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Aktuelle Probleme der Pflegeversicherung

Thomas Gerlinger

/ 10 Minuten zu lesen

Banner an der Fassade einer Pflegeeinrichtung in Berlin im Jahr 2020 (© picture-alliance)

Die Pflegeversicherung und die Langzeitpflege sehen sich großen Problemen gegenüber. Zwei dieser Probleme, die eng miteinander verknüpft sind, sollen im Folgenden erörtert werden:

  • der Fachkräftemangel in der Langzeitpflege, der häufig auch als „Pflegenotstand“ bezeichnet wird;

  • der in den letzten Jahren deutlich gestiegene Eigenanteil von Pflegebedürftigen.

1. Fachkräftemangel in der Pflege

Trotz steigender Beschäftigtenzahlen ist die Langzeitpflege bekanntlich schon seit langer Zeit mit einem eklatanten Fachkräftemangel konfrontiert. Die Pflege durch Fachkräfte wird in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter an Bedeutung gewinnen, denn der wachsende Pflegebedarf (s. Artikel Interner Link: Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko) wird vermutlich weniger stark als bisher durch Angehörige, Nachbarn oder Ehrenamtliche zu bedienen sein. Die Gründe dafür liegen vor allem in einem vielgestaltigen sozialen Wandel (s. Artikel Interner Link: Leistungserbringer – Leistungserbringung – Leistungsinanspruchnahme):

  • die wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen bei einem gleichzeitigen Rückgang der Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter;

  • die (weitere) Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit,

  • die hohe und vermutlich weiterwachsende Zahl von 1-Personen-Haushalten,

  • die in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Flexibilitätserwartungen in der Arbeitswelt.

Die Verfügbarkeit einer angemessenen Zahl von Pflegefachkräften ist für die Gewährleistung der pflegerischen Versorgung von herausragender Bedeutung. Aus den oben genannten Gründen muss für die nächsten Jahre eine Zuspitzung des Fachkräftemangels befürchtet werden. Der zukünftige Bedarf und das zukünftige Angebot an Pflegekräften lassen sich zwar nicht zuverlässig abschätzen (Sell 2020), aber es herrscht eine breite Übereinstimmung, dass Pflegefachkräfte in ganz erheblichem Umfang fehlen werden. Prognosen für das Jahr 2030 beziffern ie Versorgungslücke auf gut 260.000, manche sogar auf 500.000 Vollzeitarbeitskräfte, wenn die Politik keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergreift (Rothgang et al. 2012: 51-55; Radtke 2020). Dabei dürfte der Mangel an Pflegekräften regional und lokal unterschiedlich ausfallen (Rothgang et al. 2012).

Zu den wichtigsten Ursachen des Fachkräftemangels zählen die schlechten Arbeitsbedingungen und die geringe Bezahlung in der Langzeitpflege. Aussagekräftige Befunde über die Arbeitsbedingungen liegen seit vielen Jahren vor (z.B. Hasselhorn et al. 2005). Demzufolge sind die Beschäftigten hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Die Gründe für diese Belastungen sind vielfältig (Schmucker 2020):

  • Die Arbeitsverdichtung ist hoch und wird durch den Personalmangel häufig noch verstärkt.

  • Die Lage der Arbeitszeiten ist wegen der unvermeidlichen Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit ungünstig.

  • Häufiges Heben und Tragen belastet den Stütz- und Bewegungsapparat.

  • Die Konfrontation mit dem Leid der Betroffenen und die gleichzeitig starke Motivation der Beschäftigten, anderen zu helfen, begünstigen eine übermäßige Verausgabung von Arbeitskraft.

Aus einer jüngeren repräsentativen Befragung von Pflegekräften, die im Auftrag des vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) getragenen „Index Gute Arbeit“ durchgeführt wurde, gehen die Belastungen in der Langzeitpflege hervor. Demnach gaben Pflegefachkräfte an, dass sie oft oder sehr oft u.a. folgenden Belastungen bei der Arbeit ausgesetzt seien (Schmucker 2020):

  • 69 Prozent arbeiten unter Zeitdruck (alle Beschäftigten: 56 %),

  • 78 Prozent nehmen eine starke körperliche Belastung wahr (alle Beschäftigten: 30 %),

  • 42 Prozent mussten Abstriche an der Qualität ihrer Arbeit machen (alle Beschäftigten: 22 %).

In den letzten Jahren hat der Gesetzgeber seine Bemühungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege verstärkt:

  • Im Jahr 2018 verständigten sich das Bundesgesundheits-, das Bundesarbeits- und das Bundesfamilienministerium auf ein Sofortprogramm, mit dem 13.000 zusätzliche Stellen in der Langzeitpflege geschaffen werden sollten. Diese Stellen werden von den Krankenkassen finanziert.

  • Die Kosten für die Vergütung von Auszubildenden in der stationären Pflege werden im ersten Jahr von den Krankenkassen getragen, nicht wie zuvor vom Pflegeheim oder von den Auszubildenden selbst. Damit soll der Anreiz für die Schaffung und Besetzung von Ausbildungsstellen in der Langzeitpflege gestärkt werden.

  • Um die Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen zu verbessern, sollen die Krankenkassen zusätzliche Maßnahmen auf dem Gebiet der betrieblichen Gesundheitsförderung ergreifen.

  • Schließlich ist mit der schrittweisen Einführung eines Personalbemessungsverfahrens in Pflegeheimen begonnen werden. Dabei handelt es sich um ein Instrument, mit dem eine angemessene Personalausstattung erreicht werden soll.

Den hohen Arbeitsbelastungen stehen vergleichsweise geringe Arbeitseinkommen gegenüber (Bogai 2017). Im Dezember 2020 belief sich das durchschnittliche Bruttoarbeitseinkommen einer Fachkraft in der Altenpflege auf 3.174 Euro pro Monat und das einer Pflegehelferin bzw. eines Pflegehelfers auf 2.241 Euro. Die Einkommen aller Fachkräfte auf der jeweiligen Qualifikationsstufe betrugen Durchschnitt aller Fachkräfte: 3.166 Euro bzw. 2.357 Euro (Carstensen et al. 2021: 3). Dabei sind die Einkommen in der Altenpflege in den letzten Jahren – ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – überdurchschnittlich stark gestiegen (Carstensen et al. 2021). Dieser Anstieg geht vor allem auf Interventionen des Gesetzgebers zurück, insbesondere auf die Erhöhung der Mindestlöhne. Im September 2022 wurden sie für Fachkräfte auf 17,10 Euro pro Stunde angehoben (zuvor: 15,40 Euro), für qualifizierte Pflegehilfskräfte auf 14,60 Euro (zuvor: 13,20 Euro) und für Pflegehilfskräfte auf 13,70 Euro (zuvor: 12,55 Euro).

Zudem verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, die Tarifbindung im Pflegesektor zu erhöhen. Im Jahr 2018 zahlten nur rund 40 Prozent der Pflegeheime und 26 Prozent der ambulanten Pflegedienste die tariflich vereinbarten Löhne (Bundesagentur für Arbeit 2021: 8), die selbst dringend erhöht werden müssten. Vor diesem Hintergrund sieht das 2021 verabschiedete „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung“ vor, dass die Pflegekassen ab September 2022 neue Versorgungsverträge nur noch mit Einrichtungen abschließen dürfen, die ihre Beschäftigten nach Tarifverträgen oder mindestens in vergleichbarer Höhe bezahlen (§ 72 Abs. 3a u. 3b SGB XI). Die schwache Tarifbindung steht im Zusammenhang mit dem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Langzeitpflege und ist Ausdruck der geringen Organisations- und politischen Handlungsfähigkeit der Langzeitpflegekräfte insgesamt. Zudem ist der Widerstand der Träger von Pflegeeinrichtungen gegen die Übernahme von Tariflöhnen, auch angesichts des insgesamt restriktiven Finanzrahmens der Pflegeversicherung, sehr stark. Das Bundesministerium für Gesundheit für Gesundheit geht davon aus, dass die Gehaltssteigerungen zwischen 10 und 30 Prozent liegen werden (BMG 2022a).

Außerdem verstärkte die Bundesregierung in den letzten Jahren ihre Anstrengungen, ausländische Arbeitskräfte für die Pflege zu rekrutieren, vornehmlich aus Südosteuropa und Asien (Kordes 2019). In diesem Zusammenhang wurden 2019 Vereinbarungen mit Mexiko, den Philippinen und dem Kosovo geschlossen. Außerdem soll die „Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe” Pflegeeinrichtungen bei ihren Bemühungen zur Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland unterstützen. Die Versuche zur Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte werden aber wohl nur einen kleinen Beitrag zur Lösung des Problems leisten (Sell 2020). Zudem ist die Abwerbung auch unter ethischen Gesichtspunkten problematisch, denn das wohlhabende Deutschland entzieht damit ärmeren Ländern qualifizierte Pflegekräfte, die in ihren Heimatländern ausgebildet wurden und dort in der Regel dringend gebraucht werden.

Die genannten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Erhöhung der Löhne und Gehälter in der Langzeitpflege weisen in die richtige Richtung, dürften aber bei weitem nicht ausreichen, um den Fachkräftemangel zu überwinden. So sind die Einkommen bei weitem noch nicht hoch genug, um die Attraktivität des Pflegeberufs spürbar zu steigern. Trotz der genannten Verbesserungen bleiben Tempo und Reichweite der in den letzten Jahren beschlossenen Maßnahmen deutlich hinter den Erfordernissen zurück.

Angesichts der Arbeitsbedingungen und der unzureichenden Vergütung ist der Pflegeberuf unattraktiv, die Arbeitszufriedenheit gering, die Fluktuation zwischen den Einrichtungen hoch sowie der vorzeitige Berufsausstieg oder der Gedanke daran weit verbreitet (Isfort et al. 2018; Schmucker 2020). Zudem wirken sich die schlechten Arbeitsbedingungen negativ auf die Pflegequalität aus (Isfort et al. 2018). Notwendig sind eine wirklich weitreichende Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine noch deutlich stärkere Erhöhung der Arbeitseinkommen.

2. Finanzierung der Pflegekosten: Steigende Eigenanteile und Abhängigkeit von der Sozialhilfe

Neben dem Fachkräftemangel sind die zum Teil hohen Eigenanteile der Pflegebedürftigen ein wachsendes Problem. Insgesamt sind die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung seit ihrer Gründung kräftig gestiegen (s. Tabelle 1). Die wichtigsten Gründe liegen in der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen und in den Leistungsverbesserungen der letzten Jahre (s. Artikel Interner Link: Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko und Interner Link: Leistungserbringer – Leistungserbringung – Leistungsinanspruchnahme). Nicht zuletzt die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die damit verbundene Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten hat zu einem weiteren Ausgabenanstieg beigetragen. Im Jahr 2021 beliefen sich die Gesamtausgaben der sozialen Pflegeversicherung auf 53,85 Milliarden Euro (s. Tabelle 1). Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit und die Leistungsverbesserungen haben den Gesetzgeber in den zurückliegenden Jahren mehrmals veranlasst, die Beitragssätze anzuheben. Künftig werden die Ausgaben für die Langzeitpflege allein schon wegen der Zunahme der Pflegebedürftigkeit weiter steigen.


Es sind jedoch nicht die Ausgaben der Pflegeversicherung, aus denen erhebliche soziale Probleme erwachsen, sondern ihr Charakter als Teilkostenversicherung (s. Artikel Interner Link: Organisation und Finanzierung der Pflegeversicherung). Der Eigenanteil der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen ist in den letzten Jahren kräftig gestiegen, insbesondere in der vollstationären Pflege. Im Jahr 2019 belief sich der Eigenanteil der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen auf rund 23 Prozent der gesamten Leistungsausgaben für Pflegebedürftigkeit (s. Tabelle 2).

Im ersten Quartal 2021 lag die durchschnittliche finanzielle Belastung je Heimbewohner bei immerhin 2.135 Euro im Monat. Davon entfielen 894 Euro auf die reinen Pflegekosten, 785 Euro auf Unterkunft und Verpflegung sowie 456 Euro auf die Investitionskosten (Rothgang & Kalwitzki 2021: 7). Hingegen lag der durchschnittliche Zahlbetrag für die Altersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung (abzüglich des Eigenanteils für die Beiträge in der Kranken- und Pflegeversicherung) Mitte 2020 bei 988 Euro (BMAS 2021: 17). Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Eigenanteil insbesondere bei vollstationärer Pflege einen erheblichen Teil der Pflegebedürftigen überfordert.

Dies lässt sich auch an den wieder gestiegenen Zahlen der Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zur Pflege ablesen (s. Artikel Interner Link: Organisation und Finanzierung der Pflegeversicherung). Ende 2019 waren immerhin rund 30 Prozent der Heimbewohnerinnen und -bewohner von der Sozialhilfe abhängig. Dieses Problem dürfte sich mit der absehbaren Zunahme der Altersarmut (Bertelsmann Stiftung 2017) weiter verschärfen, wenn die politischen Entscheidungsträger nicht zu wirksamen Gegenmaßnahmen greifen. Dabei beschränkt sich das Problem hoher Eigenanteile nicht auf die wieder gewachsene Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Auch viele Angehörige, die bei einer Überforderung der Pflegebedürftigen zunächst zur Finanzierung herangezogen werden, müssen durch die Kostenbeteiligung z. T. erhebliche Wohlstandseinbußen hinnehmen. Zugleich stellt sich mit den weithin befürworteten und in Aussicht gestellten weiteren Lohnerhöhungen in der Langzeitpflege mit fortgesetzter Dringlichkeit die Frage, wer den finanziellen Mehrbedarf in der Pflege tragen soll. Darauf gibt es bei den politischen Parteien und den Interessenverbänden unterschiedliche Antworten. Die im Zusammenhang mit den Folgen des Kriegs gegen die Ukraine gestiegenen Energiekosten verschärfen das Problem der Kostenverteilung zusätzlich.

Angesichts der wachsenden Kritik am steigenden Eigenanteil hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren eine Reihe von Bestimmungen verabschiedet, mit denen die Belastungen der Pflegebedürftigen oder ihrer Kinder begrenzt werden sollen:

  • Seit 2020 sind Kinder mit einem Jahreseinkommen bis unter 100.000 Euro nicht mehr zur Übernahme des Eigenanteils für ihre pflegebedürftigen Eltern verpflichtet.

  • Seit 2022 sinkt der Eigenanteil an den Pflegekosten im Vergleich zur vorherigen Regelung im ersten Jahr des Heimaufenthalts um 5 Prozent, im zweiten um 25 Prozent, im dritten um 45 Prozent und ab dem vierten um 70 Prozent. Die von der Pflegeversicherung an die Pflegeheime zu entrichtenden Zahlungen steigen entsprechend. Auf diese Weise sollen die Eigenanteile in der stationären Pflege zu reduzieren, wofür aus der Pflegeversicherung höhere Zuschüsse an die Einrichtungen fließen sollen.

Die Gegenfinanzierung der ab 2022 geltenden Verbesserungen speist sich aus unterschiedlichen Quellen:

  • Die Bundesregierung verzichtet – außer für die Bezieher von Pflegesachleistungen – auf die ursprüngliche Dynamisierung von Leistungen für alle Pflegebedürftigen. Diese Anhebungen sind grundsätzlich in mehrjährigen Abständen vorgesehen, um den mit der Preisentwicklung einhergehenden Kaufkraftverlust zu kompensieren.

  • Seit 2022 beteiligt sich der Bund erstmals an der Finanzierung der Pflegeversicherung durch einen steuerfinanzierten Zuschuss in Höhe von jährlich einer Milliarde Euro, also knapp zwei Prozent der Gesamtausgaben der sozialen Pflegeversicherung in 2021.

  • Der Zusatzbeitrag für Kinderlose ab dem vollendeten 23. Lebensjahr wurde von 2022 an um 0,1 Prozentpunkte auf 0,35 Prozent vom Bruttoarbeitseinkommen erhöht. Die betreffenden Versicherten müssen seither Beiträge in Höhe von insgesamt 3,4 statt bisher 3,3 Prozent entrichten.

Die mit diesen Maßnahmen einhergehenden Verbesserungen sind weithin als unzureichend kritisiert worden. Im Mittelpunkt der Kritik steht der Hinweis, dass die Entlastung der Pflegebedürftigen insgesamt deutlich zu schwach ausfalle und überdies nur kurzfristig wirksam sein dürfte. Weil der Gesetzgeber an einer prozentualen Kostenbeteiligung festhält, werden die Pflegebedürftigen weiterhin an den steigenden Gesamtkosten beteiligt. Auf sie entfallen nach wie vor rund 61 Prozent der Mehrkosten, während die Pflegeversicherung nur 39 Prozent trägt (Rothgang 2021: 9). Die reale Entlastung fällt somit deutlich geringer aus, als die beschriebenen Prozentwerte suggerieren, und „[s]chon 2023 erreichen die Eigenanteile […] wieder den aktuellen Wert“ (Rothgang 2021: 25).

Künftige Verteilung der Pflegekosten

Die mit der bisherigen Kostenverteilung einhergehenden Probleme verlangen weiter reichende Reformen. Die Bundesregierung steht dabei vor einem Dilemma: Einerseits werden die Pflegekosten weiter steigen, nicht zuletzt wegen der wünschenswerten und unverzichtbaren Anhebung der Löhne und Gehälter in der Langzeitpflege sowie angesichts der steigenden Energiekosten. Diese wird man andererseits aber kaum den ohnehin schon stark belasteten Pflegebedürftigen auferlegen können. Ein höherer Pflegeversicherungsbeitrag wiederum ist politisch nicht erwünscht, unter anderem, weil dadurch das politisch gesetzte Ziel der Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge auf 40 Prozent der Lohnkosten gefährdet ist. Einer Erhöhung des Bundeszuschusses zur Pflegeversicherung steht die von manchen geforderte strikte Einhaltung der Schuldenbremse entgegen.

Mit dem Vorschlag für eine Pflegebürgerversicherung steht ein Vorschlag im Raum (Rothgang & Domhoff 2019; Lüngen 2020), der auf einen grundlegenden Umbau der Pflegeversicherung hinausläuft und sowohl das Leistungsrecht als auch die Finanzierung der Pflegeversicherung einschließt. Eine Pflegebürgerversicherung würde die bisher getrennten Systeme der sozialen und der privaten Pflegepflichtversicherung zusammenführen. Sie könnte ergänzt werden durch die Umstellung auf eine Vollfinanzierung der Pflegekosten. Die Finanzierung der Langzeitpflege würde damit auf eine breitere und solidere finanzielle Basis gestellt werden: Mitglieder der privaten Pflegepflichtversicherung würden aufgrund ihrer im Durchschnitt deutlich höheren Einkommen entsprechend höhere Versicherungsbeiträge entrichten und damit Druck von den Beitragssätzen nehmen. Zudem sind die durchschnittlichen Pflegequoten bei privat Versicherten niedriger als bei den Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung, womit sich auch die Pflegekosten je versicherter Person reduzieren würden (Rothgang & Domhoff 2019; Lüngen 2020).

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Quellen / Literatur

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Carstensen, Jeanette, Seibert, Holger & Wiethölter, Doris (2018). Aktuelle Daten und Indikatoren: Entgelte von Pflegekräften. Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, 29. November 2021. Externer Link: https://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Entgelte_von_Pflegekraeften_2020.pdf.

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Isfort, Michael; Rottländer, Ruth; Weidner, Frank; Gehlen, Danny, Hylla, Jonas & Tucman, Daniel (2018). Pflege- Thermometer 2018. Eine bundesweite Befragung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung in der stationären Langzeitpflege in Deutschland. Köln: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP). Externer Link: http://www.dip.de.

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Fussnoten

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ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und leitet dort die Arbeitsgruppe "Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie". E-Mail Link: thomas.gerlinger@uni-bielefeld.de