vertreten als früher. In anderer Hinsicht sind Parlamente jedoch weiterhin sehr einheitlich. Abgeordnete, so Schäfer und Elsässer, sind mehrheitlich Teil einer Bildungselite. Im 19. Deutschen Bundestag etwa, der von 2017 bis 2021 tagte, hatten über 85 Prozent der Abgeordneten eine Hochschule besucht. Nur neun der über 700 Parlamentarier:innen waren handwerklich ausgebildet.

Dieser Akademisierungstrend ist kein rein deutsches Phänomen. Schäfer und Elsässer untersuchten die Parlamente Frankreichs, Großbritanniens, Polens, Spaniens und der Türkei. Ergebnis: Die Alters- und Geschlechtsstruktur unterscheidet sich in den gesetzgebenden Kammern von Land zu Land, aber überall werden die Parlamente von Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen dominiert. In allen untersuchten Ländern kamen im Jahr 2021 über 80 Prozent der Abgeordneten aus akademischen Berufen, waren also vor ihrem Mandat beispielsweise Lehrkräfte an weiterführenden Schulen, niedergelassene Ärzt:innen oder Wirtschaftsprüfer:innen. In Spanien und der Türkei lag der Anteil dieser sogenannten oberen Dienstklasse sogar bei über 90 Prozent. Facharbeiter:innen, Kleinunternehmer:in­nen oder Menschen aus der mittleren Dienstklasse, also etwa Verwaltungsfachkräfte oder Medi­zintechniker:innen, machten in allen Fällen weniger als zehn Prozent der Abgeordneten aus. Bestimmte Bildungsabschlüsse sind also sehr viel häufiger parlamentarisch vertreten.

Für die demokratische Praxis ist das problematisch. Denn Politik wird nicht unabhängig von der Herkunft der Politiker:innen gemacht. Abgeordnete, die etwa aus der Arbeiter:innenschicht stammen, setzen sich tendenziell eher für eine progressive Wirtschafts- und Sozialschicht ein. Sie vertreten also linkere Positionen als Abgeordnete mit anderen beruflichen Hintergründen – und zwar unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit.

Der sozioökonomische und der Bildungshintergrund haben demnach einen Einfluss darauf, ob etwas überhaupt als Problem wahrgenommen wird. Daraus folgt, dass die Zusammensetzung der Parlamente Auswirkungen darauf hat, was in ihnen besprochen und entschieden wird. Sind bestimmte Gruppen nicht vertreten, fließen ihre Perspektiven nicht oder zumindest nicht ausreichend in den Gesetzgebungsprozess ein.

Mit Blick auf die soziale Klasse und das Bildungsniveau ist es ähnlich problematisch wie in Bezug auf Alter und Geschlecht. In den von Schäfer und Elsässer untersuch­ten Ländern waren 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung Arbei­ter:innen. Aber nicht einmal jeder zehnte Sitz im Parlament wurde von Angehörigen dieser Berufsgruppen eingenom­men. Politische Entscheidungen zu ihren Gunsten und aus ihrer Perspektive können Menschen aus der Arbei­ter:in­nen­schicht damit nur in begrenztem Umfang erwarten.

o. A., „Bestimmte Gruppen sind im Bundestag kaum vertreten“, in: Katapult. Magazin für Eis, Kartografik und Sozialwissenschaft, Nr. 28 Januar-März 2023, S. 78f. (Text und Grafik)

Die Annahme, dass Protestbewegungen, insbesondere am rechten Rand des politischen Spektrums, Personen anziehen, die sich als Verlierer:innen und von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgehängt fühlen, sind empirisch zwar tendenziell, aber nicht durchgehend bestätigt. So zeigen einige Studien zwar durchaus, dass Prekarität, Arbeitslosigkeit, Armut und niedrige Bildung die Unterstützung von Protestparteien und -bewegungen jenseits der gesellschaftlichen Mitte befördert. Andere Studien schreiben eine politische Radikalisierung sowie europa-, demokratie- und pressefeindliche Positionen eher einer breiten Verunsicherung und Unzufriedenheit quer durch die Gesellschaft zu.

Auch bei politischen Einstellungen lassen sich einige, aber nicht hinreichend klar konturierte klassen- oder milieutypischen Muster feststellen, die einheitlich für oder gegen Gleichstellung, Diversität oder Migration wären. Die jeweiligen Positionen sind nicht losgelöst vom Lebensstandard und dem sozialen Status einer Person, aber es lassen sich nach derzeitigem Stand der Forschung keine unversöhnlich gegenüberstehenden Lager erkennen.

Macht Geld glücklich?

Die Lebenszufriedenheit ist in Deutschland im internationalen Vergleich seit Jahrzehnten ungebrochen hoch. Ungeachtet einiger Schwankungen nach Arbeitslosenquote und Konjunkturverlauf und dem stabilen Ost-West-Unterschied spiegelt sich darin der vergleichsweise hohe Lebensstandard und das hohe Niveau sozialer Sicherung. Wenn die Menschen gefragt werden, wie zufrieden sie allgemein mit ihrem Leben sind, bewerten sie ihre gesamte Lebenssituation, nicht nur die aktuellen Lebensbedingungen, sondern auch Erfahrungen aus der Vergangenheit, Vergleichsmaßstäbe und Zielvorstellungen.

QuellentextDie Tafeln in Deutschland sind häufig am Limit

[…] Rund 960 Tafeln gibt es in Deutschland. Dort sammeln Helferinnen und Helfer Lebensmittel und verteilen sie an armutsbetroffene Menschen. Deren Zahl, erzählt Jochen Brühl, habe innerhalb weniger Monate stark zugenommen. Im Interview spricht der Vorstandsvorsitzende des Dachverbandes über Ehrenamtliche am Limit, ausbleibende Lebensmittelspenden und die Notwendigkeit einer „sozialen Zeitenwende“.

FR: Herr Brühl, es sind die letzten Tage vor Weihnachten. Wie ist die Stimmung bei den Tafeln?

Brühl: Nach diesem Jahr freuen sich viele Helfende auf eine verdiente Pause. Die Situation ist aktuell so herausfordernd wie noch nie in den fast 30 Jahren seit es die Tafeln gibt. Die Zahl der Kundinnen und Kunden wächst, gleichzeitig haben wir deutlich weniger Lebensmittel zur Verfügung. Das zeigt das Problem: Einerseits reichen die staatlichen Unterstützungsleistungen für Menschen, die von Armut bedroht oder betroffen sind, nicht aus. Andererseits kommen bürgerschaftliche Organisationen wie die Tafel an ihre Grenzen. […]

FR: Wer ist auf das Angebot der Tafeln derzeit besonders angewiesen?

Brühl: Geflüchtete aus der Ukraine. Ihre Zahl wird weiter wachsen, das ist aufgrund der Zerstörungen der Infrastruktur in der Ukraine zu erwarten. Außerdem kommen Menschen mit einer zu geringen Rente, Menschen in der Grundsicherung, die aufstocken, Alleinerziehende, kinderreiche Familien. Und Menschen, die es bisher immer knapp geschafft haben, durch die steigenden Preise nun aber nicht mehr wissen, wie sie über den Monat kommen.

FR: Und insgesamt sind es deutlich mehr Menschen als etwa zu Beginn des Jahres?

Brühl: Seit Anfang des Jahres sind es knapp 50 Prozent mehr, insgesamt um die zwei Millionen.

FR: Die Tafeln arbeiten mit Lebensmittelspenden aus dem Handel. Sie haben aber schon angedeutet, dass die Unternehmen sparsamer bei den Spenden sind.

Brühl: Der Handel spart nicht nur, sondern hat auch Methoden entwickelt, um seine Bestellverfahren und Lagersysteme zu verbessern. Mit Blick auf Lebensmittelverschwendung ist das natürlich eine gute Nachricht. Für die Tafeln ist es herausfordernd in dieser Krise: Über 70 Prozent der Tafel bekommen weniger Lebensmittel – ich sage es nochmal – bei immer mehr Kundinnen und Kunden. Da sehen wir die Politik in der Verantwortlichkeit, denn es ist nicht unsere Aufgabe, Menschen zu versorgen.

FR: Wie reagieren die Tafeln auf die Situation?

Brühl: Kaufen wollen wir Lebensmittel nicht. Wir versuchen stattdessen, die zur Verfügung stehenden Mengen gerecht aufzuteilen. Wir arbeiten immer mehr mit Lebensmittelherstellern zusammen, dort gibt es nach wie vor große Überschüsse. Und wir versuchen, kreativ an Lebensmittel zu kommen. Zum Beispiel mit dem Projekt des umgekehrten Adventskalenders, mit dem Schulen, Kindergärten und andere Organisationen 24 Tage lang haltbare Lebensmittel sammeln. Das soll sensibilisieren […].

FR: Wie geht es den ehrenamtlichen Helferinnen und Hel­fern der Tafeln?

Brühl: Es ist unglaublich, dass es immer noch Menschen gibt, die sich in diesen Zeiten einen Kopf machen für andere. […] Viele der Aktiven sind ja selbst in der Krise und machen sich Sorgen, wie sie durch den Winter kommen. 20 Prozent unserer Helfer:innen sind selbst Kund:innen oder waren es mal. Sie sind müde, bringen aber immer noch die Energie auf, zu helfen. Stellen Sie sich das vor: Kriegstraumatisierte Geflüchtete, die unsere Sprache nicht sprechen, treffen auf Helfende, die seit 2020 im Dauer-Krisenmodus sind. Das ist eine unglaubliche gesellschaftliche Leistung.

FR: Inwiefern trifft die Inflation auch die Tafeln und ihre Partnereinrichtungen selbst?

Brühl: Die Tafeln spüren den Kostendruck. Viele Einrichtungen heizen mit Gas, verbrauchen viel Energie für die Kühlung und natürlich Kraftstoff für die Fahrzeuge, mit denen wir quasi rund um die Uhr durch die Städte fahren und Lebensmittel einsammeln. […]

FR: Zuletzt haben Sie immer wieder eine „soziale Zeitenwende“ gefordert. Wie sollte die aussehen?

Brühl: Soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie. Bei Reisen durchs Land erlebe ich immer wieder, dass Armutsbetroffene überhaupt keine Energie mehr haben. Sie haben keine Kraft für Wut, für Ärger oder Protest. Sie sind erschöpft und in aller Regel nicht selbst verantwortlich für ihre Situation. Armutsbetroffene Menschen müssen sich nicht schämen, sondern die Gesellschaft muss sich fragen, wie unser Wohlstand verteilt ist.

FR: Die Erhöhung der Regelsätze des Bürgergeldes reicht also nicht?

Brühl: Nein. Man hat den Lohnabstand zwischen Bürgergeld und den niedrigen Lohngruppen verglichen und dann daraus abgeleitet, dass das Bürgergeld nicht bedarfsgerecht steigt, sondern nur so, dass das Lohnabstandsgebot bestehen bleibt. Dann frage ich mich: Sollten wir dann nicht die etwas höheren Einkommen ins Verhältnis setzen? Das heißt doch, dass die niedrigen Lohngruppen offensichtlich zu wenig verdienen. Also: Wir brauchen eine bedarfsgerechte Grundsicherung. Das ist aber nur ein Aspekt.

FR: Was sind die anderen?

Brühl: Das Problem der Altersarmut wird sich zum Beispiel weiter verschärfen. Deshalb braucht es einen Dialog zwischen Politik und Gesellschaft darüber, wie wir die Ungleichheit angehen und wieviel Solidarität notwendig ist. Wenn wir zum Beispiel über die Lebensarbeitszeit sprechen und darüber, ob Menschen künftig vielleicht länger arbeiten müssen, dann sollten wir auch die Folgen für Ehrenamtsorganisationen in den Blick nehmen. Denn bei uns sind auch viele Rentnerinnen und Rentner aktiv. […]

Steffen Herrmann, „Tafeln in Deutschland: ‚Zwei Millionen Menschen mehr‘ auf Spenden angewiesen“, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Dezember 2022

Subjektives Wohlbefinden ist zudem stark von wohlfahrtsstaatlichen und politischen Rahmenbedingungen geprägt, denn diese ermöglichen Lebenschancen oder beschneiden sie. Nicht zuletzt verteilt sich das Wohlbefinden – sei es die Zufriedenheit mit dem Leben allgemein oder mit einzelnen Lebensbereichen, seien es Sorgen oder Ängste – entlang sozial­struktureller Merk­male. So sind zum einen Gesundheit und die Einbindung in familiäre und soziale Netzwerke wichtige Grundvoraussetzungen für eine hohe Zufriedenheit.

Affektives Wohlbefinden und Einkommen, 2020 (in Prozent) (© Quelle: Petra Böhnke/Frederike Esche, Armut und subjektives Wohlbefinden, in: Petra Böhnke u. a. (Hg.), Handbuch Armut, Stuttgart 2018, S. 235-246)

Da diese Merkmale nach sozialem Status variieren, schlägt sich das auch auf Unterschiede im Wohlbefinden nieder. Aber auch eine gesicherte berufliche Stellung, ein hohes Einkommen ebenso wie hohe Bildung sind mit hoher Lebenszufriedenheit verknüpft. Arbeitslose und Menschen in Armut sind die Be­völ­­kerungsgruppen mit ausgesprochen niedriger Zufriedenheit und ausgeprägten Sorgen. Ihre höhere Unzufriedenheit er­streckt sich auch auf immaterielle Lebensbereiche wie Ge­sund­heit und Familie, ein Befund, der die Kumulation von Benach­teiligungen (Matthäus-Effekt) gut veranschaulicht.

Es ist durchaus umstritten, ob es die soziale Lage der Menschen ist, die das Wohlbefinden beeinflusst, oder ob Persönlichkeitsmerkmale und genetische Veranlagung maßgeblich sind. Es kann sicherlich von komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren ausgegangen werden. Zwar bringen Menschen ein bestimmtes psychisches Grundmuster mit, mit dem sie auf ihr Leben blicken und widrige Umstände bewältigen, und es finden Anpassungsprozesse statt. Dennoch zeigt die Forschung, dass bestimmte Lebensereignisse wie der Verlust der Arbeit oder Verarmung längerfristig eine geringere Lebenszufriedenheit bewirken.

Gesamtgesellschaftliche Auswirkungen sozialer Ungleichheit

Was heißt es für den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft, wenn soziale Ungleichheit weit verbreitet ist und Lebenswelten immer stärker auseinanderdriften?

Am Beispiel der beschriebenen Bildungshomogamie lässt sich aufzeigen, wie sich die individuelle Partner:innenwahl gesamtgesellschaftlich auswirkt und zur Polarisierung beitragen kann: Wenn sich Paare vorrangig nach Bildungsstand zusammenfinden, vermehren ressourcenstarke Personen ihr Haushaltseinkommen überdurchschnittlich, ressourcenschwache Paare hingegen fallen ab. Auf diese Weise steigen gesamtgesellschaftlich Einkommensungleichheiten. Das gilt auch und noch mehr für die Bildung von Vermögen. Die Ungleichverteilung von Vermögen ist so stark ausgeprägt, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung davon nahezu ausgeschlossen ist, viele im Gegenteil sogar verschuldet sind, und sehr wenige Menschen sehr viel Vermögen besitzen und dieses beständig vermehren. Erbschaften werden zum wesentlichen Kriterium, um die gesellschaftliche Position sichern zu können, was den Glauben an einen leistungsorientierten sozialen Aufstieg und an den Wert von Erwerbsarbeit durchaus in Frage stellen kann.

Die ungleiche Verteilung von beruflichen Positionen, Einkommen, Lebensstandard und Vermögen prägt unsere Lebenswelten: Armut und Prekarität gehen mit niedriger Lebenserwartung, häufigeren Krankheiten, weniger Wohlbefinden und homogeneren sozialen Beziehungen einher. Die Erfahrungshorizonte und Lebenschancen unterscheiden sich bis zu einem Grad, der vielerorts als nicht mehr gerecht angesehen wird. Große Teile der Bevölkerung wünschen sich eine egalitär (d. h. auf politische und soziale Gleichheit) ausgerichtete Gesellschaft mit einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung, mit besseren Chancen für den sozialen Aufstieg sowie einer größeren Toleranz für Andersartigkeit und Diversität. Sie sehen dies aber zunehmend weniger verwirklicht, was in Zukunftsängsten und Besorgnis seinen Ausdruck findet.

Die Befürchtung ist groß, dass bei Menschen, denen die Anerkennung für ihre tägliche Leistung fehlt und die sich zunehmend abgehängt fühlen, die Bereitschaft schwindet, das auf einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung basierende politische System zu unterstützen. Einerseits sind Resignation, Rückzug und Politikverdrossenheit die Folgen, wenn der Eindruck entsteht, dass sich Eliten weitgehend abkoppeln von der Verantwortung für die Gesamtgesellschaft und die eigene Stimme kein Gehör findet. Andererseits werden auf der Suche nach Verantwortlichen mitunter auch pauschal Minderheiten oder Eliten zu Feindbildern deklariert. Daraus erwachsen Proteste, die durchaus den sozialen Frieden gefährden können.

(© picture-alliance, dieKLEINERT | Martin Erl)

Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger wie der Franzose Thomas Piketty und der US-Amerikaner Joseph E. Stiglitz merken immer wieder an, dass stark ausgeprägte Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen nicht nur die Lebensqualität breiter Schichten verringert, sondern letztlich Wirtschafts- und Finanzsysteme destabilisiert und Fortschritt und Wohlstandsentwicklung ausbremst. Politische Unruhen und fehlendes Vertrauen in politische Institutionen finden sich in der Tat häufiger in Ländern, in denen die Schere zwischen Arm und Reich groß ist. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern in dieser Hinsicht noch relativ gut aufgestellt, obwohl auch hierzulande gesellschaftliche Konflikte und Verteilungskämpfe zugenommen haben. Nicht erst seit der Coronavirus-Pandemie und der angespannten Wirtschaftslage durch hohe Energiepreise – aber auch verstärkt dadurch – sind Verteilungs- und Anerkennungsfragen wichtiger geworden. Ihre politische Bearbeitung ist aus Sicht der Ungleichheitsforschung angesichts der aufgezeigten Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit jeder einzelnen Person mehr als geboten.

Prof. Dr. Petra Böhnke ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologie sozialen Wandels am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Sie lehrt und forscht im Bereich Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheiten zu den Themen Armut und soziale Integration, soziale Mobilität, Sozialkapital und Lebensqualität.
Kontakt: E-Mail Link: petra.boehnke@uni-hamburg.de

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen und leitet dort die Arbeitsgruppe „Soziale, kulturelle und ökonomische Ungleichheiten“ am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. Zudem ist er Sprecher des „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ungleichheitsforschung, insbesondere Armut und Reichtum, Bildungsungleichheit, soziale Mobilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Kontakt: E-Mail Link: ogrohsamberg@uni-bremen.de

Prof. Dr. Corinna Kleinert ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt längsschnittliche Bildungsforschung an der Universität Bamberg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten in Bildungs- und Erwerbsverläufen sowie mit den Übergängen Jugendlicher zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt.
Kontakt: E-Mail Link: corinna.kleinert@lifbi.de